Mann umständehalber abzugeben. Hanne-Vibeke Holst

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Название Mann umständehalber abzugeben
Автор произведения Hanne-Vibeke Holst
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711450994



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aber lieber früher! Ich bin den ganzen Tag zu Hause.« Er drückt meine Hand, bevor er die Tür zuwirft, bleibt dann im Regen stehen und winkt mir nach. Immer noch in seiner weißen – sofort durchnäßten – Kleidung. Ich lehne mich im Sitz zurück und schnuppere den geheimnisvollen Duft, der aus meinem Schoß aufsteigt.

      »Und jetzt zur Havnegade!« sage ich dem Fahrer im Spiegel und habe Lust, laut loszulachen.

      »Mein Gott!« ruft meine Mutter aus, als sie mich umarmt hat. »Ist der russisch?«

      »Was?« frage ich desorientiert.

      »Der da!« lächelt sie und legt ihren Finger genau dorthin, wo Paul sich letzte Nacht festgesogen hat.

      »Ist der russisch?« wiederholt sie, als handle es sich um ein besonderes Schmuckstück in Silberfiligran.

      »Das ist ein Vampirbiß!« erwidere ich und hänge meinen Mantel auf.

      »Ja, ja, die sind wild, die Russen!« Mutter kichert und überprüft automatisch ihr Aussehen, als sie am Garderobenspiegel vorbeikommt, um in die Küche zu gehen. Sie ist im Morgenmantel, aber ihr Make-up ist sorgfältig aufgetragen. Wie ein Zahnloser, der als erstes morgens nach seinem Gebiß greift, sucht sie ihre Kosmetiktasche. Seit ich von daheim ausgezogen bin, habe ich sie nie ohne Rouge und Wimperntusche gesehen. In der Küche ist hübsch für vier gedeckt, und es duftet verführerisch nach Kaffee. Vermutlich hat sie bereits einen halben Eimer getrunken.

      »Kiki kommt auch – mit ihrem neuen Macker. Wie hieß er noch? Morten oder Martin oder so«, erzählt sie, während sie die Marmelade auf den Tisch stellt.

      »Und was ist mit deinem Macker?« frage ich und schenke mir eine Tasse Kaffee ein.

      »Der gute alte Freddy?« fragt sie und verzieht das Gesicht. »Er ist auf dem Land. Er hat mir feierlich erklärt, daß er sich NIEMALS wieder vor einer Premiere in meiner Nähe aufhalten wird. Er behauptet, ich wäre dann unausstehlich.«

      »Das bist du doch auch!« Ich lasse mich mit der Tasse in der Hand auf einen Stuhl fallen. Ich habe das Gefühl, mich während eines Erdbebens in einem schwankenden Hochhaus zu befinden.

      »Ich bin nur so verdammt nervös! Diesmal müssen sie mich auf die Bühne zerren!« Mutter zupft an ihrem Mundwinkel, ein Zeichen dafür, daß sie wieder Herpes bekommt. Ihre Premierennervosität zeigt sich immer in Herpesbläschen. »Sie werden mich umbringen!«

      »Das sagst du jedesmal!« Ich nippe an dem Kaffee, er schmeckt scheußlich, bringt mich aber näher an die physische Realität heran.

      »Ja, aber diesmal ist es ernst!« Mutter braust auf. »Wenn ich einen König hätte, der mit einem spielt und nicht gegen einen, dann ginge es ja noch ... Wenn nicht der süße Viktor dabei wäre, hätte ich schon lange einen Nervenzusammenbruch gehabt!«

      Mutter greift nach ihren Zigaretten auf dem Dunstabzug, zündet eine an und inhaliert nervös.

      »Viktor ist genial. Er macht etwas mit mir. Er holt etwas in mir hervor, von dem ich selbst nicht gedacht habe, daß ich es kann ...«

      »Ist er jetzt wieder dein Liebhaber?« falle ich ihr schroff ins Wort und rutsche auf meinen alten Platz an der Wand. Mutter hat ihr festes Repertoire an Liebhabern, die sie in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen immer wieder aufnimmt. Regisseure, die immer unmittelbar Zugang zu ihr haben, Schauspieler oder Back-stage-Leute, obwohl letzteres nun schon ein paar Jahre zurückliegt. Dafür, denke ich, hat sich jetzt wohl ein Theaterdirektor eingeschlichen, von dem sie letztlich auch mehr hat.

      »Also, Therese, du klingst wie Freddy!« Mutter verdreht die Augen. »Er ist so unglaublich eifersüchtig. Er versteht einfach nicht, was es heißt, eine künstlerische Symbiose mit einem anderen Menschen einzugehen!«

      »Nun mal ehrlich, Mutter, was kann man denn von einem Zahnarzt erwarten!«

      »Ein bißchen Verständnis! Großzügigkeit!« Mutter streift die Asche von ihrer Zigarette ab, und ich kann ihr nur noch einen Blick zuwerfen, bevor wir Kikis drei kurze Klingelzeichen hören.

      »Ich mache auf!« sage ich, und Mutter nickt.

      Kiki ist auch keine Schauspielerin geworden. Sie hat zwei, drei angefangene Ausbildungen hinter sich und arbeitet jetzt als Croupier in einem der großen Hotels. Aber auch wenn ihr Mutters elektrische Nervosität fehlt, ist sie ansonsten diejenige von uns beiden, die Mutter am meisten ähnelt. Sowohl vom Aussehen – rotblond, mit Sommersprossen und Kurven, während ich dunkel und knochig bin wie Vater – wie vom Gemüt her. Genau wie Mutter hat Kiki eine Art ewiger Kindlichkeit, eine unzensierte Unmittelbarkeit, die sie immer gesund, aufbrausend und direkt reagieren läßt.

      Als Kinder hatten wir Probleme miteinander, weil der Altersunterschied zwischen uns nur gering ist, wir uns viel zu oft selbst überlassen wurden, aber so unterschiedlich waren, daß wir kaum etwas miteinander anfangen konnten. Ich war die Ältere und die Klügere, während sie die Stärkere und Robustere war, und deshalb gewann fast immer sie.

      Ich habe es mir nie eingestanden, aber ich glaube, eigentlich fürchtete ich mich vor ihr. Sie machte mir angst. Kiki wütete und fluchte, warf sich hysterisch schreiend auf den Boden, fiel von Bäumen und brach sich Arme und Beine, steckte ihr Zimmer in Brand oder lief davon, während ich mich still und erhaben durch meine Kindheit bewegt habe, nur das einzige Ziel vor Augen: groß zu werden, um Anerkennung von meinem abwesenden Vater zu erlangen.

      »Hallo, Superstar!« Kiki drückt mich begeistert an sich. »Spitze, dich wiederzusehen!«

      Sie sieht aus, als meine sie das wirklich, und es erfüllt mich wie immer mit einer sonderbaren Form von guter Laune, daß ich von ihr akzeptiert werde. Und einer gewissen Erleichterung, denn sie hat sich nie, auch nicht, seit wir erwachsen sind, mit ihrer Kritik zurückgehalten.

      »Das ist Marvin«, sagt sie und zieht den langhaarigen Typen nach vorn.

      »Marvin?« Ich gebe ihm die Hand, und er beantwortet meine unausgesprochene Frage.

      »Meine Mutter war Marvin Gaye-Fan. Nenn mich einfach Spunk.«

      »Wie die Lakritzpastillen!« wirft Kiki ein und legt dabei einen Finger auf meinen Hals. »Nana?«

      »Vampirbiß«, sage ich kurz.

      Kiki grinst.

      »Heißt er Paul? Und schickt Postkarten aus Skagen?«

      »Du bist schrecklich, du Rotzgöre!« Ich schubse sie leicht, und Kiki legt ihren Kopf nach hinten und schüttelt grinsend die Regentropfen aus ihrem lockigen Haar. »Ja, aber ich habe doch recht, oder?«

      Kiki und Spunk waren am Abend zuvor auf einem Fest, sind davon noch angeschlagen und knabbern an ihren Brotscheiben, die sie selbst mitgebracht haben. Und ich habe es mir aus praktischen Gründen in Moskau fast abgewöhnt zu essen – die humanste Lösung für einen Korrespondenten ohne Korrespondentenfrau –, und eine Nacht mit Paul ist, nach normalen Kriterien zu urteilen, auch nicht gerade appetitfördernd. Das einzige, wozu ich Lust habe, ist, zu rauchen und zu trinken. Und als Mutter und Kiki sich Blicke zuwerfen und zu einem Verhör ansetzen wollen, komme ich ihnen zuvor. Ich schlage vor, daß Mutter die Flasche armenischen Cognac öffnen soll, die ich ihr mitgebracht habe.

      »So früh am Morgen?« fragt Mutter rhetorisch, während sie schon kleine Gläser aus dem Schrank holt.

      »Wir schaffen es locker bis zum Mittag«, erklärt Kiki. »Übrigens habe ich einen Brief von ihm gekriegt«, fügt sie ohne Übergang hinzu.

      »Wie geht es ihm?« fragt Mutter neutral, aber mit einer Stimme, die ein paar Oktaven höher liegt als sonst.

      Spunk schaut verwirrt von einer zur anderen.

      »Keine Ahnung. Als ich sah, daß er von ihm ist, habe ich ihn zerrissen, ins Klo geschmissen, mich hingesetzt und drauf geschissen!«

      Wir starren sie alle drei wie gelähmt an.

      Mutter steht der Mund offen, und ich schließe meinen erst, als Spunk seine Neugier nicht mehr länger bremsen kann. Oder seine Eifersucht.