Beinahe Alaska. Arezu Weitholz

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Название Beinahe Alaska
Автор произведения Arezu Weitholz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783866483866



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Gras, Erde, Steine wandern. Überall kreuchten Menschen herum. Einige marschierten auf eine Hügelkuppe zu, auf der eine Gruppe oranger Männchen mit Ferngläsern auf die zwei Wasserfälle in der Felswand starrte. Wäre ich ein Moschusochse, dachte ich, ich würde mich hier auch nicht blicken lassen.

      Ich ging in die Richtung, in der am wenigsten orange Punkte waren, zur Müllkippe. Die Felsen hatten silbergrüne, weiße, dunkelbraune und schwarze Flecken. Manche waren rot-weiß marmoriert. Das Rote war Hornblende, das Weiße Kryolith. Der gewaltige Druck, der dieses Marmormuster hervorgebracht hatte, war Milliarden Jahre alt. Weich sank mein Stiefel ins Moos. Es leuchtete grellgrün. Die Geologin hatte heute früh etwas über die Tundra erzählt und dass sie auf ihren Wanderungen in Grönland manchmal nicht wanderte, sondern krabbelte, denn das Interessante lag nicht am Horizont, man latschte darauf herum. »Im Sommer ist es am Boden manchmal um 15 Grad wärmer als einen Meter weiter oben. Sie laufen nicht durch den Wald. Sie laufen auf dem Wald!«

      Ich schaute nach unten, in die winzigen Dickichte leuchtend grauer und gelber Gitter, mit denen sich die Flechten über die Steine ausbreiteten. Die Geologin hatte recht. Da unten war eine Welt aus filigranen Blüten und Verästelungen. Alles wirkte überdeutlich, irgendwer hatte an der Schärfentiefe meiner Augen gedreht und zugleich den Kontrast erhöht. Ich schraubte das neue Objektiv auf und fotografierte den Boden. Kein Wunder, dass mir keine Farben mehr gelingen wollten. Die Wirklichkeit war irre. Sie war unmalbar.

      Auf einer Hügelkuppe blieb ich stehen. Auf der Wiese vor mir wiegten sich hellweiße Miniwattebäusche an schmalen grünen Stängeln im Wind hin und her. Wollgras. Wo das wuchs, bekam man nasse Füße, hatte die Geologin gewarnt. Dahinter türmte sich Müll. Zerquetschte Autowracks rosteten im Regen, Matratzen lagen im Gras. Ein Hügel sah aus wie eine Kunstinstallation: Ein leerer Container wurde von einem Durcheinander aus Gittern, Rohren und Stangen umrahmt, von zerbeulten Tonnen, rotbraunen Backsteinen, Kühlerhauben, ausgebauten Motoren, roten Metalltüren, Spanplatten, Bettgerüsten, Badewannen, Stuhlteilen, Beton und Stein. Hatte der Schnee das alles so zugerichtet? Oberhalb auf einem Felsen hielt ein weißes Kreuz aus Metall Wache über diese Unordnung, darunter steckten weiße und schwarze Grabkreuze zwischen den Felsen.

      Auf einer meiner ersten Reisen für den Verlag war ich drei Wochen kreuz und quer durch die schottischen Highlands gefahren, um Orte zu besuchen, an denen es angeblich spukte. Tagsüber wanderte ich über ehemalige Schlachtfelder, durch Schlösser und alte Häuser. Nachts fror ich auf einsamen Landstraßen und in zugigen Hotelzimmern. Am Ende wusste ich alles über abgemurkste Schotten, weiße Ladys und Sumpfkobolde, hatte etliche Bilder von öden Ebenen, dunklen Verliesen und weiten Himmeln über spiegelklaren Lochs gemacht, war aber keinem Gespenst begegnet. Nur einem, beinahe: Auf einem Foto, das in einem kühlen Zimmer auf Dalhousie Castle bei Edinburgh entstanden war, sah man in der Vergrößerung ein Augenpaar. Es starrte aus dem Spiegel heraus.

      Ein Fleck, hatte der Lektor gemeint.

      Ein Augenpaar, die Sekretärin.

      Am Ende wurde im Verlag abgestimmt. Der Fleck gewann achtzehn zu zwei.

      Hinter mir hörte ich ein Knacken. Das Funkgerät hing an einem fast zwei Meter großen Mann. Das war Connor, der Chef des Expeditionsteams. Ich hatte am Schwarzen Brett seine Biografie gelesen. Er war fünfzig Jahre alt, kam aus Schottland, war Träger des Polarordens und fuhr seit mehr als dreißig Jahren in die Arktis und die Antarktis. Wie auch Tomek hatte er mehrfach am Südpol überwintert. Jetzt aber sah er aus, als hätte man ihn rückwärts durch einen Rote-Kreuz-Altkleidercontainer gezogen. Er trug eine knallblaue Regenhose, hüfthohe schwarze Anglerstiefel, eine dunkelbraune Jacke, eine grellorange Steppweste und einen neongelben Gürtel, in dem Messer und Werkzeuge steckten. Auf dem Kopf hatte er eine grasgrüne Strickmütze, um den Hals trug er ein Fernglas, um die Schulter ein Gewehr.

      »Schöne Mütze«, sagte ich.

      Ja, lachte er, die hatte seine Tochter für ihn gestrickt. Die sei im Handgepäck gewesen. Alles andere stammte aus dem Klamottenlager, erklärte er. Sein Koffer hatte mal wieder den Anschlussflug in Kopenhagen nicht geschafft.

      »Mal wieder?«

      Ach, die Reederei buchte die Anschlussflüge, und meistens klappte irgendwas nicht. Man konnte davon ausgehen, jede dritte Reise ohne sein Gepäck machen zu müssen. Manchmal passierte das auch den Passagieren. Die mussten sich entscheiden: entweder zurück nach Hause oder ohne Kulturbeutel an den Polarkreis. Er hatte inzwischen alles Wichtige im Handgepäck. Vor allem die Unterhaltung. Früher hatte er Bücher mitgenommen, inzwischen brauchte er nur USB-Sticks. Mit Serien.

      Sein Funkgerät knackte erneut. Er nahm es in die Hand, sprach hinein.

      Serien?

      Er fand Broadchurch besser als Happy Valley, nicht nur wegen der Musik, sondern auch wegen Olivia Colman. War die nicht großartig? Ja, war sie. Er hatte The Killing gesehen, aber nicht Kommissarin Lund. Occupied kannte er nicht. Borgen fanden wir beide gut. Die dritte Twin Peaks-Staffel war nur noch halb so gruselig. Genau. Wer fürchtete sich noch vor rückwärtssprechenden, auf dem Kopf stehenden Zwergen? Niemand. Leider konnte er mit Serien wie Stranger Things und The OA nicht viel anfangen, dafür waren wir uns einig, dass das Staffelfinale von True Blood mit zum Schlechtesten gehörte, was jemals gedreht worden war. Und dass es hier so aussah wie bei Top of the Lake. Oder wie in Alien vs. Predator, nur ohne Schnee, aber das war ein Film und keine Serie.

      Zwischendurch sprach er immer mal wieder in sein Funkgerät und schaute durchs Fernglas. Außer orangen Punkten bewegte sich nichts. Keine Moschusochsen, keine Aliens, keine Gespenster.

      Auf jede Reise nahm er mehrere Staffeln mit. Für diese hier hatte er die dritte von Fortitude dabei, das die Kollegen aus Spitzbergen allerdings nicht leiden konnten. Die erste Staffel war in Island gedreht worden, und bei Schnee verstanden die keinen Spaß.

      Ich hätte eher vermutet, dass er The Terror mitgenommen hätte, sagte ich.

      Hatte ich die gesehen?

      Ich nickte.

      Und?, fragte er vorsichtig.

      Ein Monster, sagte ich, wäre vielleicht gar nicht nötig gewesen, und schwieg das höfliche Schweigen, das man schwieg, wenn man jemand anderem eine Serie nicht vermasseln wollte.

      Er schaute in die Ferne, wo ein paar orange Ameisen in Richtung Militärgelände liefen.

      Ich fragte ihn, ob das nicht nervte. Aufpassen, dass wir nicht verloren gingen.

      An und für sich nein. Es gab natürlich immer ein paar Passagiere, die irgendwas pflückten oder die Wanderwege verließen, aber wenigstens war unter seiner Wacht noch niemand von einem Eisbären angefallen worden, auch wenn das an den Bären lag, ganz sicher nicht an den Menschen. Die meisten liefen wie lebendige Schaschlikspieße durch die Gegend. Sie trampelten auf hundert Jahre alten Bäumen herum und waren beleidigt, wenn man nicht nah genug an die Tiere heranfuhr.

      Einen Stinker gab es immer, sagte ich.

      Einen?, lachte Connor. Er hatte mal eine Gruppe Buddhisten begleitet, die in der sibirischen Tundra ein Meditationscamp abhalten wollten. Vier Tage Dauermeditation. Insgesamt waren eintausend Leute angereist. Jeden Morgen gab es eine Schlange vor den Mitarbeiterduschen. Die russischen Buddhisten, sagte er, hatten ein System. Einer von denen stellte sich in die Schlange und hielt den Platz für ein paar seiner Kumpel frei. Der nach ihm kam, machte das Gleiche. Wenn man Pech hatte, war man an vierter Stelle und kam trotzdem nicht dran.

      »Und was haben Sie getan?«

      »Als wir zwei Tage ungewaschen waren, haben wir es genauso gemacht wie die.«

      Ich schaute ans entlegene Ufer. Die ersten orangen Punkte stiegen in ein Boot, das sie zurückbringen würde. Zwei Passagiere kamen den Berg hoch und verwickelten Connor in ein Gespräch. Ja, das Eisvorkommen hatte das Rekordtief von 2012 erreicht, sagte er. Nein, die neuen Satellitenbilder waren noch nicht da. Ja, es gab Eisbrecher vor der kanadischen Küste. Nein, die waren nicht für uns zuständig. Ja, bisher war noch kein Schiff durchgekommen. Nein, das Problem lag nicht im Lancastersund, es lag im Larsensund.