Einschnitte. Harald Rosenløw Eeg

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Название Einschnitte
Автор произведения Harald Rosenløw Eeg
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788711441770



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noch mal, wie kann man nur so viel bluten!“ Roger fluchte wieder.

      „Was sollen wir sagen?“, fragte Jarle. Er war auf die ganze Sache mit der Blutsbrüderschaft gekommen, und dass danach nichts mehr wie vorher sein würde, dass wir dann sogar stärker miteinander verbunden wären als normale Brüder.

      „Okay“, sagte Roger. „Wir müssen alle die gleiche Geschichte parat haben. Können wir nicht behaupten, er hätte leider ganz fest in die Schokolade gebissen, dabei die Zunge zwischen die Zähne bekommen und sich deshalb mit der Glasscherbe am Arm verletzt?“

      „Was sollen wir nur sagen?“, jammerte Jarle. Er wohnte am nächsten und ihm war klar, dass er es war, der Hilfe holen musste.

      „’n anderer Vorschlag?“, fragte Roger. Ich hörte, dass Arnor immer noch spuckte. „Okay“, fuhr Roger fort, „er ist gestolpert, als er dein Taschenmesser in der Hand hatte, Jarle. Er wollte es auf keinen Fall im Schnee verlieren und hat versucht es festzuhalten. Dabei hat er sich mit dem Messer in den Arm geschnitten.“

      Totenstille.

      „Hast du gehört?“, fragte Jarle Ole Henrik. Ole Henrik starrte Jarle an.

      „Kein besserer Vorschlag?“, fragte Roger.

      „Ob die das schlucken?“ Arnor zweifelte.

      Jarle war bereits auf dem Weg zum Haus hinunter.

      Sie schluckten es. Jarles Vater, Hausmeister bei der Volksbibliothek, wickelte ein Handtuch um Ole Henriks Arm und presste eins auf seinen Mund. Er setzte sich sofort ins Auto und fuhr ihn zum Notarzt. Von dort rief er Vater und Mutter an.

      Mutter umklammerte den Blumenstrauß, den sie für Ole Henrik gekauft hatte. Tränen, groß wie Dornen, rannen ihr über die Wangen. Vater setzte die ganze Zeit seine große, viereckige Brille auf und ab. Er putzte immer wieder die Gläser und sprach leise mit Mutter. Lächelte mir zu. Das kann jedem passieren, meinte er. Ein Unglück ist nun mal ein Unglück.

      Und es hatte schlimmer ausgesehen, als es war. Ole Henrik bekam eine Naht mit fünf Stichen in den Arm, seine Zunge wuchs von allein wieder zu. Er hatte eine ganze Menge Blut verloren und musste die Nacht über im Krankenhaus bleiben. Aber ich konnte mir den Blick einfach nicht erklären, den Ole Henrik mir in der Eishockeybude zugeworfen hatte. Ich wusste nur, dass mehr darin war als die Angst vor fünf Stichen. Dass etwas darin war, das niemand von uns verstand. In mir kroch langsam die kalte Gewissheit hoch, dass wir nie Blutsbrüder werden würden.

      So fing es an. Ole Henrik ließ die Glasscherbe nie wieder los.

      2. Kapitel

      Am nächsten Tag ging Mutter noch vor dem Gottesdienst zu Ole Henrik ins Krankenhaus. Und wie immer an diesen Sonntagen, an denen Vater Kirchendiener war, ging ich mit ihm eine Stunde früher als sonst in die Kirche.

      „So“, sagte Vater.

      Der Schnee begann zu schmelzen. Der Winter war eigentlich schon lange vorbei, das Eis auf dem Hockeyfeld weich und unzuverlässig. Der Schnee wurde gröber, sah eher aus wie Zucker. Ruß und Dreck formten gesprenkelte Muster auf dem Weiß. Die Sonntagsstiefel blieben stecken und an mehreren Stellen auf der Straße konnte man schon einen Flecken Asphalt sehen.

      Ein Streichholz fiel zu Boden. Das Echo legte sich schwer auf meine Ohren. Das Echo in der Kirche. Ich schaute über die Stuhlreihen. Das Streichholz war ein schlaksiger Neger, der sich seinen dünnen, rabenschwarzen Nacken auf dem Steinfußboden gebrochen hatte. Der Kopf rollte fort. Vater sammelte den knochigen, toten Körper auf.

      „So“, sagte er wieder. „So kannst du alle Kerzen mit einem einzigen Streichholz anzünden.“

      Sieben Arme hielten jeweils eine Kerze. Zusammengebunden an den Ellbogen. Vater schlug die Bibel in der Mitte auf und ging um den Altar herum.

      „Es hat eine Weile gedauert, bis ich das gelernt hatte“, sagte er. Setzte sich in die vorderste Stuhlreihe, der lange Körper sank zu mir herab. Er lehnte sich zurück. „Dazu war ziemlich viel Übung nötig.“

      Er streckte mir zwei schrumplige Finger ins Gesicht.

      „Siehst du?“, fragte er. Seine Brille rutschte auf der Nase.

      Ich schaute seine Finger an. Die Nägel. Die Gelenke. „Narben“, sagte er. Ich wartete darauf, dass seine Brille weiter hinunterrutschte. Sah zwei kleine Spuren an seinen Fingerspitzen.

      „Narben erzählen eine ganze Menge“, sagte er ernsthaft. „Alle Narben haben eine Geschichte. Siehst du meine?“

      Ich nickte. Er betrachtete seine Finger.

      „Das Streichholz war immer heruntergebrannt, bevor ich alle Kerzen angezündet hatte. Aber ich gab nicht auf. Oft schaffte ich es fast. Aber nur fast – das Streichholz brannte nach der sechsten Kerze ab und ich verbrannte mir die Fingerspitzen. Alles eine Frage der Technik. Der Kontrolle. Der richtigen Bewegungen.“

      Er zündete in der Luft eine Kerze an mit Gesten wie ein mittelmäßiger Zauberer.

      „Ich habe es einmal mit längeren Streichhölzern versucht. Mit einer anderen Sorte. Mit blauen Köpfen. Aber das war nicht erlaubt. Vater, also dein Großvater, hat mich getadelt. Nur die gewöhnlichen Nittedals-Hjelpe-Streichhölzer zählten.“

      Er legte eine Streichholzschachtel zwischen uns. Eine ganz gewöhnliche Streichholzschachtel mit einem großen, dunklen Baum vor einem Sonnenuntergang darauf.

      „Erst vor kurzer Zeit habe ich die Narben entdeckt. Ich habe mich ja damals oft verbrannt, habe aber nie darüber nachgedacht – bis vor kurzem, als ich mir morgens die Nägel schnitt. Die Narben waren immer da, aber ich habe sie nicht gesehen.“

      „Hast du noch mehr Narben?“, fragte ich.

      Er überlegte eine Weile.

      „Nicht, dass ich wüsste“, antwortete er.

      „Waren Großvater und du so wie wir jetzt in der Kirche?“, fragte ich.

      „Ja, weißt du, ich hatte ja nur Schwestern, die sind dann mit meiner Mutter, mit Großmutter, gekommen, wenn der Gottesdienst anfing.“

      „Und was ist mit Blutsbrüdern?“, fragte ich.

      „Was?“, hakte Vater nach, das Gesicht auf eine Wand gerichtet.

      „Ach, nichts“, sagte ich.

      Vater lächelte und hängte einige Schildchen mit Zahlen untereinander an kleine Nägel in der gemauerten Wand. Große Schildchen für die Liednummern und kleine für die Strophen. Er verteilte die Gesangbücher und zündete die übrigen Kerzen an, lächelte freundlich und ordnete alles.

      „Ole Henrik hat reichlich geblutet“, sagte ich leise.

      Vater stapelte ein paar Stühle.

      „Die sind unglaublich tüchtig in solchen Krankenhäusern“, sagte Vater. Er war zu spät gekommen, hatte all das Blut nicht gesehen. „Dein Bruder ist ein zäher Bursche. Er schafft es immer.“

      Vater blieb stehen und schaute mich durch die dicken Brillengläser an.

      „Das muss ziemlich wehgetan haben“, sagte ich und dachte an den glänzenden Blick, den Ole Henrik mir zugeworfen hatte. Ich sah den hölzernen Jesus an ein Kreuz genagelt über dem Altar hängen. Die Arme zur Seite ausgestreckt. Blut an den Händen. Die Dornenkrone wie ein gezacktes Stirnband um den Kopf. Schwarze Haare im Gesicht.

      „Ein Unglück kann jedem zustoßen“, sagte Vater.

      Ich hielt mich an den geflochtenen Kirchenstühlen fest. Die Stühle knarrten, wenn man sich bewegte. Langsam kamen die Leute herein. Mutter schlich sich zu mir heran und erzählte, dass Ole Henrik noch erschöpft, aber in guter Verfassung sei. Sie trug diesen riesigen Schal mit großen, grünen Blumen. Setzte sich weit hinten hin. Alles knarrte. Das Altersheim war geleert worden und die Kirche raffte das Leben an sich. Wir, die zur christlichen Sonntagsschule gehen sollten, wippten die Minuten, die wir beim Gottesdienst