Название | Mann umständehalber abzugeben |
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Автор произведения | Hanne-Vibeke Holst |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711450994 |
Manchmal, wenn ich allein bin und für einen Moment die Hypnose abschütteln kann, frage ich mich selbst, was es eigentlich ist, was an ihm so besonders sein soll. Was hat Paul, was all die anderen nicht hatten? Und endet vielleicht die ganze Geschichte damit, daß ich gedemütigt dastehe, angeschmiert und um eine Erfahrung reicher, während Paul weiterzieht? Wieder einmal reingelegt!
Aber wenn wir zusammen sind, erscheint mir jeder Zweifel vollkommen absurd, fast blasphemisch. »Man soll über Wunder nicht spotten, indem man ihnen zu entgehen versucht«, schreibt Paul mir einmal auf eine Reklamepostkarte aus einem Café, als ich meine Bedenken vorgebracht habe und ihn bitte, die Geschwindigkeit zu drosseln. »Genieße es, meine Geliebte. Genieße mich, genieße dich, genieße uns!«
Das lehrt er mich auch. Loszulassen und zu genießen. Also genießen wir einander in diesem reifen Spätsommer, in dem die Märkte sich mit Heide füllen und ein angeschwollener Wespenstich mich daran erinnert, daß ich immer noch nur ein Mensch bin. Und dazu nur ein halber Mensch – wenn ich allein bin, ohne ihn, und ins Leere greife, kann ich nichts anderes tun, als ruhelos darauf zu warten, daß er zurückkommt, damit wir unseren unterbrochenen Dialog, unsere abenteuerliche Expedition fortsetzen können. Denn das sind wir – zwei Entdeckungsreisende, die ein neues Land erobern und nie wissen, ob ihr nächster Schritt sie in Sumpfgebiet, zwischen Sanddünen oder in das verbrannte Gras der Savanne führt.
Derart – unter Tropenhelm und großen Gefahren – lernen wir einander kennen. Werden miteinander vertraut, flüstern intim, miteinander verschmolzen. Wir teilen Tage und Nächte, und ganz gleich, was wir tun, es ist für uns ein fast greifbarer Genuß, zusammenzusein: Ob wir nun französische Filme sehen, einkaufen oder zu Rockkonzerten gehen. Ob wir in Vesterbro türkisch essen oder beim Brunch im d’Angleterre sitzen. Wir reden, bis uns die Kiefer weh tun. Über die Filme, Bücher und die Musik eines ganzen Lebens. Wir zeigen einander Kopenhagen und überschütten uns gegenseitig mit Kindheitserinnerungen und alten Witzen. Wir rekonstruieren all die Gelegenheiten, wo wir vielleicht auf derselben Fete waren, im selben Bus, zum selben Springsteen-Konzert in Hamburg.
Manchmal glaube ich, Paul als Sechzehnjährigen mit gelocktem Haar und Mittelscheitel vor mir zu sehen, und er ist überzeugt davon, daß wir zum Soundtrack von »Grease« zusammen getanzt haben. Was ich nicht glaube, denn ich habe John Travolta immer verabscheut, und außerdem, argumentiere ich süßlich, würde ich mich doch auf jeden Fall daran erinnern ...
Aber wir sind uns in unserer Verwunderung darüber einig, daß wir nicht schon lange aufeinandergestoßen sind. Das hätte zweifellos leicht geschehen können, wir haben verschiedene gemeinsame Bezüge und Bekannte und haben beide im »Tannhäuser« Absinth getrunken – um nur ein Beispiel zu nennen.
Allein die Tatsache, daß es uns geglückt ist, uns in der Journalistenhochschule aus dem Weg zu gehen, ist ein Mysterium. Ich hatte gerade mit dem Praktikum angefangen, als er mit dem ersten Theorieabschnitt in Århus anfing, und als ich zum zweiten Abschnitt zurückkam, war er im Praktikum. Paul behauptet, er hätte mich in der Kantine gesehen, als unsere Gruppe am Praxistag mitten im Praktikantenabschnitt in Lederjacken auftrat, und ich kann mich daran erinnern, daß ich von ihm gehört habe, weil eine Achtzig-Kilo-Frau aus meiner Klasse öffentlich erklärte, sie wäre bereit, sich den Mund mit Draht zunähen zu lassen, wenn sie dadurch Paul Weber kriegen würde. Diese Geschichte schluckt Paul mit einem breiten Pferdehändlergrinsen und revanchiert sich damit, daß er erzählt, diverse Typen in seinem Jahrgang wären ganz scharf auf mich gewesen.
»Ach Quatsch! Die kannten mich doch gar nicht!« antworte ich, nicht weniger angetan.
»Nein, aber sie kannten dein Namenszeichen. Wir waren alle stark beeindruckt von deinen Artikeln. Noch an der Hochschule und schon so etabliert, daß du übers Ausland schreiben durftest! Über Außenpolitik!«
Paul neckt mich. Kratzt an meiner Seriosität, kitzelt an meiner eigenen Ernsthaftigkeit. Vielleicht genieße ich an Paul in erster Linie seine unablässigen Herausforderungen, den Widerstand eines gleichwertigen Partners. Obwohl es genau diese Provokation ist, die einen Typen wie Paul so anstrengend und irritierend macht, ist sie vielleicht auch das, was ihn von den anderen unterscheidet. Daß Paul sich nicht abfindet, nicht mit einer schnellen Antwort oder taktischen Manövern abgespeist werden kann.
Dennoch brauche ich ziemlich lange, bis ich den Ernst unserer »Beziehung« begreife, wie ich sie nur zögernd nenne, weil ich mir immer noch einbilde, daß wir kein offizielles »Paar« sind. Gleichzeitig sehe ich selbst, wie lächerlich das ist, auch wenn Paul klug genug ist, es mir nicht auf die Nase zu binden. Denn ich binde mich an ihn, auch wenn ich so tue, als ob dem nicht so wäre.
Ich zeige mich öffentlich mit ihm, küsse ihn in der S-Bahn – also wirklich! – und führe ihn in den Teil meines Privatlebens ein, der normalerweise verbotenes Terrain für meine Liebhaber ist: Ich stelle ihn meinen Freunden und meiner Familie vor.
Birgitte trifft er das erste Mal auf der Wöchnerinnenstation des Rigshospitals, einen Tag, nachdem sie ihren Sohn geboren hat. Das war ein faux pas meinerseits, denn Birgitte sieht ziemlich ramponiert aus und will sich anscheinend nicht zu dem winzigen schlafenden Wesen bekennen, das in einem Plexiglasbettchen neben ihrem Bett liegt. Außerdem hat sie im Moment verständlicherweise wenig Interesse an meinen Angelegenheiten. Jens schaut sauertöpfisch wie immer und strahlt in keiner Weise beschützende Väterlichkeit aus. Wir verehren ihr einen von Paul ausgesuchten Mickymaus-Strampelanzug, der ein vorsichtiges Lächeln auf ihr Gesicht zaubert, während sie insgesamt fast traurig wirkt.
»Wirst du jetzt mütterlich?« fragt Paul im Fahrstuhl nach unten, und ich antworte ihm, indem ich die Augen verdrehe. Nein, ich werde weder diesmal mütterlich noch ein paar Wochen später, als Birgitte uns zu Pizza und Wein aus dem Karton einlädt. Ganz im Gegenteil. Die Szenerie ist beängstigend. Birgitte sieht immer noch aus wie etwas, das die Katze gefunden hat – ohne Make-up und mit ihren mindestens zehn überflüssigen Kilo, die sie notdürftig unter einem Sweatshirt und Leggings aus der letzten Saison verbirgt. Ein schlimmer Niedergang für eine Frau, für die Ästhetik einmal alles war. Aber diesmal zeigt sich jedenfalls eine Art Symbiose zwischen ihr und dem Kind, das bezeichnenderweise noch namenlos ist, weil die Eltern in dieser Frage festgefahren sind. Birgitte möchte ihn Maximilian nennen, weil er so groß war, und Jens beharrt auf Morten, was Birgittes Vorstellungen von einem Jungennamen diametral entgegengesetzt ist. »Warum nennt ihr ihn nicht einfach Susanne?« schlägt Paul vor und erntet das einzige Birgitte-Kichern des Abends, während Jens das überhaupt nicht witzig findet. Die Chemie zwischen Jens und Paul ist eindeutig nicht so, daß wir vier jemals eine Wandertour in den Alpen machen werden.
Der Junge, der immer noch winzig klein ist mit dünnen Froschbeinen und verschrumpeltem Gesicht, ist unruhig und schreit ununterbrochen, so daß Birgitte entweder mit ihm auf und ab läuft oder sich in das gewaltige ergonomische Stillkissen setzt und das Sweatshirt hochzieht, um das Kind erst an die eine, dann an die andere vor Milch fast platzende Brust zu legen.
Jens sitzt schäumend vor der Pizza, von der Birgitte kaum etwas probieren konnte, bis er endlich explodiert.
»Bring endlich das Kind zur Ruhe!« zischt er zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor, wobei seine Halsadern hervortreten und er die Fäuste ballt.
»Was glaubst du denn, was ich hier mache!« schreit Birgitte, und Jens steht so abrupt auf, daß sein Stuhl fast umkippt. Wütend rennt er aus dem Zimmer, wirft die Tür hinter sich zu und poltert die Treppen hinunter. Birgitte bleibt wie erstarrt stehen, sogar das Kind hat instinktiv aufgehört zu weinen. Paul und ich sehen uns über den Tisch hinweg an und erwarten, daß sie weinend auf dem nächsten Stuhl zusammenbricht. Aber das tut sie nicht. Sie beißt sich auf die Lippen und reißt sich zusammen. Legt das jetzt ruhige Kind in den Wipper, schaukelt ihn leicht und wendet sich uns zu.
»Kaffee oder Tee?« fragt sie unheimlich ruhig und geht hinaus, um Wasser aufzustellen.
Wir kommen zu keinem vernünftigen Gespräch, denn als wir endlich mit unserem Tee dasitzen, meldet der Kleine sich umgehend mit durchdringendem