In diesem Buch stirbt jeder. Beka Adamaschwili

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Название In diesem Buch stirbt jeder
Автор произведения Beka Adamaschwili
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783863912918



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dem Nichts tauchten Scharen von »Ähms« und »Na jas« und »Eigentlichs« auf. Die Hälfte der verbalen Einheiten weigerte sich strikt, sich auch nur einen Millimeter auf ihrer Zunge zu bewegen. Lea verglich sie deshalb mit einem Sprungbrett, das nur etwas für ganz gewagte Wörter war. Doch ab und zu, wenn sie etwas sehr Unpassendes sagte, glich ihre Zunge einer über Bord ragenden verhängnisvollen Planke auf einem Piratenschiff … Und zwar immer dann, wenn Lea frei über alles Mögliche auf der Welt nachdenken konnte, zum Beispiel darüber, warum Frauen in der Werbung immer ihr Lieblingswaschpulver in der Tasche trugen oder ob die Liebe zur lateinischen Sprache als Nekrophilie gelten sollte, oder darüber, woher Schriftsteller wussten, worüber ihre Romanfiguren nachdachten.

      2.Kampf gegen leere Sprachhülsen: Lea hasste abgenutzte Vergleiche wie die Pest. Metaphern ebenso. Oder Hyperbeln. Und all die anderen literarischen Tricks, deren Namen sie oft vergaß. Wie zum Beispiel jetzt. Deshalb war Lea ständig auf der Suche nach einzigartigen Formen, was schwieriger war als Houellebecqs Nachnamen gleich beim ersten Mal fehlerfrei zu schreiben oder ein vor Monaten beiseitegelegtes Buch weiterzulesen, ohne die schon gelesenen Seiten noch mal zu überfliegen.

      3.Die Prinzessin der Tiere: Katzen waren der helle, fluffige Fluchtpunkt in Leas Leben. Sie liebte alle, die mit Katzen auch nur die geringste Verbindung hatten, von Halle Berry bis Andrew Lloyd Webber. Aufgrund ihrer Begeisterung für Katzen konnte Lea selbst Katzenjammer und Katzenwäsche etwas Positives abgewinnen. Aus demselben Grund hatte sie immer einen großen Vorrat an kaltem Brei zu Hause. Natürlich hatte sie selbst auch eine Katze. Eine schwarze. Mit dem eigenartigen Namen Eyed Peas.

      4.WJOZAFOT (Weltjugendorganisation für Zukunft, Arthouse-Filme und obdachlose Tiere): So hieß die NGO, deren starkes und unabhängiges Zentrum Lea darstellte. Die Hauptmission der Organisation war, herauszufinden, was genau sie eigentlich tun. Leas Job hier war etwas seltsam: Sie sollte aufmerksam sein und auf jegliche Anzeichen von Sexismus im Alltag achten. Ehrlich gesagt erschloss sich Lea das Wesentliche des Feminismus nicht so recht, aber obwohl sie keine größeren kulinarischen Kenntnisse vorweisen konnte, war sie dagegen, alle Männer in einen Topf zu werfen.

      Trotzdem: Warum ist es oft so, dass wir die lieben, die uns nicht einmal mögen, und warum lieben uns die, die wir nicht einmal mögen? Über diese Formulierung grübelte Lea nach, und ihr war, als ob jemandes unsichtbare, ein wenig faule Hand ihren Gedanken vom Kapitelanfang mittels Copy and Paste in den siebten Absatz des Kapitels übernommen hatte. Sie hatte über solche Ungerechtigkeiten des Lebens bislang noch nie nachgedacht – bis eine Figur aus dem Roman »Bestseller« sie ins Grübeln gebracht hatte. Irgendwie ähnelte sie ihr. Nichts und niemand gefiel ihr – vielleicht war es das. Sie zog in Erwägung, dem Autor selbst zu schreiben, um eine Antwort zu bekommen, fand das dann aber doch zu gewagt: Erstens bestand die Möglichkeit, dass der Adressat sie falsch verstehen und die Frage als Vorwand auffassen könnte, ein Gespräch anzufangen, und zweitens wäre es lächerlich, dem Autor zu sagen, sie halte sich für seine Romanfigur.

      Deshalb beschloss sie, sich die Frage ohne seine Hilfe zu beantworten: »Wenn jeder jeden mögen würde, verlöre die Liebe ihren Wert, aber Gott scheint absolut kein Sozialist zu sein … Wow!« Lea war mächtig stolz auf ihre Aussage – »Gott« und »Sozialist« kamen in ein und demselben Satz vor. Lea selbst hatte bei persönlichen Beziehungen weniger hohe Ansprüche. Das Einzige, was sie vom potenziellen Auserwählten erwartete, war Perfektion. Angeblich sei das typisch für Mädchen …

      »Warum nur für Mädchen?«, regte sich Lea auf. »Das ist sexistisch!«

      Sie lernten einander bei einer Demo vor einem Café kennen. Dort protestierten sie gegen die Angewohnheit mancher Kellner, die Rechnung geradewegs immer dem Mann zu bringen, wenn der zusammen mit einer Frau im Café saß. Nach der Demo schlug ihr neuer Bekannter vor, das Ganze gleich in der Praxis zu testen, und lud Lea in ebendieses Café ein, um den potenziell sexistischen Kellnern zusammen eine Lektion zu erteilen.

      Das Shirt des Mannes zeigte einen verstrubbelten Revolutionär mit sehr kurzem Namen und sehr langem Haar. Der Besitzer des Shirts selbst sah nicht aus wie ein Einheimischer. Er hatte eine etwas westeuropäische Ausstrahlung, blasse Wangen und attraktive Jochbeine.

      »Es gibt keine Liebe auf den ersten Blick … es gibt keine Liebe auf den ersten Blick … es gibt keine Liebe auf den ersten Blick«, wiederholte Lea mantraartig und dachte zugleich, dass, wenn der Mann sie freundlich bäte, sie ihm bis an das Ende des Universums folgen würde, wenn nicht sogar per Anhalter durch die Galaxis, und zwar mit dem ersten und einzigen Auto, das mit David Bowies Musik um den Planeten driftete.

      »Mit Vergnügen würde ich mit dir zusammen herumreisen«, schlug der Unbekannte unvermittelt vor, fast, als könnte er Leas Gedanken lesen. Nun, nicht fast – er konnte sie tatsächlich lesen. Und nicht nur er. Leas Gedanken konnte jeder lesen, der dieses Buch auf einer passenden Seite aufschlug. Lea war das nicht klar, und sie schrieb den ersehnten Vorschlag nur den magischen Eigenschaften der zwischen ihnen entstandenen Verbindung zu …

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      »Ich hab schon immer vom Reisen geträumt«, antwortete Lea mechanisch, kam aber bald durch die Autosuggestion ihres »Es gibt keine Liebe auf den ersten Blick«-Mantras zur Besinnung, »ich hab nur gerade keine Zeit …«

      »Mach dir keine Sorgen wegen der Zeit. Auf dieser Reise kannst du alles verlieren – außer Zeit.«

      Lea dachte eine Weile darüber nach. Weder wollte sie Zeit noch ihren Kopf verlieren.

      »Angenommen, ich bin mit deinem Vorschlag einverstanden. Wohin fahren wir dann?«

      Die Frage war doppeldeutig – sie betraf sowohl Zeit als auch Raum.

      »Das sag ich dir heute Abend.« Der Mann benutzte die abgedroschene Methode des Spannungsaufbaus und fuhr fort: »Außerdem besteht der Reiz des Reisens nicht darin, wohin man reist, sondern mit wem.«

      »Das ist eine wichtige Expedition«, sagte der Mann im Flüsterton. Seiner Meinung nach verlieh Flüstern jeder beliebigen Geschichte mehr Charme. »Dazu braucht es allerdings den Sinn und Verstand einer Frau.«

      »Hm. Wenn das mal nicht sexistisch ist?!«, dachte Lea enttäuscht. »Ich werde nirgends mit ihm hingehen. Zur Hölle soll er fahren, und zwar ohne mich. Basta!«

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