Название | Zürcher Filz |
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Автор произведения | Gabriela Kasperski |
Жанр | Языкознание |
Серия | Schnyder & Meier |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783960416678 |
Gabriela Kasperski war als Moderatorin im Radio- und TV-Bereich und als Theaterschauspielerin tätig. Heute lebt sie als Autorin mit ihrer Familie in Zürich und ist Dozentin für Kreatives Schreiben, Figurenentwicklung und Synchronisation.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2020 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: iStockphoto.com/Bim; shutterstock.com/David M. Schrader
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-667-8
Originalausgabe
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Für meine Mutter
Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n –
Weh dem, der keine Heimat hat!
Friedrich Nietzsche
Prolog
Dezember 1983
Das Kind stand wie ein Schatten neben der Säule. Es war ganz weiss, trug ein bodenlanges Mäntelchen und eine Mütze.
«Hallo.» Philos Herz pochte, ihr Atem ging stossweise, sie war gerannt. «Wie heisst du?»
Das Kind blieb vollkommen reglos.
Philo fühlte sich unsicher. Träumte sie? Das Kind sah ein wenig aus wie die Puppe. Die lebensgrosse Porzellanpuppe mit Echthaar, die ihr Papà als Geschenk mitgebracht hatte. Jedes Mal, wenn Philo sie wegschmiss, tauchte sie später wieder auf.
«Hei, lebst du noch? Wenn das ein Scherz sein soll, ist er nicht famos.»
Das Kind bewegte sich.
«Pass auf. Da ist die verbotene Treppe. Die führt in den Abgrund.»
Keine Reaktion auf die Drohung. Philos Augen huschten zur Villa Riesbach. Selbst aus dieser versteckten Ecke des Parks sah sie den Lichtschein, der aus den Flügelfenstern auf die Terrasse fiel. Papà hatte zum Geburtstagsfest geladen.
«Haben dich deine Eltern mitgeschleppt? Und jetzt stinkt es dir? Verstehe ich gut. Da drin sind alles Erwachsene. Öde.» Schritt für Schritt ging Philo auf das Kind zu, das unverändert in ihre Richtung starrte. «Ich bin heute fünfzehn geworden, das weisst du ja sicher. Gleich flitze ich zum Discoraum im Jugendhaus, da feiere ich mit meinen Freunden.» Philo biss sich auf die Lippen. Vielleicht war das Kind ein Spion.
«Nein, natürlich nicht. Ich geh wieder rein.»
Der Himmel riss auf, und der Strahl des Mondes vermischte sich mit dem Licht der Gaslaterne. Philo blinzelte.
«Hei, wo bist du hin?»
Das Kind war weg und Philos Neugier geweckt. Sie fand ihren Weg auch im Dunkeln, rannte durchs Gebüsch zur Rosenpergola und zur verbotenen Treppe, die zu einem winzigen Platz hinabführte. Niemand wusste, dass im Boden eine Falltür versteckt war. Papà hatte Philo bei Todesstrafe verboten, sich da unten aufzuhalten. Die Treppe war leer. Das trockene Laub auf den Stufen war von einer Schicht Schnee bedeckt. Waren das zwei Fussabdrücke oder nur die Pfoten eines Igels?
«Hei, Kind. Hast du Flügel?»
In dem Moment hörte Philo ein Bellen. Es musste der kleine Hund der Spaziergängerin sein. Sie führte ihn gerne im öffentlichen Teil des Parks Gassi.
«Sherlock, Fuss», gellte ihre Stimme.
Philo kicherte. Wie üblich gehorchte der Wuschel der Frau nicht. Philo griff in ihre Fransentasche, die sie von Mama geerbt hatte, und ging zurück auf den Weg.
«Komm, Sherlock, Weihnachtskekse», lockte sie ihn.
Ein Knall liess Philo erstarren. Die Flügeltür war aufgeflogen, klirrend stand der Ton in der Nacht. Nun kam Papà herausgestürmt, gefolgt von einer Dame. Philo versteckte sich hinter dem Stamm des Blutahorns einige Meter von der Terrasse entfernt. War ihr Fluchtweg entdeckt worden? Mit dem Warenaufzug vom dritten Stock runter in den Keller, raus durch das Oberlicht des Gärtnerinnenzimmers. In der Villa Riesbach hausten die Dienstboten im Untergeschoss. Wie in England, die oben, die unten. Philo fand es beschissen. Darum sprach sie kein Wort mehr mit Papà. Dass er ein Fest für sie veranstaltete, war ein fieser Trick. Sie wollte mit ihren Freunden feiern, und das wollte er verhindern.
Er schien jedoch Philo gar nicht zu suchen, seine Aufmerksamkeit lag bei der Dame, die ein Stück von ihm entfernt stand. Sie war kleiner als er, mit ganz hellem Haar. Oder war es grau? Philo kannte sie nicht. Die beiden flüsterten, es sah nach Streit aus. Philo schlich sich so nah heran, dass sie durch die grossen Fenster das Gewimmel der Gäste, den Weihnachtsbaum und das Jesuskind in der Krippe sehen konnte. Nun hob die Dame beide Fäuste, als wollte sie Papà verprügeln. Er wehrte mit dem Ellbogen ab.
«Maud, was soll das?»
«Du schuldest mir das Haus. Es ist meins.»
Ihre Worte schallten durch den Park. Dann holte sie erneut aus. Philo wusste nicht, was tun. Sie hasste ihren Papà zwar, aber diese Dame sollte ihn in Ruhe lassen. Die Küchentür öffnete sich, und Onkel Charles eilte heraus. Als er sich schützend vor Papà stellen wollte, wurde er von einem silbernen Gegenstand getroffen. Onkel Charles krümmte sich und hielt sich das Bein. Die Dame sah beide an, Papà und Onkel Charles. Diesmal verstand Philo nicht, was sie sagte. Es war egal. Ihr Körper sprach von Verachtung und Wut, bevor sie sich umdrehte und über die Vordertreppe und den Gartenweg zum privaten Parkausgang eilte.
Musik ertönte aus dem Haus. «Happy birthday, liebe Philo.» Die Gäste sangen im Chor. Das Zeichen für Papà zum Hineingehen. Er stützte Onkel Charles.
Was war das gewesen? Philo schluckte. Sie sehnte sich nach ihrem Bett im dritten Stock, aber ihre Freunde warteten auf sie, und sie hatte sich auf die heimliche Fete gefreut. An der Hollywoodschaukel vorbei, überquerte Philo die unsichtbare Grenze zur öffentlichen Seite des Parks. Beim schmiedeeisernen Tor angekommen, froren ihre Finger an der Klinke fest. Der Schmerz tat gut. Sie drehte sich um. Durch die Äste der Bäume schimmerte das Gebäude, als ob es von innen heraus pulsierte. Da erblickte Philo das Kind. Wieder stand es im Schatten der Säule auf der Terrasse. In den Armen hielt es einen schlaffen Körper. Er gehörte Sherlock, deutlich konnte Philo den Wuschelkopf erkennen. Es will mich auch töten, dachte Philo. Sie konnte es riechen. Scharf, metallen, schwer.
35 Jahre später
1
Donnerstag, 12. Dezember
«Rubis Vintage», prangte auf dem verzierten Schild des Schmuckgeschäfts. Beanie Barras, jüngste Ermittlerin der Kriminalpolizei Zürich, stoppte abrupt, sprang vom Bike und lehnte es an die Wand. Der Himmel war grau, es war frostig und trocken – ideale Trainingsbedingungen für den Silvesterlauf. Der Stadtzürcher Laufwettbewerb war ein Höhepunkt im Advent und fand nicht an Silvester, sondern am zweitletzten Wochenende vor Weihnachten statt.
Beanie schickte ihrer Laufkollegin Zita Schnyder einen Text. «Sorry. Komme später, circa zwanzig Uhr.»
Wäre die Abklärung im Schmuckladen nicht notfallmässig hereingekommen, hätte Beanie bereits jetzt frei. Sie würde das verlängerte Wochenende brauchen.