Mein Herz hört deine Worte. Joanne Bischof

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Название Mein Herz hört deine Worte
Автор произведения Joanne Bischof
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783765575440



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Kurz bevor er verschwand, drehte Haakon sich noch einmal um. „Warum hat Dorothee sie herkommen lassen?“

      Thor zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Das war die einzige Antwort, die er Haakon geben würde.

      „Scheint, als wären wir gleich alt. Habe das herausgefunden, als ich ihr verklemmtes Fenster repariert habe“, ergänzte Haakon. Dabei ließ er bedeutungsschwanger seine Augenbrauen auf und ab hüpfen, als wäre das Fenster nicht das Einzige, dem er sich annehmen wollte. Noch bevor sich Thor eine Antwort ausdenken konnte, hatte Haakon sich bereits umgedreht und war die Treppe hinabgestürmt.

      Nicht wirklich hungrig griff Thor nach dem Einmachglas. Obwohl er kein Verlangen hatte, drehte er den Deckel von der Öffnung, hob das Glas an die Lippen und trank. Unerfüllte Sehnsucht hatte diese Gewohnheit mit der Zeit in ihm reifen lassen. Doch als der Branntwein ihm warm die Kehle hinablief, folgte kein tröstliches Gefühl, und der Alkohol tat nichts gegen die penetrante Erinnerung an Haakons selbstgefälliges Grinsen. Verärgert über seine eigene Schwäche drehte Thor den Deckel wieder auf die Öffnung.

      Dann erhob er sich, setzte das Glas beiseite und brachte ein weiteres Mal das Foto zum Vorschein. Steif von dem langen und harten Arbeitstag lief Thor die Treppe hinab. Der Flur lag beinahe in vollkommener Dunkelheit, allein der Schein von Avas Lampe trat unter ihrer Tür hindurch. Thor ging so vorsichtig, wie er nur konnte. Als sie noch jünger gewesen waren und regelmäßig Unfug ausgeheckt hatten, hatte Haakon ihm gezeigt, welche Bodendielen knarzten. Thor versuchte, nicht auf diese zu treten, und hielt dann vor Avas Tür inne.

      Zögernd legte er seine Handfläche gegen das Holz. Dann senkte er den Kopf und schloss die Augen.

      Da war es. Ein sanftes Beben im Gebälk. Es bewegte sich unter seiner Hand … Der Klang ihrer Trauer. Überwältigt zog sich Thor zurück, dankbar über Idas Anwesenheit. Vielleicht würde sie dafür sorgen, dass Avas Tränen schneller versiegten und sie leichter in den Schlaf finden konnte.

      Nach einem letzten Blick auf das Foto – der Beginn einer Geschichte, über die er nichts wusste und offen gestanden auch nicht verdiente – kniete Thor sich nieder und stellte es in die Nische von Avas Tür. Wenigstens etwas, das er für sie tun konnte.

      Drei

      Nachdem Miss Ida Ava in das Badehaus geführt hatte – ein kleiner Raum, der sich an die Außenwand der Küche schmiegte –, hinkte sie über den Dielenboden zur Badewanne hinüber. Der dazugehörende Wasserhahn wurde aus einem Wasserbehälter gespeist, der mit dem Ofen auf der anderen Seite der Wand verbunden war. Ida drehte an dem Knauf und die Wanne füllte sich mit dampfendem, heißem Wasser. Ava fühlte sich darin wie im Himmel. Sie genoss das Gefühl von Frische an ihrer Haut und in ihren Haaren, während sie sich den Staub der Straße von Kopf bis Fuß abschrubbte. Leider waren all die Erinnerungen an den Grund ihres Kommens nicht so einfach abzuwaschen. Ava verstaute sie tief in ihrem Herzen und versuchte stattdessen, dankbar diesem Tag entgegenzublicken und sich auf das zu konzentrieren, was er noch für sie bereithalten würde.

      Nachdem sie aus der Wanne gestiegen war und sich abgetrocknet hatte, schlüpfte sie in einen Rock, den sie noch aus ihrer Zeit im Armenhaus besaß. An der Taille mussten ein paar Sicherheitsnadeln helfen, damit der Rock ihr nicht über die Hüften rutschte. Ava ordnete den Stoff so an, dass man die Eingriffe nicht auf den ersten Blick erkennen konnte, und stellte sicher, dass der Kragen ihrer düsteren Bluse eng an ihrem Hals anlag. Vielleicht sah sie so etwas streng aus, vor allem in Anbetracht dieses schönen Sommermorgens, aber Ava wollte so unauffällig wie möglich sein.

      In ihrer Reisetasche hatte Ava ein hübscheres Kleid aus hellblauem Bombasin. Obwohl der weite, ausladende Rock eigentlich für einen Reifrock gedacht und damit aus der Mode gekommen war, hatte Ava aus dem Kleid ein ansehnliches und modisches Kleidungsstück zaubern können. Auch die Pagodenärmel hatte sie zu diesem Zweck abgenommen und geändert. Eigentlich hatte sie sich bisher auf eine Gelegenheit gefreut, dieses Kleid zu tragen. Nur heute nicht.

      Der Geruch frisch gebackener Brötchen und heißen Fleisches lockte Ava in die Küche. Als sie eintrat, sah sie Thor am Tisch sitzen. Sein schwarzes Haar hatte er mit einem Lederriemen zurückgebunden und die Ärmel seines Hemdes hatte er bis zu den Ellbogen zurückgeschoben. Gerade nippte er an einer Tasse Kaffee, vor ihm stand sein halb leerer Teller. Nun trat auch Haakon ein, der sich sofort zum Herd wandte und seinen eigenen Zinnbecher füllte. Er lächelte Ava zu.

      „Sie haben wirklich ganz schön rotes Haar“, sagte Haakon, als er ihr den Becher reichte.

      Dankend nahm Ava ihn entgegen und spähte erst in die dampfende Flüssigkeit, dann in Haakons markantes Gesicht. „Und Sie haben ziemlich blaue Augen“, entgegnete sie.

      Grinsend zog er einen Stuhl zurück und setzte sich. „Wir sollten uns duzen, schließlich sind wir eine Familie.“

      Ava goss sich einen Schuss Milch in den Kaffee und nickte zögernd. Dann bereitete sie sich einen Teller mit gebackenen Kartoffeln und Schinken zu. Als sie endlich zu Tisch saß, betrachtete sie ihr Essen, bevor sie eines der Brötchen halbierte. Ihr wurde hier ein so reichhaltiges Mahl angeboten – solch einen Luxus hatte sie noch nie genossen. Das Wasser lief ihr bei dem Gedanken an den ersten Bissen im Mund zusammen, doch bevor es dazu kam, entdeckte Ava das Marmeladenglas. Es stand vor Thor und sah so verführerisch aus, dass sie es nicht ignorieren konnte.

      Ebenso schwer zu ignorieren, aber nicht im Mindesten verführerisch, war das Glas mit Schnaps. Es stand so dicht neben dem Marmeladenglas, als ob sie beide gleich oft beim Frühstück benutzt wurden. Thor hatte die Ellbogen auf dem Tisch abgestützt und las die Zeitung, die er über seinem Teller ausgebreitet hatte. Seine dichten, dunklen Wimpern bewegten sich mit den Worten.

      „Könntest du mir bitte die Marmelade reichen?“, fragte Ava.

      Thor leckte seinen Daumen an und blätterte um. Haakon sah zu seinem Bruder und streckte sich dann aus, um das Glas zu Ava hinüberzuschieben.

      „Danke“, sagte Ava leise, während ihre Augen noch immer auf Thor ruhten.

      Haakon würzte sein Essen nach und sagte: „Er kann dich nicht hören.“

      „Bitte?“, hakte Ava nach.

      „Thor. Er kann dich nicht hören“, wiederholte Haakon und tippte sich ans Ohr. „Er kann überhaupt nichts hören.“

      Avas Blick huschte wieder zu Thor hinüber, der noch immer in seine Zeitung vertieft war. „Kann er nicht?“

      Nachdem Haakon an seinem Kaffee genippt hatte, verzog er sein Gesicht und stand auf.

      Mit erhobener Augenbraue schielte Thor zu seinem Bruder hinüber und stürzte dann sein eigenes Gebräu hinunter. Es war so schwarz wie die Nacht. Haakon griff nach der Zuckerschale und Thor wandte sich nach einem letzten Augenrollen wieder der Zeitung zu.

      Derweil setzte sich Haakon wieder und stellte den Zucker auf den Tisch. „Sieh her …“, sagte er zu Ava und klopfte neben Thors Ellbogen auf den Tisch. Dieser hob sogleich den Kopf.

      Haakon tippte sich mit einem Zeigefinger an das Ohr und dann auf seine Lippen. Anschließend deutete er auf Thor und nach ein paar weiteren Gesten zu Ava. Nun sah Thor sie an und mit einem Mal war ihre gesamte Verwirrung von gestern verschwunden. An ihre Stelle trat Traurigkeit. Ava erinnerte sich daran, welchen Eindruck Thor bei ihr hinterlassen hatte. Mit Haakons Erklärung machte plötzlich alles Sinn.

      Hatte sie ihn wirklich für so imposant gehalten? Tatsächlich hatte er eine stattliche Größe und die filigrane Lehne seines staksigen Stuhls schien in keiner Weise zu dem breiten Rücken zu passen. Und dennoch …

      „Was soll ich tun?“, fragte sie Haakon.

      „Was meinst du?“, antwortete er.

      Noch immer blickte Ava Thor tief in die Augen. „Was kann ich sagen?“, verdeutlichte sie ihre Frage.

      „Du kannst sagen, was du willst. Solange er dich ansieht, kann er deine Lippen lesen“, erklärte der jüngste Bruder.

      Wirklich?