Название | Beinahe Alaska |
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Автор произведения | Arezu Weitholz |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783866483866 |
Die dritte Variante, die aber nicht garantierte, dass man in Ruhe gelassen wurde, war: Ich kann keine Kinder bekommen. Oder: Es hat nicht geklappt. Aber selbst da gab es Menschen, die nachfragten. Wie man es drehte oder wendete, Kinder waren nur dann ein Thema, wenn man selber welche hatte.
Doch genug von ihm, sagte George. Er würde mich ja langweilen. Aber ach, da kam sie ja schon.
Ich drehte mich zur Tür und sah die gute Agnes, eine Katastrophe um die sechzig mit schwarz gefärbtem, schulterlangem Pagenkopf, auf uns zusteuern. Sie trug eine braun-blaue Fleecejacke, graue Regenhosen und Wanderschuhe. Das blasse, rechteckige Gesicht zerteilte eine ebenfalls rechteckige schwarze Brille, ihre Mundwinkel hingen. Sie ging, wie ein Wagen der Straßenreinigung fuhr. Gerade, ohne anzuhalten. Sie grüßte mich nicht unbedingt freundlich, ihr Grunzen war eher auf der mürrischen Seite von unfreundlich.
Ich nahm es ihr nicht übel. Wenn man jemanden pflegte, saß man im Zug des Lebens mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Man sah nicht nach vorn, man schaute in die Welt des Abschieds, der Krankheit. Man sah Windelsorten. Dekubitus-Matratzen. Wundverbände. Rollatoren. Krankenhausparkplätze. Wartezimmerstühle. Man führte Gespräche mit Menschen, die man als Gesunder nie treffen würde. Andere Angehörige. Krankenschwestern. Pfleger. Sanitätshausvertreter. Wundverbandassistenten. Ein kranker Mensch färbte einem die Wäsche. Es war in etwa das Gegenteil vom Kinderhaben, dieses ständige gemeinsame Schauen ins Ende.
Ich lächelte. Agnes verzog keine Miene, dachte wohl, ich wolle mich lustig machen. Man sah mir nicht an, dass ich ihre Welt nur zu gut kannte. Sie musterte mich von oben bis unten wie jemand, der etwas nicht kaufen wollte, und sagte zu George, nun sei es aber höchste Eisenbahn, seine Spritze, was das denn solle, dass er hier unten rumsäße, mit jungen Damen plaudern könne er ja wohl auch zu Hause. Sie zog ihn aus dem Sessel. Er pfiff, schnaubte und keuchte. Sie ging einen Schritt zur Seite. Er angelte nach dem Stock, drehte sich noch mal zu mir um und sagte mit gepresster Stimme: »Einen schönen Abend noch!« Die gute Agnes stand bereits an der Tür. Sie pfiff nach ihm wie nach einem Hund und machte ein Zeichen, er solle sich beeilen. George humpelte schneller.
Ich packte meine Sachen zusammen und ging an Deck. Eine weiche Brise strich über mein Gesicht. Neben dem Schiff sah ich die Küste, ein rabenschwarz gefüllter Umriss in einer dunklen Welt. Ich atmete tief ein. Die Luft roch nach nichts.
Blattläuse
Ivittuut, Grönland
Ein Lichtstreifen schimmerte zwischen dunklem Meer und dunklem Himmel. Ich sah auf die Uhr, es war fünf Uhr morgens. Der Motor brummte, aber nein, es war nur die Lüftung. Als ich aufstand, spürte ich die Bewegungen des Schiffes, ein sanfter Hub. Ich zog mich an und ging nach oben.
An Deck klatschte mir eiskalter Wind wie ein feuchter Lappen ins Gesicht. Ich hielt mich am nächstbesten Geländer fest. Mit einem Rums fiel die Tür hinter mir zu. Böen zerrten an meiner Kapuze. Ich drückte mich die Treppe zum Oberdeck hoch, hangelte mich nach vorn und stellte mich in den Windschatten des weißen Häuschens am Bug. Langsam hob und senkte sich die Welt. Hoch und runter, wie in Zeitlupe, fuhr das Schiff aus der eiskalten Nacht in den eiskalten Morgen.
Ich stellte mir vor, wie der Wind die Spinnweben aus meinem Kopf pustete, das Archiv entstaubte und nicht fertig gedachte Gedanken, offene Fragen und sinnlose Enden mitnahm.
Es müsste möglich sein, Erinnerungen wegwehen zu lassen. Hier, liebe Windbö, auf diesen Moment kann ich verzichten. Könntest du bitte die Tränen mitnehmen und das Blut? Die Kälte der Fußbodenkacheln an meinem Gesicht? Den Ball aus rostigen Nägeln, der sich in meinem Unterleib drehte? Ich hätte noch eine ganze Reihe, aber diesen Moment, den nimmst du bitte zuerst, ja?
Ich war zu dünn angezogen, fror an den Beinen, und meine Nase lief, aber ich wollte nicht wieder in die Kabine, ich wollte hier stehen bleiben und durchweht werden und sehen, wie das Schwarz aufhörte, Schwarz zu sein. Es war gang und gäbe, dass man Babys verlor. Es war wichtig, darüber nicht wehleidig zu werden. Bald tauchten dunkelgraue Silhouetten auf, die Küste Grönlands. Es rauschte und brummte. Schwarz wurde zu Grau und langsam zu einem milchigen Weiß, in das jemand graues Farbpulver gestreut hatte.
Du musst unter Leute, hatte man mir gesagt. Immer nur allein, das tut nicht gut. Also hatte ich mir einen Schreibtisch in einer Büroetage gemietet. Von meinem Platz konnte ich einen Fetzen Himmel sehen, aber nur, wenn ich meinen Kopf drehte und mit dem Stuhl nach hinten kippelte, als wäre ich eine Topfpflanze auf der Suche nach Sonnenstrahlen. Diese Bewegung war so frustrierend, dass ich den Schreibtisch nach wenigen Wochen wieder aufgab.
Von Weitem hatte Ivittuut ausgesehen, als hätte jemand rote, gelbe und blaue Farbkleckse in den grauen Fels gemalt. Aus der Nähe erkannte man, dass die Farbe von den bunten Häusern abblätterte, die Zäune waren vom Wetter angefressen, das Holz war verrottet, die Fensterläden hingen schief, Scheiben fehlten, Dächer hatten Löcher.
»Ich will da hoch«, sagte die Dame mit den roten Haaren vom ersten Abend. Sie zeigte auf den Berg vor uns. Sie hielt einen dunkelbraunen Rucksack vor den Bauch und lehnte sich zurück. Ihre Pose erinnerte mich an einen Großgrundbesitzer. Ungeduldig trat sie von einem Bein aufs andere. Ihre Freundin oder Reisebegleitung schwieg. Die zwei sprachen mit österreichischem Dialekt, so viel hatte ich auf dem Tenderboot mitbekommen. Sie hatten sich als Einzige gestern Abend zum Essen schick gemacht. Schuhe mit Absatz, Schmuck. Lippenstift. Perlenkette. Vielleicht waren sie Freundinnen. Vielleicht eine Zweckgemeinschaft. Vielleicht war es ein und dasselbe.
Tomek, der polnische Expeditionsleiter, bat um Ruhe. Gleich könnten wir loslaufen, aber erst würde er die Lage erklären, zu unserer eigenen Sicherheit. Hier gebe es nämlich Moschusochsen, und die seien nicht ungefährlich.
Wer als Einziger die letzte Eiszeit überlebt hatte, war garantiert kein Kuscheltier, dachte ich.
Moschusochsen konnten nur gehen oder galoppieren, sagte Tomek. Wenn sie Angst hatten, rannten sie wie die Irren auf das zu, was ihnen Angst machte. Zum Beispiel auf Passagiere in orangen Jacken. Ich schaute mich um. Wir hatten von der Reederei knallorange Windjacken bekommen. Das Gelände sah aus, als wäre es von orangen Blattläusen befallen. In den Zwischenräumen der kargen grauen Felslandschaft krabbelten kleine orange Punkte herum wie Ameisen auf der Suche nach Nahrung. Fetzen von Nebel hingen am Berg. Da oben hielt sich wohl die Herde versteckt, sagte Tomek. Kleine Wölkchen hingen über den graubraunen, nassen Steinen, über den feuchtgrünen Grasbänken, den verwitterten Häusern und den dunkelgrauen Holzbaracken – das Land war aus der Sauna gekommen und dampfte so vor sich hin.
Die Häuser waren die Überreste eines Minendorfes. Da lebte keiner mehr, nur ein verrückter Däne hatte hier sein Ferienhaus, der war aber gerade nicht da. Früher war hier nach Silber geschürft worden, später nach Kryolith, das man zur Herstellung von Aluminium brauchte. Kein Prius ohne Kryolith, sagte Tomek.
Die Rothaarige verzog den Mund und rollte mit den Augen.
Das, sagte Tomek und zeigte auf den See hinter uns, war die geflutete Mine. Da nicht hingehen. Auch nicht da hinten ans Ufer, da begann das Militärsperrgebiet. Er erklärte, wo sich die anderen Expeditionsleiter befanden und dass jeder von ihnen ein Gewehr dabeihatte.
»Können wir jetzt endlich los?«, fragte die Rothaarige. Tomek nickte, und alle setzten sich in Bewegung, wie Schüler auf Klassenfahrt. Die meisten eilten den Berg hoch, um möglichst viel Abstand zwischen sich und die anderen zu bringen.
Ich blieb stehen. Ich hatte mal eine Geschichte über die Distanz gelesen. Da ging es um den Abstand, den Menschen gerade noch so tolerierten, ohne aggressiv zu werden. In Arabien rückten einem die Leute dichter auf die Pelle als beispielsweise in New York. Der optimale Abstand hieß Intimdistanz. In der Psychologie gab es sogar ein Wort für diese Forschung: Proximität. Wurde die Intimdistanz verletzt, reagierten Menschen mit Angst oder Wut. Der ständige Stress im Alltag entstand bei vielen durch häufiges U-Bahn-Fahren; viele nahmen keine Weite mehr wahr, weil sie dauernd ins Handy starrten. Deswegen wollten Touristen auch dauernd Abstand gewinnen, wenn