Geschichtsmatura. Christian Pichler

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dazu verwendet werden, plausible Deutungen zu formulieren. Auf diesem Niveau haben Denkende die Fähigkeit, sich Denkmuster anzueignen, zu verstehen, kritisch zu prüfen und mit deren Hilfe Urteile zu bilden. Auf „elaboriertem Niveau“ gelingt es, die konventionellen Instrumente und Muster zu reflektieren und zu differenzieren und über sie hinauszugehen, also „[…] eigenständige differenzierte Deutungen in das eigene Geschichtsverständnis […]“ einzubauen. Es ist nicht der Inhalt oder der Umfang des Wissens entscheidend, „[…], sondern die Art und Weise, zu einem neuen Weltbild zu gelangen.“,404 also das selbstständige Entwickeln von plausiblen Deutungen.405

      Revision und Reflexion historischer Identität:

      Die Anwendung dieser mentalen Operation ist ein Akt der Identitätsbildung, der wirkmächtig wird, sobald es, laut Paul Ricoer,406 gelingt, einen narrativen Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Identitätskonstruktionen herzustellen. Konkret bedeutet das die Reflexion des eigenen Standpunktes bei Vorgängen der Re-Konstruktion und die kritische Würdigung der vorhandenen Angebote im Falle von De-Konstruktion. Beide Wege können zu einer partiellen Revision eigener Identität führen.407

      Auf „Nullniveau“ sieht man sich nicht zeitlich verortet, es fehlt jeglicher Bezug zur genuin historischen Kategorie Zeit, sodass die Konfrontation mit Geschichte folgenlos bleibt. „Basales Niveau“ ist erreicht, wenn man spontan, unsystematisch, partiell reagiert, sobald man mit einer historischen Narration in Beziehung tritt. Es gibt keine Anwendung von Konventionen, eine eventuelle Zuordnung zu einer „Wir-Gruppe“ wird als gegeben angenommen. Auf „intermediärem Niveau“ wird die Zuordnung zur „Wir-Gruppe“ zwar weiterhin als feststehend empfunden, ein Wechsel aufgrund historischer Narrationen kommt jedoch in Betracht, sofern diese alternative, aber fest gefügte Modelle anbieten. Diese Niveaustufe beschreibt die Fähigkeit, eine Gruppe zu tauschen, nicht aber beide miteinander zu etwas Neuem zu verknüpfen. Auf „Elaboriertem Niveau“ vermag man konventionelle Formen auf Sinnhaftigkeit und Plausibilität hin zu überprüfen, Differenzen und Widersprüche zu erkennen und zu benennen und gegebenenfalls neue Formen der Identitätskonstruktion zu bilden.408

      Historische Reflexions- und Handlungskompetenz:

      Da der Umgang mit Geschichte nichts Passives sein soll, meint die Teilkompetenz die Möglichkeiten der Reflexion des gegenwärtigen Handelns, dessen Ausrichtung auf die Zukunft und gegebenenfalls die Revision des Handlungs-Repertoires bzw. der Dispositionen. Das betrifft das Zugreifen-Können auf historische Handlungsvorbilder und die Begründung des eigenen Tuns mit Hilfe historischer Deutungs- und (oder) Sinnmuster. Wesentlich ist das Bewusst-Werden von Bedingungen, Intentionen und Strategien und die Einsicht, dass Handlungsdispositionen (und das Handlungsrepertoire) veränderbar sind.409

      Im Fall des „Nullniveaus“ gibt es weder eine Handlungsdisposition noch ein Handlungsrepertoire. Auf „basalem Niveau“ wird zwar agiert, man sucht aber bloß nach Rechtfertigungen für sein Tun. „Intermediäres Niveau“ ist erreicht, wenn das Individuum die „[…] Eignung von Geschichte als handlungsleitendem Erfahrungsraum mit Hilfe gesellschaftlich anerkannter Argumente […]“410 wahrnimmt und mit gesellschaftlich üblichen Methoden („Fachwissen“) nach Vorbildern Ausschau hält. „Elaboriertes Niveau“ weiß um gesellschaftliche Begründungen für historische Fundierung des Handelns. Denkende Individuen vermögen es, die Argumente hinsichtlich ihrer Konsistenz, ihrer Plausibilität und ihres Interessenausrichtung kritisch zu überprüfen. Schreiber unterstreicht, dass die Graduierung der Orientierungskompetenz das Überschreiten der Wissensdimension über Vergangenes durch historisches Denken und ihre Identitäts- und Handlungsrelevanz für das Individuum deutlich macht.411

      Unter Sachkompetenzen versteht FUER „Begriffskompetenz“ (Begriffskonzepte und deren sprachliche Bezeichnung) und „Strukturierungskompetenz“. Letztere umfasst epistemologische Prinzipien (Retro-Perspektivität, Partikularität, Konstruktivität), subjektbezogene Konzepte (Alterität, Identität), inhaltsbezogene Kategorien (Zeit und aus Nachbarwissenschaften entlehnte Kategorien) und methodische Verfahrens-Scripts (Heuristik, Re- und De-Konstruktion).412

      Historische Begriffskompetenz:

      Das Konzept Begriffskompetenz umfasst den Begriffsinhalt (Intension) und den Bezug zur außersprachlichen Realität (Extension). Die Kompetenz beschreibt die Fähigkeit und Fertigkeit im Umgang mit der historischen Logik zur Bildung, Ausdifferenzierung und Verwendung historischer Begriffe (Definition, Bezeichnung und semantische Netze) sowie die prozedurale Komponente, die Fähigkeit und Fertigkeit die Kategorie „Zeit“ auf historische Begriffe anzuwenden.413

      Auf „Nullniveau“ fehlt jede Form von Ausprägung der Kompetenz. Das Individuum verfügt nicht über historische Termini. Stattdessen gebraucht es lebensweltliche Begriffe zur Bezeichnung historischer Phänomene, es mangelt an der Bereitschaft, sich diese Kenntnisse anzueignen und sie zu reflektieren. „Basales Niveau“ ist erreicht, wenn die entsprechenden Regeln (noch) nicht bewusst sind, sodass der Umgang mit Konventionen unmöglich ist, trotzdem aber sporadisches, unsystematisches und ansatzweises Verwenden historischer Begriffe auftritt. Es gibt demnach eine vage Kenntnis einzelner, individuell bekannter oder gruppenspezifischer Termini, ein ansatzweises Erkennen der Begriffskonzepte und ein situativ bedingtes Vermögen, Begriffe intensional und extensional zu gebrauchen. Auf „intermediärem Niveau“ können Konventionen adäquat, routiniert und selbstständig genutzt werden und es wird allmählich eine Überschreitung der Konventionen sichtbar. Wenn es bewusst geworden ist, dass Konventionen Werkzeugcharakter aufweisen und Konstrukte sind, die mittels Reflexion revidiert werden können und dass sie nach individueller Entscheidung zu nutzen sind (sofern die Triftigkeit für den eigenen Gebrauch geprüft worden ist), hat man „elaboriertes Niveau“ erreicht. Das „Maximalniveau“ ist auch in diesem Fall theoretischer Natur und ein fiktiver Abgrenzungswert.414

      Historische Strukturierungskompetenz:

      Die Graduierung der Strukturierungskompetenz nimmt die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Verfügens über möglichst ausdifferenzierte Strukturierungslogiken, die Herausbildung der Fähigkeit zur domänenspezifischen Wendung nicht fachlicher Strukturierungssysteme und die Bereitschaft, die Strukturierung einerseits auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen vorzunehmen, andererseits kritisch zu reflektieren, in den Blick.415

      Auf „Nullniveau“ fehlt jede Form der Ausprägung der Kompetenz. Es gibt kein Verfügen über Strukturierungswissen und keine Fähigkeit, alltagweltliche Strukturierungssysteme historisch zu wenden. Im „basalem Niveaubereich“ gibt es zwar die Kenntnis über einfache, domänenspezifische Strukturierungselemente, aber nur eine limitierte Fähigkeit, sie untereinander zu vernetzen. Es bedarf der Anleitung dazu. Eigene Strukturierungsvorgänge sind eher nachahmend. Ist ein Bewusstsein über die Bedeutung domänenspezifischer Strukturierungselemente entstanden und wird das Wissen darüber schematisch und routiniert angewendet, ist „intermediäres Niveau“ erreicht. Konventionen werden zwar als absolut angesehen, der Transfer auf andere Räume, Kulturen und Epochen ist aber möglich, wenn auch wenig reflektiert ausgebildet. Das „elaborierte Niveau“ ist durch vernetzte Anwendung von Strukturierungen und durch den Einsatz alternativer Elemente gekennzeichnet. Aus der Reflexion konventioneller Strukturierungen entsteht das Bewusstsein, dass deren Trennschärfe gering ist, dass sie hinterfragt und verändert werden können und daher als Hilfsmittel und Werkzeuge anzusehen sind. Das „Maximalniveau“ meint die umfassende domänenspezifische Strukturierungsfähigkeit auf allen Abstraktionsebenen, ein Ideal.416

      Teilkompetenz Re-Konstruktion:

      Die Gruppe FUER stellt die Graduierung der Methodenkompetenz wegen der hohen Zahl denkbarer Verfahren exemplarisch anhand der Basisoperation Re-Konstruktion dar. Sie wurde deshalb gewählt, weil die dafür benötigten Fähigkeiten den Prozess der Erstellung einer historischen Aussage („Narration“) steuern. Zur Entwicklung einer Erzählung bedarf es dreier Komponenten: Fragestellung, Interpretation