Название | Zürcher Filz |
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Автор произведения | Gabriela Kasperski |
Жанр | Языкознание |
Серия | Schnyder & Meier |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783960416678 |
Hatten die anderen etwa vor, das Ganze heute Abend abzuwickeln? War dies das Problem?
Das Pochen in Noahs Kopf wurde stärker, er kramte nach einer zweiten Tablette. Wenn er am Anfang nicht gleich draufhaute, würde es schlimm werden. Konnte er sich nicht leisten. Nicht jetzt. Doppelrelax. Kotzkuh meinte garantiert die Wohnungsbesichtigung von morgen. Die Deppen hatten gemerkt, dass Hundertschaften kommen würden, wie Noah das vor Wochen prophezeit hatte.
«Leute», hatte er gesagt. «Fünf grosse Zimmer, K7. Diese Besichtigung wird in die Annalen eingehen, die Medien werden die Menschenschlange filmen. ‹Wohnungsnot in Zürich, der Mittelstand wird in die Agglo gedrängt, Filz bei Wohnungsvergabe.› Wollt ihr das?»
Das Pochen entwickelte sich zu einem Hämmern. Eine weitere Tablette und positive Gedanken. Noah visualisierte die Abrissbirne, sah vor sich, wie sie die alte Lombardi-Wäscherei kaputt schlug. Sah sich selbst, den Daumen hochhaltend, vor dem neu entstandenen Clusterbau, dem «Giess-Hübel». Er stellte sich die Artikel dazu vor, las eine Hymne über seine, Noahs, Antwort auf die gentrifizierten Ghettos, über das Exempel zukunftsorientierter Stadtplanung. Deswegen hatte ihn Philomena Lombardi engagiert, gegen den Willen von Kotzkuh. Wo blieb die überhaupt? Vermutlich hatte sie ihn zu früh bestellt. Um ihn zu ärgern.
Noah schob einen Pfefferminzkaugummi ein und sah die Post durch, die mit Verspätung gekommen war. Er zerriss mehrere Briefe an Kotzkuh und warf die Schnipsel in den Müll. Den gleichen Weg nahmen einige bemalte Umschläge, Bettelbriefe von verzweifelten Wohnungssuchenden, adressiert an das liebe Büro der Lombardi-Stiftung. «Bitte schenkt unseren Kindern eine Wohnung zu Weihnachten.»
Im Takt des Elektrobeats vernichtete Noah einen Brief nach dem anderen. Ein Päckchen fiel ihm ins Auge, an Charles Bonvin adressiert. So eins war schon mal gekommen. Ob wieder ein Schmuckstück darin war? Noah hatte Charles letzte Woche beobachtet, wie er den Ohrring erst ausgepackt und dann – sehr verstohlen – wieder eingepackt hatte. Der Sabber war ihm übers Kinn gelaufen. Charles brauchte Kohle, seine Spielschulden waren ein offenes Geheimnis. Es würde keine Stunde dauern, und er würde auch diesen Ohrring verhökern.
Noah fiel etwas ein. Ein geradezu süsser Gedanke. Das Dossier der Stiftungsräte, alle fünfundzwanzig, mit Namen und Adressen. Es galt als streng, streng, streng geheim, Kotzkuh hütete es wie einen Fladen. Niemand ausser ihr und dem Ratspräsidenten durfte alle Namen kennen. Das war die Gelegenheit, das Ding zu ergattern. In dem Moment setzte ein Rumpeln ein. Scheisse! Oder auch nicht. Der altersschwache Lift würde lange brauchen.
Noah eilte zu Kotzkuhs Büro, Alfredos altem Heiligtum, das sie annektiert hatte, als seine Leiche noch warm war. Blitzschnell durchsuchte Noah den Schreibtisch. Kotzkuh war so ordentlich, wie er sie einschätzte. Trotzdem fand Noah das Dossier nicht. Erst bei der zweiten Runde, als er die Schreibtischunterlage aus miefigem Filz hob, fand er darunter ein platt gepresstes Blatt Papier. Noah machte ein Foto, räumte alles wieder weg und rannte ins Sitzungszimmer. Keine Sekunde zu früh.
«Bonsoir, mon fils», sagte eine Stimme. «Warst du bei Alice im Office? Die Tür steht offen, das tut sie sonst nie.»
Charles Bonvin stand im Rahmen, auf den silbernen Knauf des Spazierstocks gestützt. Er stank wie üblich nach Zigarre.
Noah griff in seine Hosentasche und holte das Schreiben heraus, das er am Nachmittag genau für diese Gelegenheit präpariert hatte.
«Ich habe die Post durchgeschaut, Onkel Charles. Ein weiterer Drohbrief an die Lombardi-Stiftung ist gekommen.»
«Musst du nicht ernst nehmen. Vernichte das Papier.»
Charles griff nach Noahs Hand, der Zeigefingernagel grub sich in die Haut. Der alte Sack liess keine Gelegenheit verstreichen, Noah an seine Abhängigkeit zu erinnern.
Nach dem Tod seines Vaters hatte Charles bei Noah dessen Stelle übernommen. Hatte ihm Geld geliehen, ihm geholfen, als er im Dreck war. Hatte Noah die erste Lombardi-Wohnung verschafft.
«Du hilfst mir, ich helfe dir. Nicht wahr, mein Sohn?»
Der Alte vermied seinen Blick, fuhr mit dem Finger der Wespe nach, die auf dem Knauf seines Stocks eingraviert war.
Noah steckte das Erpresserschreiben ein. Keine Sekunde zu früh. Die Tür ging auf, und Kotzkuh trippelte vor Johannes Lombardi über die Schwelle. Ihr enger Rock blitzte unter dem Wintermantel hervor. Als sie Noah streifte, konnte er ihre muffige Unterhose riechen. Im Sitzungszimmer machte sie den Spot aus und das Neonlicht an und nahm ihren Platz am Kopf des Tisches ein. Dass keine Getränke da waren, liess sie unkommentiert. Sie wartete, bis Charles sein steifes Bein unter dem Tisch platziert hatte, und übergab Johannes das Wort.
«Philomena ist verschwunden», sagte der und sah einen nach dem anderen an.
Noah fühlte, wie der Kopfschmerz einsetzte, mit Wucht. Er versuchte, sich auf Johannes zu konzentrieren, der eine hysterische Gärtnerin erwähnte, während er gleichzeitig nach weiteren Tabletten fummelte.
«Und inwiefern betrifft uns das?», fragte er.
«Die Polizei hat eine Untersuchung angeordnet.»
«Eine Untersuchung?»
«Sie werden euch befragen.»
Alle schwiegen.
«Was heisst verschwunden? Ist sie tot?», fragte Charles schliesslich.
Kotzkuh sah zu Johannes. «Was denkst du?»
«Was ich denke? Ich frage mich, wie Charles auf eine solche Idee kommt.»
Als alle zum Alten sahen, bekam Charles einen Asthmaanfall. Er röchelte und spuckte. Danach war nur noch ein Pfeifen zu hören, die Arie einer serbelnden Lunge.
Kotzkuh räusperte sich. «Eine polizeiliche Untersuchung ist unangenehm.»
Johannes nickte. «Die Polizistin, die den Fall untersucht, ist arrogant, mit dunkler Haut und rasiertem Schädel. Eine scharfe Hündin.»
Kotzkuh winkte ab. «Wir haben alles unter Kontrolle. Die Wohnungsbesichtigung im K7 von morgen muss sauber ablaufen. Absolut sauber, versteht ihr?»
Niemand antwortete.
«Ansonsten haben wir einfach keine Ahnung, wenn man uns fragt. Wir wissen von nichts. Keinen Einblick in die Anzahl der Immobilien. Keine Begünstigung. Wir wissen nicht mal, wer alles im Stiftungsrat sitzt. Ein gut gehütetes Geheimnis, seit Jahren. Die Liste mit den Namen hat Alfredo mit ins Grab genommen. – Schaffen wir das? Noah?»
Er fühlte, wie die Liste in seiner Brusttasche brannte, und brachte nur ein Krächzen heraus. «Ich werde zusätzlich das Dossier für das ‹Giess-Hübel›-Projekt überarbeiten.»
Kotzkuh wischte den Vorschlag weg. «Das legen wir auf Eis.»
Noahs Kopf explodierte. «Nein», sagte er. «Das könnt ihr nicht. Der Vertrag wird nächste Woche unterschrieben.»
«Der Termin ist abgesagt.»
Eine neue Welle hinderte Noah am Protest.
«Sind wir fertig?», frage Charles, der Noah mitleidig von der Seite ansah.
Kotzkuh verneinte. «Es gibt ein zweites Problem.»
«Ein Ohrring Philomenas ist in Rubis Schmuckladen aufgetaucht», sagte Johannes. «Die werden wissen wollen, ob wir etwas damit zu tun haben.»
Das Paket, dachte Noah. Der Schmuck war in Charles’ verdammtem Paket.
5
Zum Sterben schön. «Norma» von Bellini war zu Ende, Werner Meier hatte zur Aufnahme der Callas den Haushalt erledigt. Sogar die Spülmaschine hatte er bereits wieder ausgeräumt. Nun trocknete er die Gabeln ab, bevor er sie in die Besteckschublade legte. Einmal mit dem Geschirrtuch über die Armaturen. Was jetzt? Wäsche zusammenfalten? Schuhe putzen? Eine neue Oper anhören? Es lohnte sich kaum, es war