Название | Die Todesstrafe I |
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Автор произведения | Jacques Derrida |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Passagen forum |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783709250389 |
Bevor wir die USA verlassen, um einen bestimmten historischen Chiasmus zu datieren, nämlich, dass im Jahre 1972, als Badinter L’Exécution schrieb, die Todesstrafe in Frankreich noch in Kraft war und in den Vereinigten Staaten soeben abgeschafft wurde, während sie zehn Jahre später in Frankreich abgeschafft und in den USA wiedereingeführt worden sein wird, bevor wir also die USA verlassen, hier noch einige Präzisierungen hinsichtlich der Fakten: Aktuell halten 38 von 50 Bundesstaaten der Vereinigten Staaten an der Todesstrafe für Mord unter erschwerenden Umständen fest. Je nach Bundesstaat wird der Tod mittels Elektrischem Stuhl, Giftinjektion, Gaskammer, Hängen oder Erschießen verabreicht [administrée]. Von diesen 38 Bundesstaaten, die die Todesstrafe 1977 wiedereingeführt haben, wenden nicht alle sie an, nur 27, wenn man so sagen kann, tun dies, doch tendenziell nehmen die Hinrichtungen zu (1990 per Elektrischem Stuhl in Arkansas, jenem Staat, dessen merciless13 Gouverneur Bill Clinton war, der in dieser Sache überaus hart blieb; 1992 per Giftspritze in Wyoming, 1992 per Gaskammer in Arizona und Kalifornien)14. Innerhalb von 20 Jahren, zwischen 1977 und 1997, zählte man 385 Hinrichtungen (im Durchschnitt 20 pro Jahr, mehrheitlich von armen Schwarzen, dasselbe Verhältnis findet sich unter den circa 3000 zum Tode Verurteilten, die in den Death Rows, jenen Abteilungen des Todes oder Hochsicherheitstrakten warten. Eine annäherungsweise vergleichende Statistik würde uns das entsprechende Bild von 5 Hinrichtungen pro Jahr in Frankreich liefern).
Ich kehre nun zu L’Exécution zurück, und zum historischen Chiasmus, der Unzeit15 des „zu früh“ oder „zu spät“: der wesentlichen Anachronie der Todesstrafe. 1972 hatte Badinter eine Stunde, nachdem er sein Plädoyer beendet hatte, erfahren, dass in den USA soeben die Todesstrafe abgeschafft worden war und dass, ein Mal mehr, das Geschehen in den USA besondere Auswirkungen auf die ganze Welt haben würde, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor. In den Zeilen, die ich gleich vorlesen werde, werden Sie sehen, welche Bedeutung dabei dem öffentlichen Raum, dem neuen öffentlichen Raum zukam, der vom Radio und den – mächtigen und machtlosen – internationalen Medien der bereits im Gange befindlichen Globalisierung geprägt war, einer Globalisierung, die in dieser Debatte so ungleichförmig und heterogen war. Das ist der Grund, weshalb ich hier darauf insistiere. (L’Exécution, S. 158-160, lesen)
Als ich den Schwurgerichtssaal betrat, schwirrten zwei Journalisten aufgeregt um mich herum. „Wissen Sie schon das Neueste?“ Ich starrte sie verständnislos an. „Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat gerade die Todesstrafe abgeschafft. Es ist soeben im Radio gekommen.“ Ich blickte auf die große Wanduhr. Weniger als eine Stunde war vergangen, seit die Verhandlung beendet war. Hätte ich die Nachricht eine Stunde früher erfahren, welch ein letztes Argument hätte die Verteidigung daraus machen können! Jetzt war es zu spät. Die Jury, die sich zu ihrer abschließenden Beratung zurückgezogen hatte, war gleichsam vor der Welt verschanzt. In meiner Erbitterung kam mir in den Sinn, ein Transistorradio zu nehmen und es vor dem geschlossenen Fenster jenes Saales abzustellen, in dem die Jury versammelt war, und es zur Nachrichtenzeit in voller Lautstärke aufzudrehen. Vielleicht würde diese Nachricht den Geschworenen, wenn sie ihnen zufällig und beinahe überfallsweise zu Ohren kam, wie ein Wink des Schicksals erscheinen, ein Hinweis darauf, dass die Todesstrafe nur das Nachleben einer Epoche war, die andernorts zu Ende ging und auch in Frankreich zu Ende gehen konnte. Ich ermaß aber rasch die Schwierigkeiten und die Gefahren einer solchen Unternehmung, die den Gerichtshof im Gegenteil auch verärgern könnte. Schließlich waren wir in Troyes und man urteilte über die Mörder von Clairvaux. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten war in diesem Augenblick weit weg. Ich ging zur Verteidigerbank zurück. Ich dachte an Bontems, an das, was er empfinden musste. Auch ich konnte nicht mehr tun als auf meinem Platz zu warten.
Es dauerte im Übrigen nicht allzu lange. Viel weniger lang als ich vermutet hatte. Die Glocke ertönte und bald darauf kehrte das Gericht in den Saal zurück. Jeder nahm seinen Platz wieder ein, in einem gewissen Durcheinander, das auch noch andauerte, als der Vorsitzende, sich uns zuwendend, anordnete, die Angeklagten hereinzubringen. Ich blickte jedem Einzelnen der Geschworenen in die Augen, mit all meiner Kraft, um einen Blick zu erhaschen, eine Kommunikation herzustellen, ein Zeichen. Ich stieß nur auf verschlossene Gesichter. Eine Art Leere breitete sich um uns herum aus, ich spürte sie in mir. Das Verlesen der Antworten auf die gestellten Fragen begann. Bei der vierten, für uns entscheidenden Frage, hielt der Vorsitzende inne: „Ist Bontems, unter denselben Umständen von Zeit und Ort, schuldig, Madame … getötet zu haben?“ Antwort: „NEIN, nach Mehrheit der Stimmen.“ Ein Seufzer der Erleichterung im Saal. Ein befreundeter Journalist lächelte mir zu. Bontems hatte seinen Kopf gerettet. Der Vorsitzende fuhr fort: „Hat Buffet Madame … getötet?“ Antwort: „JA.“ – „Ist Bontems der Komplize von Buffet?“ „JA.“ – „Gibt es mildernde Umstände für Buffet?“ „NEIN.“ Buffet wurde zum Tode verurteilt. „Gibt es mildernde Umstände für Bontems?“ Als Antwort kam: „NEIN, nach Mehrheit der Stimmen.“ Das hieß Todesstrafe. Der Vorsitzende verkündete sie bereits. Im Saal, um den Justizpalast herum, durch die geöffneten Fenster zu hören, ertönten Applaus und Bravorufe. Der Vorsitzende zeigte sich vergeblich indigniert. Die Menge schrie aus einer Mischung von Freude und Hass. Ich drehte mich zu Bontems um. Ich packte ihn am Arm und sagte mit fester Stimme, mit aller Kraft, die ich aufzubringen vermochte: „Bontems, Sie werden begnadigt werden. Man hat anerkannt, dass Sie nicht getötet haben. Sie werden begnadigt werden. Das ist gewiss. Der Präsident der Republik wird Sie begnadigen, das ist gewiss.“ Philipp Lemaire gab ihm bereits Anweisungen, um seinen Revisionsantrag zu stellen. Er