Zürcher Filz. Gabriela Kasperski

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Название Zürcher Filz
Автор произведения Gabriela Kasperski
Жанр Языкознание
Серия Schnyder & Meier
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960416678



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über ihren Mund und trank in gierigen Schlucken. Den Rest liess sie über das Gesicht und den Hals rinnen, schüttelte jeden Tropfen heraus, bis nichts mehr da war. Da hörte sie wieder das Wischrascheln. Sie rannte zur Tür, hämmerte und schrie.

      «Was machst du da? Lass mich raus. Ich will hier nicht sterben.»

      7

      Freitag, 13. Dezember

      «Wir haben einen Termin. Aufstehen, Mama», sagte Jessie.

      Seit sie gestern Philomenas Brief gefunden hatte, war Jessie mega geflasht. Es hatte ihr nicht mal was ausgemacht, dass Mama wieder ausgebüxt war. Ohne die Medikamente würde sie bald heimkommen, hatte sie vermutet. Und genauso war es gewesen. Um drei in der Nacht war Mama hereingestolpert. Jessie hatte sich die Stöpsel ins Ohr gesteckt, Billie Eilish angewählt und so getan, als ob sie schliefe. Kaum war Mama im Tiefschlaf, war sie aufgestanden, hatte Hausaufgaben gemacht und alles aufgeräumt, Mamas versiffte Klamotten, den ganzen Müll.

      Heute wird alles gut. Heute ist unser Glückstag. Wir bekommen die Wohnung. Ich kann es kaum erwarten, bis ich es Malik erzählen kann. Endlich, endlich kommen wir aus dem Loch raus.

      Jessie wusste genau, was passieren würde, wenn jemand herausfände, wie sie lebten, ihre Lehrerin oder ihre Klassenkameradin. Sie würden es der Behörde melden, und dann würde Jessie wegkommen. Weg aus dem Viertel, weg von der Schule, weg von Malik.

      «Mama, gleich geht’s los.»

      Jessie betrat das Bad. Es war winzig und düster und stank nach Schimmel. Als sie das Wasser laufen liess, brach der Duschkopf entzwei. Kaputt, wie fast alles in der Wohnung. Trotzdem machte Jessie jedes Mal einen Bogen um den Abwart.

      «Ja nicht meckern», hatte Mama gesagt, «sonst sind wir draussen.»

      Das Leben wurde immer schwieriger, weil kaum mehr Bargeld da war. Dabei waren sie noch nicht mal in der Hälfte des Monats. Bis Mamas Geld vom Sozialamt kam, würde es noch zwei Wochen dauern. Jessie könnte es mit Nachhilfestunden versuchen, sie war gut in der Schule. Die Lehrerin hatte sie sogar bei einem Hochbegabtenprogramm angemeldet. Aber Jessie brauchte kein Programm, sie brauchte Geld.

      Sie warf einen Blick in den Spiegel. Der Pferdeschwanz war ordentlich, der schmale Pulli stand ihr. Er war ein Geschenk der Lehrerin. Jessie mochte es nicht, dass sie ihr dauernd Dinge schenkte. Trotzdem sagte sie nicht Nein.

      «Mama, komm jetzt.»

      Es war wie immer das Gleiche mit Mama: Sie konnten noch so viel Zeit haben, am Schluss wurde es knapp.

      Jessie schüttelte Mama am Ärmel.

      Ein Protestlaut. «Lass mich.»

      «Wir haben eine Wohnungsbesichtigung. Ich kann da nicht allein hin. Die merken sofort, dass ich erst vierzehn bin.»

      «Verdammter Kackmist!»

      Jessie hasste Mamas Fluchen. Andererseits kam sie dann in Gang. Sie schubste Mama vorwärts, stellte sie in die kaputte Dusche und drehte den Hahn auf. Dann ging sie hinaus. Bis zur Küchenzeile brauchte sie kaum drei Schritte. Auf dem Regal standen ein Glas mit Würstchen, zwei Büchsen Kichererbsen, Nescafé. Jessie rührte das Pulver in heisses Wasser.

      Dann zog sie das feuchte Bettzeug ab, sie würde es am Abend waschen. Holte die leere Ginflasche hinter dem Sofa hervor und legte sie zu den anderen in die Kartonkiste.

      «Mama?»

      Die Dusche war aus, kein Laut kam mehr aus dem Badezimmer.

      «Mama?» Ihre Stimme wurde schrill. Was, wenn Mama gestorben wäre?

      Die Tür ging auf. Mama stand da. Das Haar tropfend. Nackt. «Entschuldige, meine Schönste», sagte sie.

      Jessie atmete auf, brachte ihr den Kaffee. Half ihr beim Anziehen.

      «Beeil dich, Mama. Wir dürfen nicht zu spät kommen.»

      Der Knopf der Hose ging nicht zu. Obwohl Mama so dünn war wie ein Storch, war ihr Bauch aufgebläht. Das hatte ein Riesentheater zur Folge. Je nervöser Jessie wurde, desto mehr sperrte sich Mama. Erst als ihr Jessie den neuen Pulli auslieh, machte sie mit.

      «Super, Mama.»

      Ohne Pulli blieben für Jessie nur die dünne Jacke, die Hose mit den Löchern, die abgelatschten Turnschuhe. Die anderen ihrer Klasse hielten es für ein modisches Statement.

      Sie waren schon aus der Tür, als Mama noch mal zurückwollte.

      «Nicht ohne meine Mütze.» Sie war schmutzig weiss, übergross mit Krempe. Mama sah darin aus wie ein Clown.

      Endlich gingen sie los. Als sie unten waren, musste Mama erst mal eine Runde rauchen. Hoffentlich hat es viele Leute, hoffentlich sind die verspätet. Bitte, bitte, lass uns einmal Glück haben.

      «Gib alles, Mama.» Jessie trieb Mama in dem Ton der Mütter auf dem Sportplatz an. Und Mama gehorchte.

      Bei der Schreinerei warf Jessie einen Blick in die Werkstatt. Der Lehrmeister bemerkte sie, zuckte die Schultern. Nein, leider kein Malik, hiess das. Es gab Jessie einen Stich ins Herz. Das Laufen fiel ihr plötzlich schwer.

      «Was ist, Jessie, warum schleichst du so? Ich dachte, wir müssen uns beeilen.»

      Mama war endgültig wach geworden. Zusammen rannten sie los, über die grosse Kreuzung, die Forchstrasse hoch. Das Haus war grün und alt, im Erdgeschoss gab es einen Supermarkt, das Tram fuhr direkt vor der Haustür. Aber das Treppenhaus war sauber, es roch nach Waschpulver, es gab einige Kinderwagen und Roller. Hier wohnen Familien, dachte Jessie. Durch eine Glastür bekam sie einen Blick auf den Hinterhof, bemerkte Bäume ohne Laub und eine Schaukel.

      Als sie im dritten Stock ankamen, schloss ein Mann gerade die Tür ab. Unter dem Regenmantel trug er einen grauen Trainingsanzug.

      «Sie sind zu spät. Die Besichtigung ist vorbei.»

      Jessies Bauch zog sich zusammen. «Ist Frau Lombardi nicht hier?»

      Der Mann schüttelte den Kopf.

      «Eine persönliche Einladung.» Jessie kramte den Brief hervor. «Sehen Sie.»

      Der Mann blickte vom Schreiben zu Jessie.

      «Da steht, acht Uhr. Nun ist es fast zehn.»

      «Es tut mir leid, wir …»

      In Jessies Kopf war wieder das Kuddelmuddel.

      Da spürte sie, wie Mama ihre Hand nahm.

      «Können Sie nicht ein Auge zudrücken? Ich habe meine Tochter von der Frühstunde abgeholt, sie besucht das Gymnasium. Und der 31er war verspätet. Kennen Sie die Buslinie? Da sass ein Randalierer drin. Wir mussten ihn von der Chauffeurin wegziehen, und dann hat’s gedauert, bis die Polizei kam.»

      Was erzählte Mama da? Man muss sich das Leben zurechtflunkern. Das war schon immer ihr Motto gewesen.

      Der Mann verzog leider keine Miene.

      «Können wir die Wohnung trotzdem sehen?», insistierte Mama.

      «Wir nehmen zwanzig in die engere Wahl. Zwanzig waren hier.»

      «Das ist fair und gerecht», sagte Mama. «Hätten Sie uns vielleicht einen Tipp für eine andere Wohnung? Dann gehen wir zu Fuss und nehmen nicht mehr den Bus. Jessie kann für einmal die Schule schwänzen, ihre Brüder auch.»

      «Haben Sie noch mehr Kinder?»

      Jessie hörte beschämt zu, wie Mama dem Mann die Geschichte von den Brüdern und dem Papa auftischte, der als Sozialarbeiter gerade einen Einsatz hatte. Und von ihrer Parkinsonerkrankung. «Darum zittern meine Hände, sehen Sie.»

      Damit hatte sie den Mann breitgeklopft. Er kritzelte etwas auf einen Zettel.

      «Am späten Vormittag ist ganz in der Nähe eine weitere Besichtigung. Seien Sie diesmal pünktlich.»

      8

      Beanie