Beinahe Alaska. Arezu Weitholz

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Название Beinahe Alaska
Автор произведения Arezu Weitholz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783866483866



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der asiatisch aussehende Mann an der Leuchtschranke. Die erste ging durch. Eine metallene Stimme sagte: »Welcome.«

      Meine Kabine lag auf Deck 7 am Ende eines langen Ganges. Links befand sich ein halbrundes Bad, und hinter der Längsseite des Bettes gab es ein großes Fenster, dessen Form an den Bildschirm eines Röhrenfernsehers aus den Sechzigerjahren erinnerte. Auf dem Bett lag mein Koffer, der mich irgendwo zwischen dem Unterdeck und hier überholt hatte. Ich überlegte, auszupacken, doch vor dem Fenster begann die Luft zu flirren, roséfarben und hellgrau. Ich griff meine Kameratasche und rannte nach oben.

      Eine Stunde später stand ich noch immer an Deck und starrte wie die anderen Passagiere bedeppert in den Himmel. So in etwa musste man sich wohl einen LSD-Trip vorstellen: Die Welt war ein pastellfarbener Acid-Traum. Eben waren die Felsen noch braun, jetzt schimmerten sie pink. Ich konnte weit schauen, weit hinaus in den Fjord, wo die Konturen der zerklüfteten Felsen und die Bergketten so deutlich zu sehen waren, als hätte sie jemand mit einer Rasierklinge in den eisblauen Abendhimmel gestochen. Selbst das Meer war kein Meer, sondern eine Masse aus zähflüssigem Öl, in der sich in hellsten Neonfarben alles spiegelte: der hellblaue Himmel, die fliederfarben schimmernden Berge, die vom Sonnenlicht gelbgoldenen Wolken. Die Metallverkleidung des Schornsteins leuchtete kupferfarben, der schwarze Rumpf schimmerte lila. Leise zog das Schiff durch den Fjord, wie ein Messer durch weiche Butter. Wir hinterließen schimmernde Rillen im dunkelblau-schwarzen Wasser. Ich schaute zurück und stellte mir ein Band vor, das sich zwischen mir und dem Land spannte und immer dünner wurde, bis es zerriss.

      Herr Mücke

      Vor dem Restaurant empfingen uns ein Mann in dunkelblauer Uniform und der Koch. Jeder hielt einen Bestäuber in der Hand. Unschlüssig blieb ich stehen.

      »Das ist Desinfektionsmittel, damit wir uns nicht alle mit Grippe anstecken«, sagte eine weibliche Stimme hinter mir. Ich drehte mich um.

      »Nun gehen Sie doch schon weiter, Sie halten den ganzen Verkehr auf.« Die kleine rothaarige Frau schaute mich von unten an, sie wedelte mit ihrer Hand nach vorne, als sei ich ein Page und ihr im Weg. Ihre Augenbrauen waren gezupfte Halbmonde, die Oberlippe ein feiner Strich, ein mürrischer Lippenstiftbogen hing zwischen prallen Wangen, die sich geweigert hatten, mit dem Rest des Gesichts zu altern.

      Ich ging einen Schritt vor, hielt dem Koch meine Hände hin, ließ mich besprühen und fragte mich nicht zum ersten Mal vergeblich, woran andere deutschsprachige Menschen sahen, dass auch ich einer war. Ich sah nicht deutsch aus. Ich hatte dunkelbraune Augen und eine prominente Nase, die manche Leute apart, ich hingegen auberginenförmig fand. Mein Teint war eher oliv als rosa, und ich hatte lange dunkle Haare. Ich sah türkisch aus, spanisch, italienisch, portugiesisch. Ging ich deutsch? Zog ich mich deutsch an? Ich sah an mir hinunter. Graue Jeans, braune Wanderschuhe, weißes T-Shirt, schwarzer V-Neck-Pulli. Ich sah nicht aus wie die anderen Menschen hier und schon gar nicht wie die mit den roten Haaren. Oder doch? Hatte ich mit Mitte vierzig bereits den Blick für mich verloren? Das Tragische am Älterwerden war ja, dass man es als Letzter merkte, wenn es einen erwischte. Viele meiner Kollegen sprachen vom Alter als unheilbarer Krankheit und benahmen sich zugleich, als seien sie dagegen immun. Männer Ende vierzig leasten plötzlich Maseratis, lästerten aber über gleichaltrige Frauen, die es wagten, ihre gute Figur zu behalten: »Hinten Lyzeum, vorne Museum.« Es war sinnlos, ihnen erklären zu wollen, dass das Älterwerden bei Frauen anders ablief: Frauen hatten keine Krisen. Frauen hatten Gedanken.

      Vor den Fenstern des Restaurants zog die Aussicht vorbei: ein violetter und golden-pinker Himmel, der von weißen Wolkenschlieren und pastellfarbenen Wischflächen durchzogen wurde. Darunter schwappte lackledernes Wasser, doch langsam verschwand der Glanz aus den Farben, als würde jemand Puder über die Welt tupfen.

      Passagiere in Funktionskleidung warteten mit leeren Tellern an den Vitrinen und Tresen. Ein stetes dumpfes Brummen mischte sich mit Stimmengemurmel und dem Klappern von Besteck auf Porzellan. Ich spazierte um das Buffet. Von allem gab es zu viel: Fisch, Fleisch, warm, kalt, süß, salzig, Vorspeisen, Kaffee, Brot, Käse. Ich betrachtete die anderen Gäste und fragte mich, was jeden einzelnen von ihnen dazu bewogen hatte, an die fünfzehntausend Euro zu bezahlen, um hier zu stehen.

      Ich hatte irgendwann eine Theorie entwickelt, warum Menschen wegfuhren. Ein Drittel der Menschen ging auf Reisen, um etwas zu entdecken (betrüblicherweise wussten sie oft vorher, was). Das zweite Drittel reiste, um sich von zu Hause zu erholen (es war unwichtig, wo sie hinfuhren, Hauptsache, das Andere war angenehmer, wärmer und freundlicher als ihr Zuhause). Der Rest fuhr hinterher. Also: Die Frau wollte irgendwohin, der Mann dann auch. Oder: Die Nachbarn waren schon mal da, in dieser Saison fuhr man dorthin und so weiter und so fort.

      Doch die Leute hier? Es mochte daran liegen, dass sie sich ähnlich kleideten, viele im gleichen Alter waren, um die sechzig. Sie trugen Praktisches in knalligem Petrol, leuchtendem Gelb, grellem Violett. Der Tarnung konnten diese Farben nicht dienen, es sei denn, sie hatten vor, jede Nacht durch den Sonnenuntergang zu fliegen. Vielleicht gab es bei Expeditionskreuzfahrern so wie bei Surfern eine Art Kleidungskodex – hier, so ziehen wir uns an, damit ihr wisst, wer wir sind. Wir sind die, die wandern. Wir sind die, die im Regen und in der Kälte nicht frieren. Wir suchen die Kühle, die Nässe, die Hänge, wir haben Wadenmuskeln, ihr habt Handtaschen. Wir sind aktiv, ihr seid bloß interaktiv. Aber interessierte sich das Pärchen am Pfannkuchenstand für die Nordwestpassage? Hatten sie Die Entdeckung der Langsamkeit gelesen oder Meine Reise mit der Gjöa? Kannte der Mann am Käse das arktische Licht und wollte wieder hin, in diese ferne Region, die man als Nicht-Wissenschaftler am einfachsten mit Passagierschiffen wie diesem hier erreichte? Freuten sich Mutter und Tochter am Gulasch auf die Klimavorträge? Oder auf das Gulasch? Wer von ihnen würde am Fenster stehen und dem tauenden Permafrost dabei zusehen, wie er taute, und dabei denken: Hier stimmt doch was nicht?

      In Douglas Adams’ Per Anhalter durch die Galaxis gibt es ein Restaurant am äußersten Ende der Zeit, dessen Gäste jeden Abend den Untergang des Universums beobachten. Kurz bevor alles in einem Schwarzen Loch verschwindet, fliegen sie mit Lichtgeschwindigkeit in Sicherheit, und am nächsten Abend nehmen sie erneut ihre Plätze ein, um den Untergang zu beobachten. So würde es hier nicht sein. Es gab kein Raumschiff, das uns in Sicherheit bringen würde. Die Welt ging auch nicht mit einem Knall unter, sondern Zentimeter um Zentimeter. Die Erosion fraß die Küsten, die Eiskappen schmolzen, die Temperatur stieg. Ich sah hinaus. Da war eine Küste, da war das Meer, da war der Himmel.

      Ich fand einen freien Platz ohne direkte Nachbarschaft zu Pärchen oder Gruppen, zwängte mich zwischen zwei festgeschraubten Tischen bedrohlich nah an den Weingläsern vorbei und entschuldigte mich bei dem älteren Herrn, der am Fenster saß und sich höflich erhob, als ich mich neben ihn setzte. Er hieß Herr Mücke, war so um die siebzig, trug einen roten Pullunder, darunter ein gestreiftes Hemd. So stellte ich mir Alfred Wegener vor, so akkurat.

      Ich wünschte ihm guten Appetit, und er widmete sich wieder seinem Hühnerbein, das er sorgfältig mit Messer und Gabel zerteilte. Ich fand es herrlich, wenn jemand ein Hühnerbein mit Messer und Gabel aß, so wie ich es nicht ausstehen konnte, wenn Menschen keine Tischmanieren besaßen. Selbst in den guten Restaurants saß man zwischen Schaufelbaggern, Buckligen und Gichtkranken, die ihr Besteck so hielten, als wollten sie damit jemanden erdolchen.

      Ich bestellte einen Wein und ignorierte meinen knurrenden Magen. Buffets setzten mich unter Druck. Allein im Restaurant zu sein, setzte mich unter Druck. Es müsste ein Schild für alleinstehende Frauen geben: »Bitte nicht füttern, anbaggern oder anstarren«. Im Kleingedruckten stünde da noch: »Liebe Gattinnen, diese Frau hat kein Interesse an Ihrem Mann (Echt nicht! Behalten Sie ihn bitte!). Liebe Mütter kleiner Kinder, dieser Frau geht es nicht automatisch besser, weil sie ausschlafen konnte. Bitte stellen Sie Ihre Kinder auf lautlos und führen Sie sie an der Leine.« Obwohl, nein. Es müsste kostenfreien Roomservice für allein reisende Frauen geben. Weltweit, in allen Preisklassen. Kommen Sie mir nicht mit Anschluss und Leute kennenlernen oder irgend so einem Gefühlsmist. Wenn man einsam ist, bleibt man einsam, auch im Ausland. Urlaubsbekanntschaften sind Bekanntschaften, die in den Urlaub gehören. Wer in den Neunzigern die wahre Liebe zum griechischen Kellner im Robinson Club auf Samos erlebt hat, weiß, wovon ich spreche. Keiner