Tollkirschen und Brombeereis. Franziska Dalinger

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Название Tollkirschen und Brombeereis
Автор произведения Franziska Dalinger
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783862567430



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was »im Sterben liegen« bedeutet.

      »Ist es Krebs?«, taste ich mich behutsam voran. »Wenn du nicht darüber reden willst ... Ist schon okay, wirklich.«

      »Wer hat dir gesagt, dass ich Krebs habe?«, fragt Tom.

      »Mandy hat es angedeutet.« Ängstlich betrachte ich sein Gesicht, suche nach Anzeichen für die Krankheit. Seine Haare hat er noch, alle Wimpern sind an Ort und Stelle. Nach einer Chemotherapie sieht er nicht aus. Aber was hat er dann?

      »Komm erst mal rein.« Tom zieht mich ins Haus. Von seiner Mutter keine Spur.

      »Ist sonst niemand da? Muss sich nicht jemand um dich kümmern?«

      Tom zögert kurz. »Ich bin lieber allein, wenn ich mich nicht gut fühle.«

      »Ich kann auch gehen«, sage ich schnell, aber er legt den Arm um meine Schultern und führt mich hoch in seine Dachwohnung. Tom hat das gesamte Obergeschoss nur für sich. Das Bett ist nicht gemacht, es herrscht ein recht großes Durcheinander, aber ich entdecke nichts von dem, was ich erwartet habe: kein Tropf, keine Stapel von Laken und Tüchern, Flaschen und Tablettenschachteln.

      »Bist du wirklich krank?«, entfährt es mir.

      Tom braucht wieder eine Weile, um zu antworten. »Du bist hier, weil du gehört hast, dass es mir schlecht geht«, sagt er. »Das ist ... oh Messie, ich bin total gerührt. Obwohl ich ja eigentlich nicht wollte, dass jemand davon erfährt. Ich kann es nicht ertragen, wenn alle mich anstarren. Wenn jeder, der mich sieht, nur einen Gedanken hat: dass ich ... dass meine Zeit bald zu Ende geht.«

      Er wendet sich mir zu, bemerkt, dass ich sein Zimmer inspiziere, lächelt traurig. »Ich kann es nicht ertragen, wenn alles nach Krankheit riecht«, flüstert er. »Desinfektionsmittel, Arzneien ... das ist wie der Hauch des Todes. Normalität, verstehst du? Ich will bloß Normalität.«

      Oh, das verstehe ich nur zu gut. Vielleicht bin ich sogar die Einzige in der ganzen Stadt, die genau weiß, wovon er redet.

      »Ja«, flüstere ich.

      Erneut schlingt er die Arme um mich. Beinahe habe ich vergessen, wie gut sich das anfühlt. Tom fühlt sich gut an. »Es ist ... ich spreche nicht gern darüber«, murmelt er in mein Haar. »Es ist nicht operabel, die Ärzte kommen nicht dran. Sie haben mich wieder nach Hause geschickt.«

      »Ein Tumor?« In meiner kleinen Seifenblasenwelt tauchen immer größere und schrecklichere Ängste auf. Bis jetzt konnte ich hoffen, dass Mandy sich geirrt hat.

      Er küsst mich auf die Schläfe, erwischt halb mein tränennasses Auge, lacht. Dann verändert sich seine Stimme, bemüht sich um die Normalität, die er so schrecklich ersehnt.

      »Möchtest du was trinken? Ist ziemlich stickig hier drin. Wir können auch rausgehen.«

      Wird dir das nicht zu viel, will ich fragen, schlucke die Worte noch rechtzeitig runter. Genau das möchte er ja nicht. Dass man ihn ununterbrochen bemitleidet und umsorgt und ihn ständig fragt, wie es ihm geht und was er gerade braucht.

      »Ist gut«, sage ich gespielt munter, während es mir das Herz zerreißt.

      Die vielen Stufen wieder hinunterzusteigen, fällt ihm sichtlich schwer, aber ich sage kein Wort und biete ihm nicht an, ihm zu helfen. Wir treten in den Garten hinaus, scheuchen eine übelgelaunte Katze von der Liege, machen es uns bequem. Den ganzen Nachmittag liegen wir nebeneinander in der Sonne, teilen uns einen iPod – jeder einen Stöpsel im Ohr – und hören Musik.

      Später, als die Schatten länger werden und die Luft kühler, bietet er an, mich mit dem Auto nach Hause zu bringen.

      Ich erschrecke. Immer, wenn er mich mitnehmen will, ist er betrunken oder ich bin durchnässt oder sonst etwas stimmt nicht. Ich bin es nicht gewöhnt, dass es klappt, wir beide in einem Wagen, und dass dabei nicht irgendetwas passiert.

      »Kannst du denn fahren?«

      »Du meinst, in meinem Zustand?« Er lächelt und wirkt plötzlich ein, zwei Jahre jünger. Wir haben zu lange in der Sonne gelegen, nun spüre ich, dass meine Haut brennt, und sehe einen rötlichen Schimmer auf seinem Nasenrücken und seiner Stirn. »Keine Sorge. Ich habe bloß manchmal, ähm, Ausfälle.«

      »Ausfälle?«

      Er räuspert sich, scheint zu überlegen, wie viel er mir anvertrauen will. »Blindheit zum Beispiel. Gleichgewichtsstörungen. Kopfschmerzen.«

      Entsetzt starre ich ihn an, doch Tom lächelt bloß, beugt sich vor und küsst mich auf den Mund. Es ist ein ganz kurzer und leichter Kuss, zart wie ein Streicheln. »Keine Sorge«, sagte er. »Das kündigt sich vorher immer an. Die Fahrt bis zu euch kriege ich wohl noch hin.«

      »Aber …«

      »Keine Widerrede«, sagt Tom und grinst, und ich lächle zurück.

      Blindheit, denke ich. Stürze. Schmerzen.

      Ich halte seine Hand, so fest es nur geht.

      »Er hat dich nach Hause gebracht«, sagt Tabita am Abend, als ich zu ihr ins Bett schlüpfe, in die Geborgenheit ihrer Nähe, ihrer Lampe, ihrer Geschichten. »Tom.«

      »Mmh.« Ich kuschle mich in ihre Decke. »Kann schon sein.«

      »Bist du nun ganz verrückt geworden?«, fragt sie. »Ich dachte, du liebst Daniel. Was denn jetzt?«

      »Ich hab ihn bloß besucht«, verteidige ich mich. »Ich bin nicht mit ihm zusammen. Außerdem …« Nein, ich will nicht weinen. Nicht jetzt, nicht in Tabitas Kissen. Ich will auch nicht darüber reden, dass Tom krank ist, dass ihm nur wenig Zeit bleibt. Aber dann tue ich es doch.

      »Ist ja krass«, flüstert sie.

      Dann liest sie mir wieder vor. Von Eliza, die zusammen mit dem Piraten und verarmten Grafen Mortimer durch die Dunkelheit flieht, hinter sich eine Bande übler Mordgesellen.

      Alle finden, dass ich schon wesentlich besser aussehe. Papa klopft mir auf die Schulter, meine Mutter lächelt verstohlen. Dabei habe ich mich nur hübsch gemacht, um mit Tom auszugehen.

      Außer Tabita weiß niemand, wie es um ihn steht. Ich habe ihm versprechen müssen, mit keiner Menschenseele darüber zu reden, denn er will nicht, dass die Leute ihn anstarren und bloß seine Krankheit sehen. Nicht einmal Tine und Bastian gegenüber habe ich es erwähnt. Woher Mandy es erfahren hat, weiß ich immer noch nicht. Ob sie doch noch Kontakt zu Tom hat? Schließlich war sie mal mit ihm zusammen.

      »Siehst du Mandy manchmal noch?«, taste ich mich vorsichtig vor, als Tom seinen Wagen vor dem Restaurant parkt.

      »Mandy.« Immer, wenn er sie erwähnt, hat seine Stimme etwas Bitteres. »Mandy ist das egoistischste Weibsstück, das ich kenne.«

      »Aber sie ist auch das schönste Mädchen an der ganzen Schule. Jungs sind Augenmenschen.«

      »Ich bin nicht wie die meisten Jungs«, sagt Tom. Er lacht leise. »Ein gewisses Maß an Charakterlosigkeit kann ein perfekter Körper durchaus ausgleichen, aber irgendwo ist Schluss. Du dagegen …« Er schenkt mir ein warmes Lächeln.

      »Vielleicht bin ich ja auch ein bisschen charakterlos«, sage ich.

      »Bestimmt nicht«, flüstert er und beugt sich vor und küsst mich, so wie beim letzten Mal, ganz vorsichtig und zärtlich, als sei ich die Kranke und nicht er.

      Es ist Zeit, dass ich Daniel vergesse, der nichts von mir wissen will. Auf einmal sehne ich mich danach, wieder lebendig zu sein. Meine Seifenblase platzen zu lassen und wieder zu spüren, alles zu spüren, das Leben, meine Gefühle, die Sonne, die Hand eines Jungen in meiner.

      Einen Moment lang vergesse ich, dass er sterben wird.

      Heute sind wir beide lebendig.

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