Einschnitte. Harald Rosenløw Eeg

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Название Einschnitte
Автор произведения Harald Rosenløw Eeg
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788711441770



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an einem Himmel aus weißer Haut. Kleine Schorfstücke blubberten an der Oberfläche und die Stiche waren Schatten einer Himmelsleiter.

      Ole Henrik saß da, ein Puzzleteil in der Hand. Ich strich mir über die Augenlider.

      „Reib nicht“, sagte Reidar freundlich.

      „Ein Unglück kann jedem zustoßen“, sagte Vater.

      „Dein Bruder, der hat’s im Kopf“, sagte Reidar zu mir.

      Ole Henrik schaute auf das Spiel. Draußen hatte der Mond einen Heiligenschein bekommen.

      „Tausend Teile“, fuhr Reidar fort und wies auf das Puzzlespiel, das an der Wand hing. „Aus Venedig. Ich habe insgesamt zweimal Osterferien und einmal Winterferien gebraucht um es fertig zu kriegen. Venezia“, sagte er feierlich, wie in Schreibschrift.

      „Venedig“, sagte Ole Henrik.

      „Venedig, ja.“ Reidar lächelte. Die Buchstaben hingen immer noch zusammen. „Straßen aus Wasser. Die Brücken. – Wollen wir jetzt den Eiffelturm zusammenpuzzeln. Ihr und ich? Ja?“

      Er schüttelte Ole Henrik und bekam vor lauter Eifer hektische Flecken im ganzen Gesicht. Ich versuchte dort oben um den Mond herum Vater zu entdecken. Aber sein Kopf stieß gegen ein Gewehr, das unter der Decke hing.

      „Eintausendfünfhundert Teile. Ich hab’s hier liegen“, sagte Reidar.

      Reidar und Ole Henrik kippten alle Teile auf den Stubentisch und ich hielt mir die Augen zu.

      „Wir müssen mit etwas anfangen, was relativ einfach ist, mit dem Turm selbst oder den Touristen davor“, erklärte Reidar. „Dann machen wir den Himmel zum Schluss.“

      Er rieb sich die Hände. Ich nahm ein Teil hoch. Es war natürlich weiß. Ole Henrik und Reidar suchten Teile mit dem Turm drauf. Ich betrachtete mein Teilchen vom Himmel. Eines von eintausendfünfhundert. Der Himmel über Frankreich, der Eiffelturm und Softeis. Das Teilchen hatte gleichmäßige, runde Ränder. Gewellt wie eine Qualle. Es war schön zu wissen, dass dieses eine Teilchen mit eintausendvierhundertundneunundneunzig anderen zusammenpasste.

      „Reib dir nicht die Augen“, sagte Reidar zu mir. „Es ist besser, was in den Fingern zu haben.“ Er suchte unter den Teilchen.

      Ole Henrik fand immer neue, die passten. Vater kramte herum. Mutter las eine Frauenzeitschrift aus Vorkriegszeiten. Die Kerzen brannten herunter und ich schlief mit dem Kopf in ihrem Schoß ein, mit Sand im Blick und einem Teilchen in der Hand.

      Am nächsten Morgen gab es den Fernsehgottesdienst. Vater zündete sieben Kerzen nebeneinander an, als die Glocken läuteten. Er trug den Anzug, den er bei allen Gottesdiensten trug. Der Organist legte los. Gefolgt von der Gemeinde. Vater stimmte ein, viel lauter als Reidar. Stufe für Stufe kletterte der Pfarrer auf die Kanzel. Er mühte sich mit dem Gewicht des schwarzen Ornats ab. Als der Gesang verstummte, öffnete er die Bibel. Blätterte in ihr.

      „Es steht geschrieben im zweiten Brief des Paulus an die Korinther. Fünftes Kapitel. Vers vierzehn bis einundzwanzig.“

      Wir standen auf.

      „Denn die Liebe Christi dringet in uns, da wir dafür halten, dass, wenn einer für alle gestorben ist, so sind sie alle gestorben. Und er ist darum für alle gestorben, damit die, die da leben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist.“

      Der junge Pfarrer stotterte stundenlang mit grauer Zunge vor sich hin. Meine Gedanken flogen davon. Ich sah Tausende von Schneeflocken vor mir aus dem Himmel fallen. Ich probierte sie. Alle waren unterschiedlich. Ich dachte an Jesus. Er sah immer so jung aus. Ich überlegte, wie er nur so jung hatte sterben können. Ole Henrik saß da und strich sich über die Narbe an seinem Arm. Ich weiß nicht, ob er dem Pfarrer zuhörte oder wie ich träumte. Er saß mit geschlossenen Augen da und strich sich über den Arm.

      Vater sammelte die Gesangbücher ein und stellte den Fernseher aus. Ole Henrik und Reidar hingen bereits wieder über dem Eiffelturm. Wühlten in den Teilen.

      „Wirklich schön, so eine ganze Familie zu haben“, sagte Reidar. „Ich fühle mich fast wie ein Onkel.“

      „Onkel ist bestimmt in Ordnung“, sagte Ole Henrik.

      Reidar holte einen rotgrünen geflochtenen Weihnachtskorb hervor. Ein wenig angestaubt. Oft benutzt. Aus altem, glänzendem Papier geflochten. Noch blanker als die Seiten in der Bibel.

      „Den hier“, sagte Reidar, „den habe ich von eurer Mutter gekriegt. Vor langer, langer Zeit.“

      Vater verschwand durch die Tür. Ich fasste das glatte Papier an.

      „Das muss aber schon sehr, sehr lange her sein“, sagte ich, denn solches Papier hatte ich noch nie gesehen.

      „Vor eurer Geburt. Lange davor“, sagte Reidar. „Ich kenne eure Mutter ja schon seit unserer Jugend. Sie war schön, oh Mann. Und dieses Weihnachtskörbchen habe ich an einem ersten Sonntag im Advent geschenkt bekommen.“

      Vor den Fenstern fuhr Vater mit dem vertrauten Doppelstockschub vorbei. Im Kirchendieneranzug.

      Der Eiffelturm erhob sich auf dem Tisch. Wir puzzelten um die Wette. Die Teilchen fügten sich fein ineinander. Der Himmel wurde blau gemustert in Paris und schwarz kariert im Gebirge.

      „Paris“, sagte Reidar in leisen, sorgfältigen Schnörkeln. „Paris!“

      Das eine Bein des Eiffelturms, ein wenig Fußweg, eine Wolke und drei Touristen mit Fotoapparat fehlten noch.

      „Paris. Champs-Élysées. Die Stadt der Liebe. Frühling in Paris.“

      Reidar fand einen Wolkenfetzen, fügte ihn ein und setzte sich darauf.

      „Mit seiner Liebsten gemeinsam durch den Triumphbogen gehen. Vom Eiffelturm hinuntergucken.“

      „Und Citroën fahren“, sagte ich.

      „Ja“, sagte Reidar auf seinem Wolkenfetzen am Himmel über Paris. „Mit der Liebsten im Citroën die ganze Champs-Élysées hinauffahren.“

      „Wieso bist du eigentlich nicht verheiratet?“, fragte ich.

      Ein dunkles Teilchen landete in Reidars Gesicht. Er schaute zu Mutter hinüber, als würde er sie viel besser kennen, als wir auch nur ahnten. Sie stand an der Küchenanrichte mit dem Rücken zu uns. Summte eine Melodie vor sich hin. Reidar strich über das glänzende Papier und bekam Wind in die Augen.

      „Lasst uns mal weiterpuzzeln, damit wir fertig werden“, sagte er.

      Es wurde draußen schon fast dunkel, als wir den letzten, oder um genau zu sein, den vorletzten Puzzlestein einfügten. Reidar und ich krochen unter den Tisch. Beide auf allen vieren. Mitten in dem großen Bild war ein kleines, graues Loch. Ein Fetzen der weißen Wolke hinter dem Eiffelturm war weg. Ein Teilchen von eintausendfünfhundert fehlte.

      Reidar suchte unter den Flickenteppichen. Er leerte den Mülleimer. Mutter stand vor der Küchenanrichte, mit herunterhängenden Armen. Wir fanden es nicht. Suchten überall. Kratzten mit den Nägeln über die Bodendielen, pusteten alten Staub unter den Kommoden auf, zählten die Seiten aller Bücher. Mutter hatte fertig gepackt und Vater hatte die restlichen Vorräte hinausgetragen. Er saß mit den Zehen am Ofen.

      „Wir müssen wohl langsam los“, sagte Mutter. „Die Jungs müssen morgen zur Schule.“

      Die Hütte badete in weißem Licht aus einem Himmel, der die Sonne aus seinem Griff verlor, sie war hinter eine Bergspitze gerutscht.

      „Ich habe es gefunden!“, rief Reidar schließlich. Er stand mitten in der Stube. Sah eigentlich gar nicht froh aus. Seine Locken hingen wie verbrannte Kartoffelringe herunter. Die Bartstoppeln in seinem Gesicht sahen aus wie Zeichenstifte.

      Ole Henrik stand irgendwo zwischen Reidar und Paris. Vater ging vom Ofen weg. Ich sah einen Schatten von Schnee auf seinem Kopf. Reidar hielt einen Skistiefel in der Hand. Frisch geputzt, mit roten Streifen. Altes Modell. Es war Vaters Skistiefel. In der anderen