Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!. Andrea Charlotte Berwing

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Название Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!
Автор произведения Andrea Charlotte Berwing
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783969530061



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getrennt. Oder nein, umgekehrt. Das Häuschen ist mit einem Steg zum See mit ihm verbunden. Mit dem Wasser. O Mann, Klasse! In Berlin waren der Tag und die Woche wolkenverhangen, doch hier scheint die Sonne. Schnell räumen die Frauen den Kühlschrank ein und bereiten den Grill im Garten vor, stellen die Stühle und den Holztisch raus, der Sekt kommt kurz in den Tiefkühler, dann beginnt der angenehmste Teil. Nacheinander springen sie in das kühle Nass. Baden und danach auf dem Steg Sekt trinken, die Beine im Wasser baumeln lassen. Welch überwältigender Luxus.

      „Schön hier in Türkiye!“

      Henriette grinst. Die Frauen lachen. Spät in der Nacht kuschelt sich Henriette, und ohne sich streiten zu müssen, seit Langem ruhig und friedlich in das schmale Bett in einem kleinen Zimmer neben der Eingangstür. Sie ist froh, so weit weg von Tomas, Berlin und den Vampirkindern zu sein. Frieden. Gnade. Frieden.

      „Mehr brauch ich nicht!“, murmelt sie in den dunklen Raum hinein.

      Lea träumt sie liegt unter dem Sternenhimmel in der Wüste. Leise nimmt sie Musik wahr, die immer aufdringlicher in ihren Ohren wird. Sie sieht Menschen, wie sie mit Champagnergläsern sich gegenseitig zuprosten und unterhalten. Mit einem Mal lösen sie sich aus den Gruppen, um zum aufbereiteten Buffet zu laufen und kleine Häppchen mit Lachs und Schinken in ihre Münder zu stopfen. Ab und zu platscht es, einen Swimmingpool kann sie hinter dem Haus ausmachen. Sie fühlt sich wie in einem Zeitraffer, die Bilder laufen vor ihrem inneren Auge immer schneller ab, bis sie sich selbst inmitten der Menschen wiederfindet. Sie läuft die Treppen zum Haus hoch und begibt sich durch den Flur hindurch in eines der dortigen Zimmer. Vor einem großen Buffet bleibt Lea stehen und nimmt ein plüschiges rundes Ding aus einem der vielen Regale. Es ist blau. Plötzlich fliegt der Plüschbatzen vor das Haus auf den Rasen. Die Menschen dort sind plötzlich verschwunden. Dann wächst langsam ein großer Elefant aus dem runden Ball.

      Als sie erwacht, hat sie noch die Bilder des großen Festes im Kopf. Die Vorstellung eines Elefanten als Freund und Beschützer machen ihr ein wohliges Gefühl im Bauch und auch im Kopf. Dann greift sie zum Telefon.

      „Hier ist Cosma. Ich komm heute nicht.“

      Sie legt auf. Sodann kramt sie im Stapel ungeöffneter Briefe, nimmt sich einen Stift und schreibt:

      „Sehr geehrte Damen und Herren der Hausverwaltung. Ab April werde ich die Miete in voller Höhe überweisen. Jeden Monat. Die Mietrückstände werde ich in 14-tägigen Raten in Höhe von 200,- Euro überweisen, bis sie getilgt sind. Aufgrund von Krankheit sind die Zahlungen in Rückstand geraten; ich hoffe auf ihr Verständnis.“ Dann unterschreibt Lea mit dem Namen von Iris. Die Flucht nach vorn. Wenn ich ehrlich bin, flieg ich raus. Das geht nicht. Ich brauch jetzt erstmal Frieden. Sodann brüht sie sich einen Kaffee, reißt das Fenster auf und atmet tief durch. Der Brief liegt jetzt adressiert an die Hausverwaltung auf der Kommode. Schnell springt sie unter die Dusche, sie hat den Drive, den Mut. Wenn, dann jetzt, das kommt nie wieder. Jeans, Shirt, Stiefeletten sind schnell angezogen. Fast panikartig. Bevor die drohende Lähmung wieder eintritt. Dann nimmt sie das Geld für die Post aus der obersten rechten Schublade. Dort hatte es auch Iris immer hingelegt. Das Bargeld für die Woche. Und ab zur Post. Mit dem Brief in der Hand läuft sie die Straße zwischen Kindern und Müttern mit Kopftüchern entlang, immer irgendjemandem ausweichend. Irgendwann zieh ich hier weg, irgendwann. Mehr traut sie sich nicht zu denken. Ein Schritt, ein Brief nach dem anderen. Wenn sie nach Hause kommt, wird sie die Wohnung putzen. Die Fenster zuerst, dann den Boden wischen, Betten beziehen, auch das von Bernd. Ganz so, als wären alle noch da. Staubsaugen. Sie braucht sie jetzt. Bernd und Iris sind noch da. Bernadette und Kleopatra auch. Alle vereint in der Neuköllner Wohnung. Alle.

      Noch ein Traum. Lea kämpft mit einem Samurai. Sie kämpfen sich durch viele große Räume. Lea ist wütend, groß und stark. Sie bewegt ihr Schwert, wie eine geübte Kriegerin, die in all ihren Reinkarnationen nichts anderes war. Der Samurai, der auch in früheren Reinkarnationen immer Krieger war, kommt gegen sie nicht an. Auf einmal hält er inne und setzt sich vor sie hin. Lea schaut ihn überrascht an.

      „Wofür kämpfst du überhaupt, es sind doch alle schon tot“, sagt er mit intensiver Bassstimme.

      „Nein, sind sie nicht!“

      Lea wird wütend und holt zum nächsten Schlag aus. Da schaut der Mann oben an die Decke. Lea folgt seinem Blick und erstarrt. Da hängen viele Menschen oben an der Decke, die sie kennt. Menschen aus Bilma, viele Menschen. Auch ein Kind. Die Köpfe hängen an einem Strick, die Augen offen und leer. Nur die Großmutter nicht. Schließlich erwacht Lea. Sie weiß nun genau, es waren nicht die Schlangen. Es waren nicht die Schlangen. Dieser Mann muss sie umgebracht haben. Dann sinkt ihr Kopf zur Seite. Sie weint. Und weint. Und es sind dabei auch die vielen nicht mehr geweinten Tränen der Großmutter. Sie glitzern auf dem Stoff der Bettdecke von Iris und Bernd. Wie neue schöne Träume. Vielleicht wie die verzagten Gedanken an ein neues schönes Leben. Mit Bernadette und Kleopatra. Iris und Bernd. Nana und dem Tuareg, ihrem Vater. Schönheit vergeht nicht. Sie wird erst mal mit allen zusammen hier wohnen, in Berlin-Neukölln. Dann wird ihr nach langer Zeit endlich wieder warm. Sie geht in das Bad und stellt sich vor den Spiegel, betrachtet ihre dunklen Augen, neigt ihr Gesicht ein wenig zur Seite, das Licht fällt seitlich ein, jetzt schimmern ihre Augen grün.

      Mit kleinen gelben Sprenkeln darin. Wie die Wüste. Wie Kleopatra.

      „Hier, ich habe etwas für Herrn Hochsommer abzugeben.“

      Der Postbote vor dem Gartenzaun wedelt mit einem Päckchen.

      „Aha“, Henriette sitzt als Einzige schon mit einem aufgebrühten Kaffee am kleinen runden Tisch in der Sonne.

      Schnell hängt sie sich ihr Tuch über die Schultern und läuft zum Tor.

      „Ich bin seine Tochter, danke schön.“ So nimmt sie das Päckchen entgegen.

      Jetzt Babett zu rufen und die schöne Ruhe zu stören, da nimmt sie schon lieber einen falschen Namen an. Fängt an Spaß zu machen. Warum kompliziert, wenn’s einfach geht. Henriette unterschreibt mit Sommer, nur eine halbe Lüge. Beschwingt läuft sie in die Küche und legt das Päckchen auf den Tisch, da brummt es. Ihr Handy. Grün blinkt das kleine Nachrichtenfeld auf. Dann tippt sie.

      „A H A“.

      Na klar, alles klar, ihr Herz beginnt böse zu schlagen. Erst mein Leben voll in Beschlag nehmen und alles bestimmen wollen und jetzt bei meiner Mutter feiern gehen. Klar. Wo sonst. Keine eigenen Freunde? Keine eigene Familie? Arschloch. Und umgekehrt? Nur Feindseligkeiten, seitens seiner Familie aus dem goldenen Westen; ist auch nicht alles Gold, was dort glänzt. Nur Vorurteile, weil ich im Osten geboren bin. Die Attacken der Schwiegermutter sind im Gedächtnis verblieben, auch die abschätzenden Blicke und ihre sich ständig verziehenden Mundwinkel, wenn sie miteinander redeten. Und ihr Sohn? Henriettes Gedächtnis ist wie das eines Elefanten, der sich noch nach Jahren seiner Peiniger erinnert. Ihn, ihren stillen Mann hat sie auch nicht vergessen, wahrscheinlich denkt er genauso wie seine Mutter, sonst würde er sich ja auch mal einmischen und sich für sie einsetzen, oder? Es gibt doch gar keinen Grund dafür, dass sich die Wessis über die Ossis stellten. Was soll das? Haben sie vergessen, dass die Ossis den Krieg bezahlt haben, jedenfalls den größten Teil. Die Russen haben alles abgebaut, jede Schiene, jede Maschine. Jede Schraube, die noch was halten konnte, haben die bekommen. Abgezahlt. Bezahlt. Ende der Diskussion.

      Aber dann heute bei meiner Ossimutter seinen Geburtstag feiern, die feine Gesellschaft, Herr Kaminsky. O Mann, bin ich sauer.

      Ich denke, bei mir ist alles so schrecklich. So tut er jedenfalls immer, mein Mann.

      Bei meiner Mutter. Bei meiner Mutter. Bei meiner Mutter. Dann nimmt sie sich eine Zigarette. Am frühen Morgen. Am frühen Morgen? Nee, dazu bekommt der mich nicht. Sie legt die Zigarette zurück. Nur Luxusrauchen, nur mit Wein oder Champagner. Nicht aus Ärger, ganz wichtig, denkt Henriette. Kleine wichtige Lebensbestandteile. Grundlagen, um nicht zu schnell alt und hässlich zu werden. Komisch, dass man sich darum Gedanken macht, wenn man am schönsten aussieht.

      Modeschau,