Geschichtsmatura. Christian Pichler

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Materialien zu finden und Fragestellungen zu entwickeln, die altersadäquat eingesetzt werden können.315 Diesen Vorschlag lehnen Borries, Körber und Heil ab. Bei Pandel wären Aufgaben vom Umfeld des/der Schülers*in (z. B. Sozialisation, kulturelle Rahmenbedingungen, Lernumfeld etc.) zu trennen. Damit würden die essenziellen Parameter Kontextreichtum versus Kontextarmut und Kontextfremdheit versus Kontextvertrautheit außer Acht gelassen.316 Körber und Heil glauben nicht, dass es gelingt, Kompetenzniveaus allein durch die Veränderung des Schwierigkeitsgrads von Aufgaben herauszufinden. Bloß die Fähigkeiten zur Sinnentnahme aus Texten zu stufen, greife zu kurz, will man Kompetenzen messen. Die Schritte lesen, interpretieren, verstehen und Sinnbildung würden fehlen.317

      Pandels Vorschläge wurden zu Forschungszwecken gemacht.318 Der erste realisierte und zugleich wirkmächtige Versuch einer Kompetenzstufung in der Schule via Aufgaben erfolgte durch die Einführung der „Einheitliche(n) Prüfungsanforderungen für die Abiturstufe“ (EPA). Um das deutsche Abitur zu homogenisieren, einigte sich die KMK am 10. 2. 2005 auf ein Prüfungssystem, das drei Anforderungsbereiche (AFB)319 umfasst, deren Beschreibung sich an den Erkenntnisstufen orientiert, die Jeismann zum Zweck der Differenzierung einer schrittweisen Progression historischen Denkens vorgeschlagen hat.320 Die AFB sind dem EPA-Verständnis nach hierarchisch gegliedert, sodass ihre schrittweise Lösung eine graduelle Entwicklung nachweist. Konkretisiert werden die Kompetenzen durch TA, die mittels Operatoren eingeleitet werden. Der AFB I (Reproduktion) überprüft die Fähigkeit zur Wiedergabe von Sachverhalten. Ziel ist deren Auffinden und Reproduktion. Zu leisten ist die Entnahme von Inhalten bzw. Aussagen aus Quellen, historischen Darstellungen oder Produkten der Geschichtskultur und der Nachweis der Kenntnis von deren Gattungen. Die Darstellung erfolgt in einem neutralen Register. Das erhobene Wissen wird nach den Sektoren der Geschichtswissenschaft (Epochen, Räume, Dimensionen und Subjekte) definiert. Somit erwächst aus dem Umgang mit dem AFB I der Nachweis des Vermögens, Arbeitswissen (deklaratives Fachwissen und prozeduralem Wissen) zu lukrieren. Der AFB II (Transfer und Reorganisation) überprüft analytische Fähigkeiten, deren Ziel das Attestieren von Interpretationsvermögen ist. Im Zentrum der mentalen Operationen steht die Anwendung von Methoden, um verfahrensgeleitet zu Deutungen und zur Überprüfung der Triftigkeit der Inhalte der Materialien bzw. der aus ihnen erhobenen Aussagen zu gelangen. Historische Sachverhalte und Phänomene werden anhand von Materialien auf Argumente, Urteile und Interessen des/der Autors*in untersucht und kritisch überprüft. Sichtbar werden die Resultate dieses Erkenntnisvorgangs in der Darstellung historischer Verläufe und Strukturen und damit in der Fähigkeit zur Kontextualisierung der Analyse-Ergebnisse. Es erfolgt deren Übertragung (Transfer) in einen neuen Sinnzusammenhang (Reorganisation). Das sprachliche Register ist argumentierend. Der AFB III (Reflexion) erwartet einen reflektierender Umgang mit den Erkenntnissen der vorherigen Schritte (AFB I und II) mit dem Ziel, eigenständige, begründbare Urteile über Sachverhalte bzw. Ereignisse oder Phänomene zu entwickeln, die entweder zur Reorganisation oder Festigung des eigenen Geschichtsbildes führen. Die wertenden Urteile müssen plausibel sein und sich an Wertesystemen orientieren. Daher erfolgt die Darstellung argumentierend.321 Im EPA-Modell dienen die AFB-Definitionen als Grundlage zur Ausdifferenzierung von drei Niveaustufen. Laut Körber ermöglicht dieses Verfahren das Erkennen von Graden der Selbstständigkeit im Erfassen und Nutzen von Konzepten durch die Schüler*innen. Manifest wird das durch die Komplexität der Operationen, in der Differenzierung zwischen Erwerb, Anwendung und Sicherheit von Erkenntnissen und in deren Handhabung. Damit gelingt es, „[…] taxonomisch komplexere Denkformen einzufordern.“322 Diese Aspekte stellen aber singuläre Phänomene im Umgang mit Geschichte dar und lassen sich nicht zu einem Gesamtbild über Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Person fügen. Statt die Progression gleicher Fähigkeiten zu messen, „[…] wird das Anspruchsniveau einer Aufgabe durch die Anteile der drei als unterschiedlich ‚schwierig‘ erachteten Anforderungsbereiche bestimmt“.323 Es dominiere die Dichotomie zwischen nicht gekonnt und gekonnt.324 FUER räumt ein, dass mit dem EPA-Modell ein wichtiger Schritt in Richtung Graduierung gesetzt worden ist, weil man bemüht gewesen sei, „[…] validen inneren Differenzierungen der Niveaus innerhalb der Anforderungsbereiche näher zu kommen.“325 Kritisiert wird am EPA-Konzept auch das Gewicht, das der „Sachkompetenz“ beigemessen wird, weil darunter fundiertes Wissen über Vergangenes auf den Ebenen der „Eigenwirklichkeit“ und als „Vorgeschichte über die Gegenwart“ verstanden werde. Durch die Art, wie EPA konzeptiv mit Wissen umgeht,326 erwartet Körber in der Unterrichtspraxis die Herausbildung der Tendenz, Wissensbestände zu kanonisieren und das Verfügen darüber in Niveaustufen zu gliedern. Es mangle EPA an „epistemologischen Bedingungen des Historischen“,327 die die Nutzung von Wissen zur Entwicklung von Kontextualisierungsfähigkeit ermöglichen. Körber weist darauf hin, dass Wissen per se keine Kompetenz sei, sondern „[…] das Substrat, an dem sich Kompetenzen erwerben und entwickeln lassen und an welchen sie zum Tragen kommen.“328 Und er betont, dass FUER, im Gegensatz zu EPA, unter „Sachkompetenz“ das Verfügen über historische Begriffe und Strukturen verstehe. Die „Sache“ sei hier nicht die Vergangenheit, sondern die Geschichte. Der fundamentale Unterschied bestehe in „[…] deren erinnernder Vergegenwärtigung in ihrer theoretischen Struktur, kategorialen Fassung und sprachlichen Form“.329 Somit erweist sich die Kompetenz im Vermögen, konzeptionelles, kategoriales und prozedurales Wissen zu erwerben, in der Bereitschaft, es in allen Kompetenzbereichen anzuwenden und in der Fähigkeit zum Diskurs (narratives Konzept). Anders als bei EPA ist Sachkompetenz bei FUER jedem Kompetenzbereich inhärent und daher nicht singulär fassbar. Sie beinhaltet fachwissenschaftliche Komponenten (deklaratives Fachwissen, prozedurales Wissen) ebenso wie die Fähigkeit zum Umgang mit Theorie (Wissen um Kategorien und Konzepte) und deren Klassifizierungen und Logiken.330 Eine weitere Divergenz zwischen EPA und FUER ortet Körber in der Bedeutung, die EPA der Fähigkeit wertend zu urteilen beimisst. Hier wirft FUER dem EPA-Konzept vor, eine wichtige Fähigkeit – die Urteilskompetenz – herauszuheben und zu operationalisieren, statt sie zu integrieren. „Das Urteilen ist Bestandteil vieler anderer Kompetenzbereiche. Viele andere Kompetenzen tragen zur historischen Urteilsfähigkeit bei, wie diese bei ihnen. Kompetenzen verschränken sich ineinander.“331 Daher werde die Urteilsfähigkeit bei FUER als Bestandteil der Orientierungskompetenz verstanden. Auch Schönemann et all. kritisieren EPA. Der Anspruch, den „[…] Ausprägungsgrad der historischen Kompetenzen zu beurteilen, [… ein] zentrales Anliegen der Abiturprüfung“,332 könne die Prüfungsordnung nicht erfüllen, da „[…] ein substanzieller Fehler im Bauprinzip […]“333 aufgetreten sei. Sie kritisieren das ungeklärte Verhältnis der drei zu erhebenden Kompetenzen (Sach-, Methoden- und Urteilskompetenz) zueinander und die Hierarchisierung der Anforderungen. Das sei „[…] aber keine wirkliche Unterscheidung der Niveaus der Verfügung über die zur Bewältigung der Aufgaben nötigen Kompetenzen“,334 denn Fortgeschrittene sollten in jedem Kompetenzbereich besser werden, also auch elaborierter reproduzieren können. EPA repräsentiere eine nicht zu Ende gedachte Verknüpfung von AFB, Kompetenzen und Graduierungsbemühungen.335 Als problematisch wird die hohe Zahl von Operatoren (32) und deren Zuordnung336 gesehen. Zudem gebe es systemische Inkonsequenzen (z. B. die Aufteilung nach spezifischen und nach übergeordneten Operatoren) und eine mangelnde Präzision bei der Zuordnung der zu speziellen AFB gehörenden Verben. Der Kritik am Operatoren-System als Komplikationsfaktor337 treten Buchsteiner et all. bei.338

      Evidenzen von Schüler*innen-Leistungen, die aus der Bewältigung von Aufgaben resultieren, entsprachen dem Messerfordernis nach dem Kompetenzverständnis der Gruppe FUER ebenso wenig, wie anthropologische oder chronologische Ansätze zur Kompetenzanalyse. Daher empfiehlt Borries die Entwicklung eines Graduierungssystems aus dem eigenen Kompetenzmodell, was eine differenzierte Diagnose der Kompetenzentwicklung ermöglichen sollte. Und er weist darauf hin, dass Kompetenz-Plateaus (Stufen) untauglich wären, denn sie stellten keine Intervalle von Entwicklungen mit gleitenden Übergängen, sondern Sprünge dar. Ein Graduierungsmodell müsste drei Komponenten beinhalten: Zunächst müsse es darum zu gehen, eine „[…] begriffliche Ordnung möglichst geringer Beliebigkeit“339 herzustellen, sodann Modelle der „Lernprogression“ zu entwerfen und schließlich Strategien zur Lernförderung zu kreieren.340