Mann umständehalber abzugeben. Hanne-Vibeke Holst

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Название Mann umständehalber abzugeben
Автор произведения Hanne-Vibeke Holst
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711450994



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kommt, wo meine Nervenstränge ungeschützt freiliegen. Ganz zurück in die Kindheit und zum Ursprung aller Schmerzen.

      Also erzähle ich zum ersten Mal als Erwachsene von dem sieben Jahre währenden Strindberg-Drama meiner Eltern, das alle, außer den Akteuren selbst, ausschloß, so daß sogar die Kinder, die sie hervorgebracht hatten, zu Statisten oder Requisiten wurden.

      »Das ist wirklich ein gutes Beispiel für zwei Menschen, die ganz und gar nicht füreinander geschaffen sind!« sage ich trocken.

      Paul lächelt und macht mich damit aufmerksam auf meinen unbewußt aufgestellten Gegensatz zu uns beiden ...

      »Und warum waren sie das nicht?« fragt er und nimmt mich von dem einen Haken, um mich sogleich an einen anderen zu hängen.

      »Ach«, ich breite die Arme aus und muß mich entschuldigen, weil ich fast einen alten Mann mit Stock geschlagen hätte. »Sie waren einfach zu unterschiedlich. Du weißt, mein Vater kommt aus einem strenggläubigen Kleinbauernmilieu auf Læsø, rebellierte und ging nach Kopenhagen, um Kunst zu studieren. Aber ...«

      Ich stocke, als wir einem Elternpaar mit Zwillingskinderwagen ausweichen müssen. Zum ersten Mal seit Jahren sehe ich meinen Großvater vor mir. Brütend und gewaltig, schwer in seinen riesigen, schlurfenden Holzschuhen, die Kiki und mich immer laut losprusten ließen. Sie fragte ihn einmal, ob er die auf einer Werft hatte anfertigen lassen, und das fand er überhaupt nicht lustig. Er fand sowieso, daß wir zwei ungezogene Kopenhagener Gören waren, und die wenigen Sommer, die wir die lange Reise nach Læsø machten und die Sommerferien in Großvaters Lehmhütte mit Strohdach verbrachten, in der die kalten Kammern nach Urin rochen und es weder ein WC mit Wasserspülung noch fließend Wasser überhaupt gab, sind in meiner Erinnerung immer noch in erster Linie furchteinflößend und exotisch. Noch jetzt kann ich das Gefühl plötzlicher Kälte und Klammheit spüren, wenn wir aus der sonnenflimmernden Læsø-Natur mit Hummeln in den Heckenrosen in Großvaters Küche traten, wo immer Kröten und Ohrenkneifer auf uns lauerten. Und dann Großvater selbst, der plötzlich in der Türöffnung erscheinen konnte, nach Stall stinkend und gefährlich. Außerdem sprach er in dieser unverständlichen Kartoffelsprache, die Kiki nachahmte, wenn wir im Bett lagen. Aber im Grunde genommen war er ein stummer Mann. Wir hörten ihn eigentlich nur etwas sagen, wenn er schimpfte oder das Tischgebet sprach. Selbst Vater hatte Angst vor ihm. Nur Mutter konnte wie ein Zitronenfalter um ihn herumflattern und ab und zu ein Blitzen in seinen Augen hervorrufen, und es geschah sogar manchmal, daß sie ihn zum Lächeln brachte. Aber wir fuhren immer zur falschen Zeit, und wenn Mutter nicht auf der Fähre nach Frederikshavn seekrank wurde und sich übergab, so stritten Vater und sie bereits auf dem Wasser, wie krank im Kopf Großvater war. Denn auch wenn Vater schrecklich frustriert war, verteidigte er trotzdem Großvater und warf Mutter vor, sie sei eine bourgeoise Ziege, die keine Ahnung von dem »wahren Leben« habe. Ein einziges Mal gab er zu, daß es »schlimmer geworden ist, seit Großmutter tot ist«, und da stritten sie nicht. Statt dessen sah ich zu meiner Verwunderung, daß Vaters Maske Risse bekam und ihm Tränen in die Augen stiegen. Mutter umarmte ihn, und darauf liefen Kiki und ich schnell zum Achtersteven und spuckten über die Reling. Das ist wohl so zwanzig Jahre her. Soweit ich weiß, lebt er immer noch.

      »Dein Vater war also auf der Kunstakademie, aber?« fordert Paul mich auf.

      »Aber«, fahre ich fort, »das ging wohl nicht so gut, oder er wurde einfach vom heiligen Feuer ergriffen. Jedenfalls wurde er zu einem glühenden Kommunisten, trat der DKP bei und fühlte sich berufen, › sozialistische Kunst‹ zu machen. Er war bei der Gründung der Røde Mor dabei und malte Agitprop-Plakate für die 1.-Mai-Treffen und so. Und abgesehen von Mutter verehrte er Lenin, Marx und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.«

      »Daher hast du das also?« Paul lächelt.

      »Jedenfalls den Ansatz«, nicke ich. »Und Mutter war das bürgerliche Gegenteil. Tochter eines Kopenhagener Rechtsanwalts und seiner migränegeplagten Ehefrau, absolvierte die Schauspielschule des Königlichen Theaters, und als sie Vater kennenlernte, bereits ›ein vielversprechendes Talent‹. Aber wie alle anderen fand sie die Proteste romantisch, also flirtete sie zwischen ihren Ibsen-Proben ein wenig mit den Roten. Sie lernten einander auf einer politischen Veranstaltung kennen und ...«

      »Der Mann vom Volk verliebte sich in das hübsche Mädchen aus der Oberschicht, das weiche Knie kriegte, wenn ein Mann aus dem Volk sie küßte«, fährt Paul fort. »Aber dann endeten die faszinierenden Gegensätze damit, daß sie zu unverzeihlichen Fehlern wurden?«

      »Klassenfeinde!« nicke ich und erzähle die Geschichte, wie ich sie von Tante Mo, der Schwester meines Großvaters mütterlicherseits und der einzigen, die den Kontakt zu meiner Mutter aufrechterhalten hat, gehört habe. Mutter hatte nicht auf ihre bürgerlichen Eltern gehört und meinen Vater geheiratet.

      Ich war zu klein, um die Nuancen in dem Kampf der Klassen und Geschlechter zu verstehen – aber groß genug, um die Scherben zusammenzufegen, wenn wieder einmal Waffenstillstand herrschte und die Gegner eine heftige Versöhnung im Schlafzimmer versuchten. Damals, als der Krieg zu einem erschöpfenden Grabenkrieg geworden war und Vater den Tag mit sechs Bier und einer halben Flasche Schnaps begann, um das Dasein auszuhalten, holte Tante Mo uns ab und teilte meiner Mutter mit, daß wir erst wieder zurückkommen würden, wenn »geordnete Verhältnisse« herrschten.

      Das einzig Vernünftige, da weder Mutter noch Vater die Kraft hatten, sich um uns zu kümmern und das Kindermädchen schon lange davongelaufen war. Wir lebten von Haferflocken mit Milch, denn das war das einzige, was wir selbst kochen konnten. Und als es keine Milch mehr gab, aßen wir sie ohne. Als Tante Mo – durch Intuition und einen Anruf meiner Klassenlehrerin – das entdeckte, nahm sie sofort die Sache in die Hand. Wir müssen ziemlich lange bei Tante Mo und Onkel Erik auf dem Land geblieben sein, denn ich ging dort in die Schule und hatte schon fast schreiben gelernt, als wir zurück in die Havnegade und eine Wohnung ohne Vater kamen.

      »Und weißt du, was das schlimmste an der ganzen Geschichte ist?« frage ich Paul, der mich auf eine Bank zieht. »Mutter hat während der ganzen Zeit keine einzige Probe versäumt, nicht eine Vorstellung im Theater!«

      »Disziplin?«

      »Ja, in der Beziehung war sie immer wahnsinnig diszipliniert.«

      »Und deshalb haßt du sie?«

      Ich lehne mich an Paul, der mir seinen Arm um die Schulter legt. »Ich hasse sie. Und bewundere sie.«

      Er hat offenbar fürs erste genug, denn jetzt läßt er mich in Ruhe. Wir gehen entspannt plaudernd weiter, die Østerbrogade hinauf zu mir. Gucken Schaufenster an. Kleidung, Küchen, Inneneinrichtung. Paul ist es, der immer wieder stehenbleibt. Ich möchte mich selbst nicht besser machen, indem ich behaupte, daß mich materielle Dinge nicht interessieren. Aber ich habe den Puritanismus der Partei nie ganz ablegen können, und außerdem habe ich keinen ausgeprägten ästhetischen Sinn. Früher war es immer Birgitte, die sich als meine persönliche Stylistin betätigt hat, und seit sie andere Prioritäten hat, sind mein Look wie auch meine Wohnung ziemlich nichtssagend geworden. Während Paul, und dafür wird er von den Hängeärschen im Sender verlacht, ein eitler Markenfan ist – und nach weniger als zwei Tagen in seiner Wohnung kann ich berichten, daß er auch Einrichtungsmagazine liest.

      Die Frage, die ich noch unausgesprochen und unbeantwortet zwischen uns hängen lasse, ist natürlich, wo er eigentlich das Geld für die teure Vier-Zimmer-Wohnung an den Seen mit Mahagoni-Küche, Badezimmer in norwegischem Granit und Le Corbusier und Philippe Starck im Wohnzimmer hat. Ganz zu schweigen von den Boss-Anzügen, den Stenström-Hemden und den handschuhweichen italienischen Schuhen!

      Wir kaufen unterwegs Kuchen, und während wir händchenhaltend nach Hause gehen, bin ich fest davon überzeugt, daß man nicht noch spießiger werden kann. »Ist doch schön, oder?« grinst Paul, als ich eine Spitze über kleinbürgerliche Sonntagsvergnügen von mir gebe. Schön, zumindest als Abwechslung, denke ich, als ich uns in meine Wohnung hineinlasse, wo – was mir plötzlich bewußt wird – so oft die Sonntagsmelancholie in den Ecken gelauert hat. Und ich summe, als ich in der Küche stehe und Café au lait auf die altmodische Art und Weise mit Espresso und gekochter, geschlagener Milch mache. Es gefällt mir zu wissen, daß er drinnen