Название | Die Todesstrafe I |
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Автор произведения | Jacques Derrida |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Passagen forum |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783709250389 |
Ich wusste, dass Bontems leben wollte. Jede seiner Äußerungen zeigte, dass er zu diesem Leben gehörte, dass er seiner nicht überdrüssig war, so elend es auch sein mochte, das war immer noch sein Leben, immer noch das Leben. Man machte sich daran, ein Lebewesen [un animal] zu töten, das leben wollte, leben konnte. Warum? Es gab keinen wirklichen Grund dafür. Die Geiseln waren tot, gewiss, nicht von seiner Hand, aber auch durch seine Schuld. Reichte das aus, um ihn seinerseits zu töten? Wären die Frau des Wärters und der Mann der Krankenschwester morgen weniger unglücklich, wenn Bontems tot, wenn er enthauptet wäre? War dies das Heilmittel, vorausgesetzt, dass es überhaupt eines gibt? Und würden all diejenigen, die in den Gefängnissen davon träumen, Geiseln zu nehmen, morgen ihr Vorhaben aufgeben, wenn sie die Nachricht von der Hinrichtung erhielten? Ach was. Buffets und Bontems’ Tod würde im Gegenteil eine geheime Faszination auf sie ausüben, die sie in ihren Vorhaben weiter vorantreiben wird. Nach dem Urteilsspruch von Troyes waren kaum ein paar Wochen vergangen, da hatte schon im Krankenhaus von Fresnes ein Gefangener eine Krankenschwester als Geisel genommen und mit dem Skalpell in der Hand gedroht, ihr die Kehle durchzuschneiden, wenn man ihm nicht sofort die Mittel zu seiner Freiheit verschaffe. Die Unglückliche hatte ihre Unversehrtheit nur dem Eingreifen eines weiteren Gefangenen zu verdanken, der den Durchgedrehten niederstreckte. Eine schöne Illustration für den exemplarischen Charakter der Strafe!24
Da wir aber vom Theater der Grausamkeit sprechen, und da wir vorhaben, so nah wie möglich bei diesen zwei Motiven zu bleiben, dem Theater und der Grausamkeit, und dem Theater der Grausamkeit in der Morgendämmerung/im < Département > Aube [à l’Aube]25, wollen wir sehen, wie sich diese unterschiedlichen thematischen Fäden (Notate und Konnotationen) in der Logik ineinander verschlingen, die auch eine Rhetorik eines Rechtsanwalts ist, der im Laufe eines einzelnen Prozesses bereits gegen die Todesstrafe im Allgemeinen plädiert, oder vielmehr für die Abschaffung der Todesstrafe, fast zehn Jahre bevor er es als Minister vor der Nationalversammlung tun wird26, wobei sich diese Fäden hier zu einem Film verknüpfen, zu einer narrativen Sequenz eines wohlüberlegten und vernünftig argumentierenden Berichts, dessen Status schwankt zwischen Tagebuch, Chronik oder autobiographischem Zeugnis einerseits, und einem literarischen Kunstwerk andererseits. Das war, natürlich auf ganz andere Weise, auch der Status jener zwei Bücher von Genet gewesen, über die wir gesprochen haben und in denen die Eigennamen realer, historischer Personen, die zum Tode verurteilt und tatsächlich hingerichtet worden waren, den fiktionalen und poetischen Lyrismus eines literarischen Werks weder zum Schweigen bringen noch neutralisieren. Nun, Badinter versteht es sehr gut, seinen ganzen Bericht mit einer Prise Grausamkeit zu versehen und die überall anzutreffende Grausamkeit, die er anprangert oder anklagt, durch geschickte rhetorische Effekte mit dem unerbittlichen, gnadenlosen Maschinismus einer kühlen, eiskalten, herzlosen Vernunft in Verbindung zu bringen. Hart und kalt wie eine Maschine, wie eine Guillotine, wie ein Instrument, das kein Werkzeug mehr ist (wie Messer oder Axt usw. es noch sein konnten), sondern eine Maschine: die Guillotine. Die Grausamkeit ist hart, weil sie kalt ist, weil sie herzlos ist. Diese Verbindung von Kälte und Grausamkeit schreibt Badinter sämtlichen Konnotationen des Buches ein (ich habe hier nicht die Zeit, es mit der Lupe unter diesem Gesichtspunkt zu untersuchen, aber Sie könnten dort zum Beispiel eine Meteorologie finden, die auf das Klima des Buches und auf die Landschaft der gerade statthabenden Erfahrung abgestimmt ist). So ist zum Beispiel der Regen kalt und grausam, und er macht die Straßen „feindselig“: (L’Exécution, S. 183-184 vorlesen)
Der Gladiator ist in den Sand der Arena gesunken. Er ist im bleigrauen Netz seines Kontrahenten gefangen. Die Menge auf den Rängen des Zirkus fordert schreiend seinen Tod. Alle Gesichter wenden sich Cäsar zu. Die mit schweren Ringen geschmückte Hand hebt sich. Alles schweigt. Wenn Cäsar beschließt, mit dem Daumen nach unten zu zeigen, wer wird dann letzten Endes den Gladiator getötet haben: Der Rohling, der sein Schwert bereits erhoben hat? Die Menge, die nach Blut lechzt? Oder Cäsar, ganz allein, vorne in seiner Loge?
Auch an diesem Morgen regnete es. Es war ein kalter, grausamer Regen, ein Pariser Herbstregen, der die Straßen feindselig macht. Die Leute eilen mit zwischen den Schultern eingezogenem Kopf dahin, als wären sie bereit, einen über den Haufen zu rennen, um schneller ihr schützendes Dach zu erreichen. Wir, Philippe und ich, gingen in den Faubourg Saint-Honoré zurück, wobei wir uns unter einem Regenschirm am Arm hielten. Als wir an einem Schaufenster vorbeikamen, sah ich darin unser Spiegelbild. In Haltung und Minenspiel sahen wir aus wie auf dem Weg zu einem Begräbnis, ganz in Marineblau gekleidet, unter einem großen schwarzen Regenschirm. Ich beschleunigte den Schritt.27
Dieser eiskalte Regen wird bis zum Ende dieses Films fallen, bis in die letzten Zeilen des Buches hinein, nach der Hinrichtung. Der Wortschatz von Kälte und sogar Eis [glace]28 prägen die letzte Seite und die letzten Notizen des Buches. Der Anwalt verlässt die Szene der Guillotine, und das Buch, er schreibt:
Ich dachte, dass es sehr kalt war. […] Meine Frau fuhr langsam [alle die Gegenwart seiner Frau betreffenden Notizen in diesem Buch markieren den Kontrapunkt der Sanftheit [douceur] („meine Frau fuhr langsam [doucement]“29) und des Herzens, des Privat-Lebens (die Frau, die Familie) im Gegensatz zur kalten und männlichen Härte des Staatsbürgers, dieser Politik und dieser Öffentlichkeit ohne Herz – denn die Öffentlichkeit ist ebenfalls Angeklagter in diesem Plädoyer, ebenso wie der Präsident als Politiker. Es gäbe viel zu sagen zu diesem Geschlechtergegensatz in Bezug auf die Todesstrafe, zu sagen und zu komplizieren beziehungsweise zu überdeterminieren]. Meine Frau fuhr langsam. Die Straßen waren so leer wie ich selbst. Mit meinem Handschuh wischte ich die Scheibe [glace] ab. Es gab nichts mehr zu tun, zu sagen. Es war aus, das war alles, Ende der Affaire Bontems.30
Das ist das letzte Wort des Buches, ein Eigenname als Name einer „Affaire“. Bontems, letztes Wort, letzter Name dieses Opfers eines Mordes, letztes Wort des Buches, Bontems wird in diesen Zeiten schlechten Wetters [temps de mauvais temps] von der Maschine des Gesetzes ermordet [assassiné] worden sein. All dies lässt sich nicht in die Landschaft einer anderen Sprache übersetzen, nicht nur aufgrund des Eigennamens, Bontems, und der Homonymie zwischen temps [„Zeit“] und temps [„Wetter“] (time und weather, die Zeit, die die Geschichte bildet, und das Wetter, das in der Geschichte herrscht), sondern es ist unübersetzbar, weil die Guillotine französisch ist, wie die Französische Revolution und die Allgemeine Erklärung der Menschen- und der Bürgerrechte, und weil Frankreich die Todesstrafe im Jahre 1972 noch aufrechterhält, während man sie andernorts abschafft. Sogar in den Vereinigten Staaten. Das schlechte Wetter [mauvais tems31], das Bontems überlebt, die Kälte und der Regen, die grausame und herzlose Kälte des Himmels über dieser Stadtlandschaft, dieser Stadt, dieser Hauptstadt [capitale] der Todesstrafe [peine capitale], dieser Polis und dieser Polizei, dieser Politik (denn das kommt nach der Verweigerung der Begnadigung durch einen Präsidenten, der sich um seine Politik sorgte, wir werden noch darauf zurückkommen), diese eisige und unmenschliche Kälte der Techno-Politik wird auf theatralische Weise verkörpert, wenn ich so sagen kann, oder vielmehr ent-körpert durch jene Figur ohne Person32, die die Guillotine ist, das Spektakel der persona, das eine aufgerichtete Guillotine bietet, aufgerichtet auf der Bühne und im Hof. Badinter beschreibt ihre theatralische Erscheinung als die einer Theaterfigur [personnage], einer erschreckenden persona, als das grausame Trugbild von jemandem, der just niemand [personne] ist, der aber, niemandem ähnelnd, immer noch einer Person ähnelt. Die Guillotine, diese so französische Erfindung, die den Eigennamen ihres Erfinders, des Doktor Guillotin, in einen patentierten Gattungsbegriff, in den Akt eines unpersönlichen Verbs (guillotinieren) verwandelte, das die Lexik und die Syntax der französischen Sprache bereichert hat, die Guillotine, das ist niemand. Zugleich unmenschlich und übermenschlich, beinahe göttlich. Es gibt da so etwas wie eine Religiosität im Klima dieser Guillotine, die sich unter dem Himmel gen Himmel erhebt.