Gefangen in Abadonien. Harry Voß

Читать онлайн.
Название Gefangen in Abadonien
Автор произведения Harry Voß
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783955683108



Скачать книгу

zwei Häusern gab es einen schmalen Fußweg, der hinter den Häusern über eine Wiese in Richtung Wald führte. Allerdings war das, was man Wald nennen konnte, noch ziemlich weit weg. Es gab da etwas Geröll, teilweise steile Hänge, viel Wiese, immer wieder Bäume, kleine Schrebergärtchen. Aber ein wirklicher Wald war zu weit weg. So weit würde Hanna niemals kommen.

      Alex rannte los. An den Häusern vorbei, immer auf dem angezeigten Weg entlang. Dann endlich – in einiger Entfernung hockte Hanna am Wegesrand und streckte ihre Hand ins Gras, als würde sie dort etwas suchen. »Hanna!«, brüllte er aus Leibeskräften und rannte schneller. Kurz bevor er sie einholte, sah er, wie vom Wegrand aufgeregt ein Eichhörnchen davonhüpfte.

      »Da, Alex!« Hanna zeigte auf das kleine Tierchen, das mit gezielten Sprüngen auf einem der nächsten Bäume landete und dort flink nach oben kletterte. Sie wunderte sich kein bisschen darüber, warum Alex so rannte oder aufgeregt war. »Lieb!«, beschrieb sie das beobachtete Tierchen. Sie strahlte Alex an, als wäre er gerade mal eben für eine Minute weg gewesen.

      »Hanna, du solltest doch nicht weglaufen!« Er wollte nicht schimpfen, aber vor lauter Aufregung war seine Stimme doch viel zu laut geworden.

      Hanna schaute ihn erschrocken an. »Hanna nicht weglaufen«, sagte sie etwas eingeschüchtert. »Der da weglaufen!« Sie zeigte auf das Eichhörnchen. »Hanna Alex zeigen! Mitnehmen! Zu Hause! Spielen!«

      Alex stöhnte leicht auf. »Nein, Hanna. Wir können kein Eichhörnchen mit nach Hause nehmen. Du siehst doch: Das läuft immer weg.«

      »Nein. Nicht weglaufen. Küsschen geben.«

      Was? Wer wollte hier wem Küsschen geben? Hanna dem Eichhörnchen? Oder war das Eichhörnchen vor der kleinen Hanna so handzahm geworden, dass es ihr schon Küsschen gegeben hatte? Wie hieß noch gleich dieser Heilige, der sein Leben mit Tieren verbracht hatte? Franz von Assisi? Diesem Kerl stand Hanna in nichts nach. Wie auch immer. Jetzt war Hanna zumindest gefunden und jetzt wollte Alex kein Risiko mehr eingehen.

      »Komm, Hanna, wir gehen nach Hause.« Er nahm ihre Hand.

      »Ja.« Bereitwillig machte sie sich mit ihm auf den Weg.

      »Alex Geschichte erzählen«, bat sie, kaum dass sie ein paar Schritte gegangen waren.

      »Jetzt gehen wir erst mal nach Hause.« Nach dieser Aufregung war Alex nicht in der Stimmung, Geschichten zu erzählen.

      »Geheime Geschichte vorlesen«, sagte Hanna und legte gleich den Zeigefinger ihrer freien Hand an den Mund. »Pssst, geheim!«

      Alex grinste. »Das hast du dir behalten, was?«

      »Ja«, antwortete sie stolz.

      Alex griff in seine Jackentasche nach dem Notizbuch. O Schreck. Es war weg. Sofort ließ er Hanna los und griff in die andere Tasche. Leer. Nein. Das durfte nicht wahr sein. Schon wieder stieg sein Adrenalinspiegel in die Höhe. Hosentaschen, Jackeninnentaschen, nichts.

      »Mein Notizbuch ist weg!«, schrie er laut auf.

      Hanna erschrak. »Notizbuch?«

      »Mein geheimes Geschichtenbuch! Es ist weg!«

      »Wo denn?«

      »Das weiß ich ja nicht! Es ist weg!«

      Was hatte auf dem Kalender gestanden: »Du wirst einen unvergesslichen Tag erleben!« Na, sehr schön! Das war wirklich ein unvergesslicher Tag! Aber nicht, weil etwas so unvergesslich Schönes passierte, sondern weil er von einem Schrecken in den nächsten gejagt wurde. War es das, was das unbekannte Schicksal von ihm wollte? Ganz toll! Wirklich ganz toll!

      Das Lagerfeuer leuchtete hell in der Nacht, während die drei Reisenden davor saßen, ihre kalten Glieder aufwärmten und einige ihrer Vorräte aßen. Akio war damit beschäftigt, ein paar Gedanken auf ein Stück Papier zu schreiben. Zwischendurch warf er immer mal dem Blutspäher ein Stück seines Brotes zu, worauf sich dieser stürzte wie eine Ratte auf ein Stück Speck. Angewidert verzog Akio das Gesicht, als er sah, mit welcher Gier der Alte die wenigen Speisen verschlang. Pollum flitzte über den Boden und schnappte nach Glühwürmchen und anderen Insekten, die vom Feuer angelockt wurden. Silva hielt in der einen Hand einen angebissenen Apfel, in der anderen einen kleinen, ovalen Gegenstand aus Gold an einer Kette, den sie gedankenverloren betrachtete.

      »Was hast du da?«, fragte Akio.

      Silva schreckte auf. »Geht dich nichts an!« Schnell hängte sie sich die Kette um den Hals und steckte den goldenen Anhänger unter ihr Hemd. Dann sah sie zu Akio hinüber, der schon wieder in sein Papier vertieft war. »Und du? Was schreibst du da eigentlich?« Ihre Miene verriet, dass sie noch nie in ihrem Leben die Notwendigkeit gesehen hatte, etwas aufzuschreiben.

      »Ein Gedicht über Adelia«, antwortete Akio, ohne von seinem Blatt aufzusehen.

      »Echt?« Silva fiel erst jetzt wieder auf, dass sie einen Apfel in der Hand hielt, und biss herzhaft hinein. »Was schreibt man da so?«

      »Willst du’s hören?«

      »Wenn’s nicht zu lang ist.«

      Akio schüttelte schmunzelnd den Kopf. Da hatte offensichtlich jemand überhaupt keinen Sinn für Poesie. Er entschied sich, es ihr trotzdem vorzulesen: »Meine Schwester Adelia. Adelia ist geduldig und freundlich. Adelia regt sich nicht auf, sie prahlt nicht, sie macht sich nicht wichtig. Adelia verletzt nicht, sie denkt nie an sich, sie ist nie beleidigt, sie trägt nie jemandem etwas nach. Adelia freut sich nicht über Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit. Adelia erträgt alles, Adelia glaubt alles, Adelia hofft alles, Adelia duldet alles.«

      Akio sah von seinem Papier hoch und betrachtete die anderen am Feuer. Der Alte kaute an der Brotrinde, die Akio ihm vorhin zugeworfen hatte. Trotzdem hatte Akio das Gefühl, als hätte sein Gedicht etwas in ihm bewegt. Silva spuckte zwei Apfelkerne aus: »Schon fertig?«

      »Ja.«

      Sie nickte anerkennend. »Nicht schlecht.« Sie nickte weiter. »Nicht schlecht.« Sie kratzte mit ihrem Fingernagel Apfelreste aus den Schneidezähnen. »Du kannst statt Adelia auch Agnus einsetzen. Dann würde das hundert Prozent auch passen.«

      Akio lächelte.

      Der Alte brummte, ohne von seinem Essen aufzusehen: »Du kannst den Namen jedes Goldblüters einsetzen und es passt.«

      »Halt die Klappe!«, fauchte Silva ihn an. »Mit dir spricht keiner.«

      Akio schaute sich den Blutspäher näher an. So eine sinnvolle Aussage aus so einem durch und durch verräterischen und verdorbenen Menschen hätte er nicht erwartet. »Könnte sein«, stimmte er ihm zu. »Allerdings würde ich mich nicht trauen, meinen Namen einzusetzen. Ich glaube nicht alles und ich ertrage nicht alles.«

      Der Späher antwortete darauf nicht.

      »Wie heißt du eigentlich?«, fragte Akio.

      Der Alte stopfte den letzten Rest der Brotkante in den Mund: »Ich heiße nicht.«

      Akio runzelte die Stirn. »Du musst doch einen Namen haben.«

      »Wir unter uns haben keine Namen.«

      »Warum nicht?«

      »Wer einen Namen hat, der hat auch eine Persönlichkeit. Einen Charakter. Ein Herz.«

      »Und du willst sagen, du hast das alles nicht?«

      »Nein. Wir sind Diener der Bluträuber und des Moloch. Wir heißen nicht. Wir dienen.«

      Akio malte nachdenklich Muster auf sein Papier. »Aber als du ein Kind warst – da warst du doch noch kein Blutspäher. Oder doch?«

      »Nein.«

      »Wie wurdest du da genannt?«

      Der Alte seufzte und starrte ins Feuer. »Das ist lange her.«

      »Lass ihn in Ruhe«, murrte Silva, die dem Alten nichts von ihrem Essen abgegeben hatte. »Er hat recht: