Gefangen in Abadonien. Harry Voß

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Название Gefangen in Abadonien
Автор произведения Harry Voß
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783955683108



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seines Umhangs und zog ihn nah an sein Gesicht heran: »Du Schuft! Du hast meine Schwester auf dem Gewissen! Und ihren Bruder!« Er zeigte mit seiner freien Hand auf Silva. »Du wirst uns jetzt sofort sagen, wohin sie die beiden gebracht haben!«

      Die nackte Angst stand dem alten Mann mit den dünnen weißen Haaren und den trübe wirkenden Augen ins Gesicht geschrieben: »Ich weiß gar nichts! Ehrenwort! Ich weiß gar nichts!«

      »Ehrenwort?« Akio schüttelte den Mann. »Was willst du von einem Ehrenwort wissen? Sag uns sofort, wohin man Agnus und Adelia gebracht hat!«

      »Ich weiß nichts, ich bin unschuldig!«, winselte der Alte.

      »Deine Augen lügen, das sehe ich!«

      Der Alte schaute hektisch zwischen Akios Augen hin und her. Dann formten sich seine Lippen plötzlich zu einem kleinen, hoffnungsvollen Grinsen: »Du bist der dritte Goldblüter!«

      Akio schüttelte den Alten noch einmal und kam ihm mit seinem Gesicht so nahe, dass er den Gestank aus seinem Mund riechen konnte: »Ja, das bin ich. Und glaub mir, ich bin bereit, alles Mögliche zu tun, um meine Schwester zu befreien. Und du wirst mich zu ihr bringen!«

      Der Alte zitterte, aber er grinste nun noch breiter, wobei seine halb verfaulten Zähne sichtbar wurden. Die spitzen Eckzähne sahen noch erstaunlich gesund aus. Ob er sich auch hin und wieder am Blut von Tieren oder gar Menschen bediente? »Ich … ich kann dich zu ihnen bringen! Ich weiß, wo sie sind!«

      »Und wo?«

      »In Gomorra.«

      »Gomorra?« Akio bekam allein bei der Erwähnung dieses Namens eine Gänsehaut. »In der größten und schrecklichsten Stadt Abadoniens?«

      »Ja.«

      Akio schaute zu Silva hinüber, die bisher stumm das Gespräch und Akios tätlichen Angriff auf den Bettler beobachtet hatte. »Ich weiß, wo das ist«, sagte sie mit finsterem Gesicht.

      »Die Stadt ist groß«, sagte der Alte mit zittriger, aber hoffnungsvoller Stimme. »Ihr würdet dort allein nicht zurechtkommen. Ihr würdet das Quartier meiner Herren niemals finden.«

      »Und du würdest es uns zeigen?«, fragte Akio streng.

      »Ja!«

      Der freundliche, vertrauensvolle Ton, mit dem der Alte geantwortet hatte, verwunderte Akio. Und die plötzliche Hilfsbereitschaft ebenfalls. Aber eine andere Chance sah er nicht. Wieder schaute er kurz zu Silva. Die zuckte merkwürdig mit einer ihrer Augenbrauen. Das deutete er mal als Zustimmung.

      »Gut, dann los.« Akio ließ den Mantel des Bettlers los und der Alte torkelte ein paar Schritte nach hinten, bis er sich wieder gefangen hatte. »Aber nicht abhauen«, fügte Akio noch hinzu. »Und keine Tricks.«

      »Nein. Keine Tricks.« Es sah fast aus wie eine Verbeugung, als der Alte mit unheimlichem Grinsen seinen Kopf nach vorne beugte.

      Pollum quiekte noch einmal laut auf und sprang gezielt an die Hüfte des Spähers und von dort an die Gitterstäbe des kleinen Käfigs. Wütend fauchte er in den Käfig hinein, als wollte er Feuer speien. Der Goldleppid im Inneren fauchte zurück, hielt sich aber an den Gitterstäben an der gegenüberliegenden Seite des Käfigs fest.

      »Pollum, komm hierher!«, befahl Akio und klopfte auf seinen Arm. Pollum gehorchte, sprang auf Akios Schultern und schimpfte von dort aus noch etwas Unverständliches, Freches dem Goldleppid zu, der seinerseits erleichtert darüber zu sein schien, dass er wieder seine Ruhe hatte.

      »Hanna, wo bist du?«

      Alex schaute in jeden Busch rund um den Spielplatz, lief in jede angrenzende Seitenstraße hinein und wieder zurück. Keine Hanna.

      Er rannte zurück bis zum Logopäden, rief unterwegs laut nach seiner Schwester, befragte jeden Passanten, der ihm begegnete, ob er ein sechsjähriges Mädchen mit einem blauen Anorak und einer rosa Wollmütze gesehen hätte. Nein, niemand.

      Alex stürmte sogar in die Praxis des Logopäden und fragte, ob Hanna vielleicht zurückgekommen sei. Die Sprechstundenhilfe bekam ein sorgenvolles Gesicht: »Sollen wir die Polizei anrufen?«

      »Nein, nein. Ich find sie bestimmt noch. Falls nicht, ruf ich nachher selbst die Polizei.«

      »Ruf uns bitte an, wenn Hanna aufgetaucht ist, ja?« Die Frau schien sich echt Sorgen zu machen. Nahm die jedes ihrer Patientenkinder so ernst?

      »Ja, ist gut. Danke, tschüss!«

      Wieder zurück zum Spielplatz: »Hanna!« Und noch mal aus Leibeskräften: »Haaannaaaa!!«

      Er versuchte so angestrengt wie möglich zu lauschen, ob zwischen all dem Lärm aus Autos und Menschen etwas wie ein Rufen, Weinen oder einfach ein Hanna-Wiedererkennungs-Geräusch zu hören war. Nichts.

      Langsam stieg Panik in ihm auf. Was sollte er seiner Mutter sagen, wenn er Hanna nicht wiederfinden würde?

      Er lief in Richtung Zuhause. Vielleicht war sie schon alleine nach Hause gegangen. Eigentlich war das unmöglich, denn sie kannte den Weg nicht. Als er einige Straßen weit gelaufen war, blieb er stehen. So weit könnte Hanna niemals ohne ihn in der letzten Zeit gekommen sein. Wer könnte ihm jetzt noch helfen? In einer leeren Seitenstraße brüllte er laut heraus: »Hey, du Schicksal! Du Zufalls-Herbeiführer! Hast du bitte noch mal ein Zeichen für mich? Wo ist Hanna? Wo soll ich nach ihr suchen? Hä?«

      Er schaute sich hektisch in alle Richtungen um. Natürlich hing da kein Plakat mehr. Kein Kalender. Kein Mann mit Handy, der ihm so was wie »Mach dir keine Sorgen, sie sitzt gemütlich zu Hause vor dem Fernseher« zurief. War ja klar.

      Alex rannte zurück zum Spielplatz. Dann sah er sich erneut um. In welcher der Seitenstraßen hatte er noch nicht nachgeschaut? Hm. In alle war er schon zwei- bis dreimal rein- und wieder rausgelaufen. Aber in der einen hatte er noch nicht alle Querstraßen abgeklappert. Also versuchte er es dort noch einmal. Als er in die zweite Seitenstraße hineinschaute, sah er Elena dort entlanggehen, die mit ihm im selben Haus wohnte, nur zwei Stockwerke unter ihm. Sie war genauso alt wie er, ging aber auf eine andere Schule. Als Kinder waren sie manchmal vor dem Haus ein bisschen zusammen Fahrrad oder Inliner gefahren. Aber seit sie auf den weiterführenden Schulen waren und Elena immer weiblichere Züge annahm, hatten sie kaum mehr miteinander gesprochen. Manchmal war es ihm sogar peinlich, wenn sie sich im Hausflur trafen und aneinander vorbeigehen mussten. Elena wirkte schon so reif und erwachsen. Sie roch nach Parfüm, trug Kleidung wie eine Studentin und wirkte mit ihren blonden, zu einem Pferdeschwanz locker zusammengebundenen Haaren bereits wie Anfang zwanzig. Alex dagegen, der sich nachmittags mit seiner Schwester Hanna beschäftigte, mit ihr im Wohnzimmer Bauklötze spielte oder ihr Geschichten erzählte, kam sich dabei wie ein kleiner Schuljunge vor. Als wäre er irgendwo in der Kindheit stecken geblieben, während Elena jedes Jahr um zwei Jahre älter geworden war. Hatten sie sich früher als zwei Achtjährige getroffen, so begegneten sich jetzt, mit fünfzehn, ein Zehnjähriger und eine Zwanzigjährige.

      »Hast du Hanna gesehen?«, rief er ihr zu, sobald er sie erkannte.

      »Hanna?«, rief sie zurück. »Ja, sie war vorhin hier!«

      Eine Spur! Ein Hinweis! Alex’ Herz machte Freudensprünge. Schnell ging er auf Elena zu. »Wo genau?«

      »Da hinten, am Ende der Straße hab ich sie getroffen. Ich hab mich noch gewundert, sie ganz ohne euch zu treffen, und hab sie gefragt: ›Bist du ganz allein?‹, da hat sie gesagt, sie sei mit dir unterwegs. Na ja, und da hab ich gedacht, du bist hier auch irgendwo.«

      »Wo ist sie hingegangen?«

      Elena rieb sich mit einer Hand die Stirn. »Puh. Wohin?« Sie schaute in die Richtung, aus der sie selbst gerade gekommen war. »Ich glaub, da hinten an den Häusern vorbei Richtung Waldrand.« Sie sah Alex sorgenvoll an. »Schlecht, oder?«

      »Könnte schlechter sein«, japste Alex und setzte sich sofort in die angegebene Richtung in Bewegung. »Immerhin schon mal ein Hinweis! Danke!«

      »Soll