Die Todesstrafe I. Jacques Derrida

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Название Die Todesstrafe I
Автор произведения Jacques Derrida
Жанр Документальная литература
Серия Passagen forum
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783709250389



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heldenhaft sein konnte, ließen mich heimlich die Enthauptung erwählen; sie hat es für sich, verachtet zu werden, den Tod zu verachten, den sie herbeiführt, und die von ihr Belohnten in einem düsteren und sanften Ruhm erstrahlen zu lassen, der wie der Samt der leicht tanzenden Flamme bei großen Begräbnissen ist; und Harcamones Verbrechen und sein Tod zeigten mir, wie auf einem Schaubild, den Vorgang dieses endlich erreichten Ruhmes. Ein solcher Ruhm ist nicht menschlich. Es ist kein Hingerichteter bekannt, dem allein sein Tod den Heiligenschein verliehen hätte, wie man es bei den Heiligen der Kirche und den Ruhmbeladenen dieser Welt sieht; aber dennoch wissen wir, daß die reinsten unter den Menschen, die diesen Tod empfangen haben, in sich selbst und über ihrem abgeschlagenen Haupte eine wunderbare und vertraute Krone fühlen, voller Kleinodien, die der Finsternis des Herzens entrissen sind. Jeder von ihnen hat gewußt, daß in dem gleichen Augenblick, da sein Kopf in den Korb mit Sägemehl fällt und von einem Gehilfen, dessen Rolle mir recht eigenartig erscheint, bei den Ohren gefaßt wird, daß in dem gleichen Augenblick sein Herz von schamhaft bedeckten Händen aufgenommen und in die Brust eines Jünglings fortgetragen wird, die wie ein Frühlingsfest geschmückt ist. Es handelte sich also um einen himmlischen Ruhm, nach dem ich mich sehnte, und Harcamone hatte ihn in unerschütterlicher Gelassenheit vor mir erreicht, dank der Ermordung eines kleinen Mädchens und, fünfzehn Jahre später, eines Wärters von Fontevrault.28

      Jetzt beginnen wir. Mein Übergang zwischen diesem langen randinschriftlichen Exergon im Sinne eines Mottos29, und unserem wahren Beginn könnte das „Vergebt mir“ von Genet sein, oder genauer die Vergebung, um die jener bittet, der „ich“ sagt, sagen wir der „Erzähler“ von Notre-Dame-des-Fleurs.

      Zunächst zur Frage des Titels. Dieses Jahr schreiben wir unter dem Titel „Questions de responsabilité VII. Pardon et parjure [Fragen der Verantwortung VII. Vergebung und Eidbruch]“ also einen Untertitel ein, nämlich „La peine de mort [Die Todesstrafe]“.

      Als ob wir bis hierher im Grunde genommen von etwas anderem gesprochen hätten.

      Nun ist aber nichts weniger gewiss. Denn jedes Mal, wenn wir es in unserem Nachdenken über die Vergebung [le pardon] für notwendig hielten, vom Nichtvergebenen [l’impardonné] und vom Nichtvergebbaren [l’impardonnable], vom Irreversiblen oder Nichtwiedergutzumachenden [l’irréparable] auszugehen, auch jedes Mal dann, wenn wir vom Über-leben sprachen, das heißt von dem, was einen angesichts des Übels eines Todes, der bereits stattgefunden hat, wehrlos zurücklässt, wie Opfer, die nicht mehr Zeugnis ablegen konnten oder die um Vergebung zu bitten, nicht mehr in Frage kam, < jedes Mal dann > sprachen wir natürlich vom Tod, aber auch, wie überall, wo es um Vergebung geht, vom Urteil, vom Urteil über ein Übel/Böses [mal] oder ein Unrecht [tort].

      Es bleibt einmal mehr, dass nicht jeder Tod und nicht einmal jeder auferlegte Tod der Urteilsspruch [sentence] oder die Anwendung einer Todesstrafe ist. Und wir werden wachsam im Hinterkopf behalten müssen, dass nicht jeder gegebene Tod, nicht jeder Mord [meurtre], nicht jedes Verbrechen gegen Lebendes, nicht einmal jede Tötung eines Menschen [homicide] notwendig dem entspricht, was man im strikten Sinne eine „Todesstrafe“ nennt, dem Begriff, dem unterstellten juridischen Begriff der Todesstrafe, wenn man auch anschließend die juridische Reinheit, die Legitimität, ja die Legalität der Todesstrafe bestreiten kann. Der Begriff der Todesstrafe präsentiert sich jedenfalls als ein Begriff des Rechts, als der Begriff einer Sanktion, die von einem Recht in einem Rechtsstaat ausgeführt wird, wenn man auch anschließend die Wohlbegründetheit dieser Selbstpräsentation bestreiten kann.

      In den vergangenen Jahren hatten wir weniger vom Tod der Angeklagten gesprochen und mehr vom Tod der Opfer, derer, denen die Gewalt bisweilen, als wären sie tot, auch das Recht auf das Wort verweigerte beziehungsweise auf die Möglichkeit, Zeugnis abzulegen und also einer eventuellen Bitte um Vergebung ausreichend gegenwärtig zu sein, (wie zum Beispiel im Falle jener südafrikanischen Frauen, denen sogar die Möglichkeit verweigert wurde, von den erlittenen Gewalttaten oder Vergewaltigungen Zeugnis abzulegen, denn das Zeugnis und das Vor-Augen-Führen der Verwundungen hätten eine weitere Gewalt dargestellt, eine Wiederholung des Schlimmsten: Das Zeugnis selbst sowie die Szene der Vergebung oder der Versöhnung selbst waren ihrerseits30 eine Gewalt, ein weiteres Trauma31). Wir hatten also von dem Tod, der Unschuldigen, mutmaßlich Unschuldigen auferlegt wird, als dem Nichtvergebbaren oder als dem Horizont des Nichtvergebbaren selbst gesprochen, aber wir haben nicht von jenem Tod gesprochen, der dem Schuldigen, dem Angeklagten oder dem mutmaßlich Schuldigen vom Gesetz auferlegt wird, wenn wir auch, als wir, ziemlich ausführlich, vom Gnadenrecht handelten, vor allem an das Recht des Souveräns dachten, einem zum Tode Verurteilten das Leben zu gewähren oder zu verweigern. Auf all dies werden wir natürlich noch ausführlich zurückkommen.

      Warum und wie, mit welchem Recht würden wir also jetzt diese Frage der Todesstrafe unter dem Titel der Vergebung und des Eidbruchs einschreiben?

      Die Frage des Titels ist im Grunde genommen immer auch eine juridische Frage, die Rechtsfrage [question de droit], und die Frage des Kapitalen, des Hauptsächlichen [chef], des Kapitels, dessen, was an der Kopfseite kommt. Ein Text oder ein Diskurs ohne Titel ist nicht nur ein Diskurs außerhalb des Gesetzes32, sondern auch ein Diskurs ohne Kopf, ohne Schwanz und ohne Kopf, ein enthaupteter [décapité] Diskurs. Und es ist keine Spielerei mit Worten, wenn ich daran erinnere, dass die Todesstrafe, die sich durch ihren direkten Bezug auf das Recht, durch ihre behauptete Legalität, durch ihr staatlich-juridisches Wesen von allem Mord, allem Verbrechen und aller natürlichen Rache prinzipiell unterscheidet und danach strebt, sich begrifflich, de jure davon zu unterscheiden, dass also die Todesstrafe [peine de mort] hier oder da mit dem Übernamen „Kapitalstrafe [peine capitale]“ benannt wird. Im Englischen, capital punishment. Im Deutschen spricht man nicht von Kapitalstrafe (eher von Todesstrafe*), wenn es auch den Ausdruck „Kapitalverbrechen“33 gibt, der häufig dazu dient, das mit der Kapitalbeziehungsweise Todesstrafe sanktionierte oder zu bestrafende Verbrechen zu bezeichnen.