Chirurginnen. Volker Klimpel

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Название Chirurginnen
Автор произведения Volker Klimpel
Жанр Медицина
Серия
Издательство Медицина
Год выпуска 0
isbn 9783942825887



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von dem Pioniergeist und der Kraft nahegebracht werden, mit dem die Frauen in Vergangenheit und Gegenwart ihr Ziel verfolgt haben, es in der operativen Krankenbehandlung den Männern gleichzutun. Im Überwinden von Widerständen haben sie es mit ihren männlichen Kollegen nicht nur aufgenommen, sondern diese in vielen Fällen sogar übertroffen. Immer in der Minderheit, geben die Chirurginnen, die hier pars pro toto stehen, Beispiele für die mühevolle und an Auseinandersetzungen reiche, letztlich erfolgreiche Durchsetzung ihres Berufsbildes (S. 9–12 [60]).

      Der Verfasser ist in seiner chirurgischen Vergangenheit selbst einigen Chirurginnen begegnet, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben, sowohl in der sogenannten großen klinischen Chirurgie einschließlich der aufkommenden Spezialgebiete als auch im ambulanten Sektor. Überall haben sie „ihren Mann“ gestanden und Tag und Nacht Beachtliches geleistet, manche auch noch Zeit für wissenschaftliche Arbeit gefunden, unabhängig davon, ob sie Familie und Kinder hatten oder nicht. Und mehrheitlich war – in den 1960er bis 1980er Jahren in der DDR – im Klinik- und Poliklinikbereich keine Form irgendeiner Diskriminierung spürbar, jedenfalls nicht im Arbeitsbereich des Autors. Das mag längst nicht überall so gewesen sein; einige Protagonistinnen wissen Gegenteiliges zu berichten, bis in die Gegenwart hinein. Wenn schon keine Frau, keine Chirurgin, dieses Buch schreibt, so kommen sie im Kapitel Heute mehrfach zu Wort.

      Vorgestern

      Beginnen wir mit dem aus der Antike stammenden Symbolzeichen für die Frau. Es ist das Pallas-Zeichen und steht für Pallas Athene, die Göttin der Klugheit und Beschützerin der ärztlichen Kunst. Aber es steht auch für Feuer und Schwefel, für die Kampfeskunst und Kampfeslust … Die Vorstellung, die Frauen seien „das schwache Geschlecht“ und zu nichts anderem zu gebrauchen, als Beeren zu sammeln, zu kochen und Kinder zu gebären, ist im wahrsten Sinne des Wortes steinzeitlich – und falsch. Wann genau in der tiefen dunklen Vergangenheit die des Sammelns, Jagens, Holzfällens und Nähens kundigen Frauen sich um die schwangeren und gebärenden Geschlechts­genossinnen oder um die Jagdverletzungen der Männer kümmerten, wissen wir nicht. Erst mit der Erforschung der alten Kulturen, sei es im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris oder sei es in jener Epoche, die wir landläufig als Antike bezeichnen, sind Dokumente und Sachzeugnisse über Ärztinnen überliefert. Dank archäologischer Forschungen wissen wir einiges über die Ärztinnen der Antike im weitesten Sinne und die Ausübung ihres Berufes. Bodenfunde, Grabreliefs und vor allem Grabbeigaben belegen das Wirken früher Ärztinnen, Zahnärztinnen, Chirurginnen und Hebammen. Sie machen diese als Personen fassbar und namhaft.

      Zeichen der Pallas Athene, später in runder Form Symbol der Weiblichkeit.

      Die ältesten Zeugnisse für Frauen im Arztberuf gehen auf das 4. Jahrhundert vor Christi Geburt zurück. Auf einem Grabrelief in dem kleinen Ort Menidi in Attika finden sich, etwa zur Zeit Alexander des Großen (356–323 v. Chr.), Name und Darstellung der Ärztin und Hebamme Phanostrate, umgeben von Kindern [74]. Um 100 v. Chr. besitzen die heilkundigen Frauen ihre eigene Berufsbezeichnung: iatriné, Ärztin (im Gegensatz zum männlichen iatrós, dem Arzt). Ein anderes Grabrelief ungefähr aus der gleichen Zeit zeigt die Ärztin Mousa mit einer Buchrolle in der Hand, ein Hinweis darauf, dass sie ihr Wissen durch Studium erworben hat [68]. Sogar eine römische Kaiserin soll Ärztin gewesen sein: Livia Drusill (58 v. Chr.–29 n. Chr.). Töchter von Ärzten und selbst Ärztinnen waren ferner Pantheia aus Pergamon und Antiochis von Tlos. Letztere wird noch Jahrhunderte später von Galen (130–210 n. Chr.) erwähnt (S. 197 [68]). „Chirurginnen gab es bei den Römern schon im 1. Jahrhundert [unserer Zeitrechnung]“, so der Archäologe Ernst Künzl (*1939) in einer seiner zahlreichen Arbeiten zum Thema [73]. Rasiermesser, Skalpelle, Sonden, Zangen, Nadeln, Schröpfköpfe, Löffel, Salbenplatten und anderes mehr, meistens aus Frauengräbern, legen Zeugnis ab von vielfältigen chirurgischen und geburtshilflichen therapeutischen Aktivitäten. Eine bescheidene Terrakotta-Grabplatte bildet die Hebamme Scribonia Attice (2. Jhdt. n. Chr.) bei ihrer Tätigkeit am Gebärstuhl ab. Rom wird zum Zentrum der Chirurgie in der Antike. Hier arbeiten Frauen in Praxen und Operationssälen mit Skalpell, Nadel und anderen Instrumenten [76].

      Die Medizinschule von Salerno aus einer Abschrift des Canon medicinae des Avicenna

      Aber auch außerhalb Roms, wenngleich unter dem Einfluss des Reiches stehend, sind Spuren der Chirurgie aus weiblicher Hand nachzuweisen: Im Grab einer Südspanierin zur Zeit vor Christi Geburt, in einem Grab in Strée/Belgien um 100 n. Chr., aus dem Hunsrück, aus Heidelberg-Neuenheim und Bernkastel-Wittlich, ebenfalls 1. Jahrhundert n. Chr. sowie aus Metz. Namen tauchen auf wie die der Ärztinnen Julia Sabina (Ancona, 2. Jhdt. n. Chr.), Asyllia Polla (Karthago) oder Metilia Donata (Lyon, 2. Jhdt. n. Chr.). Grab­inschriften deuten auf chirurgische Gemeinschaftspraxen von Mann und Frau im alten Rom hin [75]. In Deutschland waren die auch auf heilkundlichem Gebiet tätigen Roswitha von Gandersheim (935–1002) und Hildegard von Bingen (1098–1179) mitnichten Chirurginnen. Unlängst wurde bei Ausgrabungen in Südjütland ein Frauengrab mit einer Trepansäge gefunden, was eine chirurgische Tätigkeit dieser Frau nahe legt – vor 1800 Jahren in der Eisenzeit! [CHAZ 20: 272 (2019)].

      Grabrelief der Ärztin Mousa aus Byzanz (um 100 v. Chr.).

      Grabrelief einer Ärztin aus Metz (1.–2. Jhdt. n. Chr.).

      Einem Quantensprung gleich etablierte sich im 10. Jahrhundert mit der Schule von Salerno die wissenschaftliche Ausbildung von Ärztinnen – „Mulieres Salernitanae“ (S. 87–88 [88]). Männer und Frauen wurden gemeinsam unterrichtet. Viele Nachrichten sind legendär. Namhaft gemacht werden konnten die Ärztinnen Sigelgaita, Rebecca Guarna, Abella, Mercurias, Francesca Romana, Constanza Calenda, Dorothea Bocci und Trotula, die bekannteste von ihnen [71].

      Magistra Hersend, auch „die Ärztin“ genannt, war eine französische Chir­urgin, die König Ludwig IX. von Frankreich (1214–1270) auf dem siebenten Kreuzzug 1249 begleitete. Sie war eine von zwei Frauen, die als Leibärztinnen bzw. Leibchirurginnen anerkannt waren. Magistra Hersend war dem König, der Königin und ihrem Gefolge adjustiert. Sie hat, so die Überlieferung, später den Hofapotheker geheiratet und eine lebenslängliche Pension erhalten. Bis 1259 ist ihre Tätigkeit in Paris nachgewiesen <QI4>. Die zweite Frau als Chirurgin im Dienste König Louis IX. war Guillemette du Luys, die als „Phlebotomistin“ bekannt wurde <QI5>. Das war sehr ungewöhnlich für das 13. bis 15. Jahrhundert, als in England, Frankreich und Spanien Frauen als Chirurginnen nicht nur verpönt waren, sondern auch gerichtlich verfolgt worden sind. Ein Beispiel dafür war der Prozess gegen Peretta Peronne im Paris des frühen 15. Jahrhunderts. Sie hatte illegal praktiziert und ein Gewerbe­schild als Chirurgin an ihrer Haustür angebracht. Trotz ihrer Behandlungserfolge wurde sie einer hochnotpeinlichen Befragung durch die Medizinische Fakultät und die Chirurgengilde von St. Cosmas und Damian in Paris unterzogen. Danach musste Peronne auf jegliche Werbung verzichten und sich demütigenden Einschränkungen unterwerfen. Der Druck der Bevölkerung war jedoch so groß, dass Madame Peronne stillschweigend als Chirurgin akzeptiert wurde <QI6>.

      Zwischen 1273 und 1410 sollen in Neapel 24 Chirurginnen zugelassen gewesen sein. Im Königreich Neapel wurden den Frauen nach einem Examen vor dem Hofchirurgen die Lizenzen zur Berufsausübung als Chirurginnen verliehen. Aus den Akten sind u. a. bekannt Maria Gallicia, Lauretta, Clarice aus Foggia, Sibyl aus Benovento, Margarita aus Bitonto und Raymunda aus Taberna und deren Behandlungsspektrum. In Mainz wird ein weiblicher Arzt im Jahre 1288 erwähnt, in Frankfurt am Main half 1394 die Tochter eines Arztes verwundete Söldner zu (ver-)„arzten“. Ebenfalls aus Frankfurt am Main stammte eine jüdische Ärztin, die sich in Augenoperationen auskannte. In Würzburg praktizierte mit Erlaubnis des Fürstbischofs eine jüdische Ärztin