Der Krieg im 20. und 21. Jahrhundert. Malte Riemann

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Название Der Krieg im 20. und 21. Jahrhundert
Автор произведения Malte Riemann
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783170327696



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des Möglichen liegt, erfasst werden. Für eine Vertiefung bezüglich der betrachteten Teilbereiche sei deshalb auf die zitierten Quellen verwiesen.

      1 Krieg und Kriegsführung

      »Der Krieg […] ist ein wahres Chamäleon, weil er in jedem konkreten Falle seine Natur etwas ändert.«

      (Carl von Clausewitz 1989, S. 212)

      Was ist Krieg? Diese Frage mag zunächst trivial klingen, glauben wir doch, dass dieses Phänomen für uns klar zu erkennen ist. Wir beziehen uns hierbei zumeist auf gegenwärtige (Syrien, die Ukraine) und geschichtliche Ereignisse (der Erste und Zweite Weltkrieg), welche mit diesem Begriff beschrieben und dadurch begreifbar werden. Darüber hinaus benutzen wir den Begriff des Krieges, um unterschiedliche Aspekte wie Kriegstechniken, Motivationen und Ursachen verschiedener Kriege und Kriegsformen begrifflich einzuordnen. In diesem Sinne finden wir eine endlose Liste an Kriegsbegriffen: totaler Krieg, Kalter Krieg, Weltkrieg, konventioneller und nuklearer Krieg, Angriffs- und Verteidigungskrieg, Stellvertreterkrieg, Revolutionskrieg, Unabhängigkeitskrieg, Dekolonisationskrieg, Eroberungskrieg, Guerillakrieg, Heiliger Krieg, ethnischer Krieg, Bürgerkrieg, humanitärer Krieg und viele andere. Aufgrund dieser unterschiedlichen Kriegsbegriffe stellt sich die Frage, ob der Krieg ein Wesen hat. Oder anders ausgedrückt, ob diese unterschiedlichen Konfliktformen und Begriffe etwas ihnen Inhärentes haben, welches die Benutzung des Begriffes Krieg ermöglicht. Um den Krieg somit zu ergründen, benötigen wir zunächst eine Definition. Hierbei wird schnell das klar, dass es für Krieg keine allgemein akzeptierte Definition gibt. Bluhm und Geis geben dieser Problematik Ausdruck:

      »In den Sozialwissenschaften kann man sich selten auf eine allgemeingültige Definition von Begriffen einigen, pluralistische Deutungen und unterschiedliche konzeptuelle Zuspitzungen von sozialen Phänomenen, die historischem Wandel unterliegen, sind die Regel.« (Bluhm/Geis 2004, S. 420)

      Schon ein kurzer Blick auf die Geschichte des Krieges reicht aus, um sich der Schwierigkeit eines solchen Unterfangens bewusst zu werden, da die Bedeutungen, Absichten, Mittel, Wege und Ergebnisse des Krieges einer immerwährenden Transformation unterworfen sind. Der Krieg, wie der berühmte preußische General Carl von Clausewitz (1780–1831) bereits im 19. Jahrhundert anmerkte, ist somit ein Chamäleon, welches sich seinen Umweltbedingungen anpasst. Moderner drückt dies der Politikwissenschaftler Sven Chojnacki aus: »Weil Krieg immer auch mit den Strukturen und dem Wandel interner und externer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen verkoppelt ist, unterliegt er als soziale und politische Praxis vielfältigen, historisch kontingenten Veränderungsprozessen«. (Chojnacki 2004, S. 403) Dass der Krieg »zugleich auch selbst Motor des Wandels« (Chojnacki 2004, S. 403) ist, der Geschichte verändert und transformiert, erschwert darüber hinaus eine begriffliche Definition. Der Krieg ist in diesem Sinne ein Chamäleon, das sich nicht nur seiner Umgebung anpasst und somit seine Gestalt wandelt, sondern das auch seine Umgebung verwandelt. Anna Geis merkt deshalb an: »Krieg ›wesenhaft‹ oder zeitlos gültig zu definieren, ist angesichts seiner Historizität, seines Gestalt- und Formwandels im Laufe der Geschichte, seiner vielfältigen Erscheinungsformen wohl kaum möglich.« (Geis 2006, S. 14)

      Trotz dieser definitorischen Probleme oder gerade deswegen ist der Krieg Gegenstand wissenschaftlicher und politischer Debatten, in denen wir »unterschiedliche Konzepte und Deutungsrahmen von dem, was Krieg ist« finden. (Ehrhart 2017, S. 9) Ein Ansatzpunkt ist es Krieg, quantitativ zu erfassen. Am bekanntesten ist die an der University of Michigan entwickelte Correlates of War Datenbank. Diese klassifiziert gewaltsame Konflikte mit mindestens 1 000 kampfbedingten Todesopfern innerhalb eines Zeitraums von zwölf Monaten und an denen organisierte Streitkräfte beteiligt sind als Krieg. (Sarkees/Wayman 2010) Dieser Ansatz ist vielfältig kritisiert worden. Erstens ist die Schwelle von 1 000 Kriegstoten schwer nachzuvollziehen (können etwa gewaltsame Konflikte mit 999 Todesopfern nicht als Krieg gelten?). Zweitens sind präzise Daten über Kriegsopferzahlen oft schwer zu erhalten. Und drittens stellt sich die Frage, ob Krieg nur über dessen physische Auswirkungen definiert werden sollte.

      Ein anderer Ansatz ist es, den Krieg qualitativ anhand seiner funktionalen Charakteristika zu erfassen. Clausewitz tat dies als einer der ersten in seinem unvollendeten Hauptwerk Vom Kriege (1832). Für Clausewitz ist der Krieg die »Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel«. (Clausewitz 1980, S. 674) Krieg wird als »politisches Werkzeug« verstanden, dessen Ziel es ist, einem Gegner den eigenen Willen aufzuzwingen. Den Krieg verbindet hierbei »stets die Tirade aus Ziel (Niederwerfen des Gegners), Mittel (Anwendung physischer Gewalt) und politischem Zweck (Aufzwingen des eigenen Willens).« (Tsetsos 2014, S. 22) An Clausewitz’ Kriegsdefinition wird vornehmlich kritisiert, dass diese zu kurz greift, da »neben politischen Zwecken Kriege auch aus anderen Gründen geführt werden. Die Motive reichen von ideologischen und religiösen Ansichten über persönlichen Geltungsdrang von Eliten bis hin zur individuellen Bereicherung.« (Tsetsos 2014, S. 23) Weitergefasst lässt sich Krieg in Anlehnung an Clausewitz als organisierte Gewalt zwischen zwei oder mehreren organisierten Gruppen zur Durchsetzung politischer, wirtschaftlicher, ideologischer und militärischer Interessen verstehen.

      Neben quantitativen und qualitativen Ansätzen hat sich in den letzten Jahren der Ansatz der kritischen Kriegsstudien (Critical War Studies) (Barkawi/Brighton 2011) entwickelt. Aus dieser Perspektive, angelehnt an das Werk des französischen Philosophen Michel Foucault, wird der Krieg als ein ontogenetischer Moment des sozialen Lebens verstanden. Der Krieg wird den Critical War Studies folgend als ein generativer und produktiver Gewaltakt definiert, der kein Wesen hat, sondern als transformative Kraft verstanden werden muss. Hüppauf sieht deshalb Krieg als etwas an das sich aus Gewalt und Diskurs zusammensetzt. »Es gibt keinen Krieg ohne einen gesellschaftlichen Diskurs aus Reflexion, Imagination und Gedächtnis. Der Diskurs ist im Krieg. Zugleich ist auch der Krieg stets im Diskurs.« (Hüppauf 2013, S. 32)

      Was als Krieg bezeichnet wurde und wird, ist somit historischen Veränderungen unterworfen und in hohem Maße von politischen Interessen, rechtlichen Interpretationen, ideologischen Standpunkten und kulturellen Traditionen abhängig, auf welche der Krieg selbst transformativ einwirkt. Aufgrund dieser Vielzahl von Kriegsverständnissen ist aus der Sicht des Völkerrechtes »der Begriff des Krieges funktionslos geworden« (Bothe 2007, S. 469) In der Charta der Vereinten Nationen kommt der Begriff nur einmal vor und die »stattdessen verwendeten juristischen Bezeichnungen lauten ›internationaler bewaffneter Konflikt‹ und ›nichtinternationaler bewaffneter Konflikt‹« (Ehrhart 2007, S. 9) Abschließend ist somit festzuhalten, dass der Krieg ein definitorisch schwer erfassbares Phänomen ist.

      1.1 Kriegsursachentheorien

      Neben der Frage, was der Krieg ist, ist auch die Frage nach den Gründen des Krieges umstritten. Dieser Frage wird in der Kriegsursachenforschung nachgegangen. Es gibt in der Kriegsursachenforschung keine einheitliche Theorie, vielmehr finden sich verschiedene Erklärungsmodelle, auf welche im Folgenden eingegangen werden soll. Kriegsursachen zwischen Staaten können in drei unterschiedliche Analyseebenen unterteilt werden: »das Individuum, die Gesellschaft bzw. der Staat und das internationale System.« (Bonacker/Imbusch 1996, S. 88) In der Kriegsursachenforschung finden sich für jede dieser drei Analyseebenen unterschiedliche Erklärungsmodelle.

      1) Auf der Ebene des Individuums stehen zwei Erklärungsansätze im Mittelpunkt.

      • Einerseits wird postuliert, dass der Krieg zur Natur des Menschen gehört. »Hier wird der Mensch mit seinen Neigungen, Trieben und seinem Machwillen als Quelle der Gewalt ausgemacht, die die Ursache für Konflikte im allgemeinen und Kriege im Besonderen ist.« (Bonacker/Imbusch 1996, S. 88)

      • Ein zweiter individualistischer Ansatz leitet die Kriegsursache von der Natur spezifischer Individuen (z. B. Staatsoberhäupter, religiöse Führer) ab. Dieser Ansatz basiert auf der Annahme, dass die psychologischen und persönlichen Charakteristika von Personen in Führungspositionen die Entscheidung zum Krieg beeinflussen. Kriege, nach diesem Ansatz, wären anders verlaufen oder hätten nicht stattgefunden, wenn ein bestimmtes Individuum keine politische Macht innegehabt hätte. (Tsetsos 2014) So stellt sich hier z. B. die Frage, ob der Zweite Weltkrieg auch ohne Hitlers Ernennung zum Reichskanzler ausgebrochen wäre.