Mein Herz hört deine Worte. Joanne Bischof

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Название Mein Herz hört deine Worte
Автор произведения Joanne Bischof
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783765575440



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Rücken, seine Brust hob und senkte sich schnell. Blut sickerte durch sein Hemd direkt oberhalb des Ellbogens. Jorgan kniete sich neben seinen Bruder und rief nach einer Laterne.

      „Ist er angeschossen worden?“, fragte er mit scharfer Stimme, während er den blutigen Ärmel aufriss.

      Stöhnend richtete Thor sich auf und deutete auf Ava. Noch nie hatte sie ihn so wütend gesehen. Er symbolisierte eine Schere mit zwei Fingern und schlug dann mit dieser Faust in Richtung seines blutenden Arms.

      Die Kinnlade kippte Jorgan hinunter, als er sich auf seinen Knien zu Ava umdrehte. „Du hast mit einer Schere auf ihn eingestochen?“

      „Er hat mich gepackt!“, verteidigte Ava sich.

      Jorgan schielte zu dem Bären von einem Mann hinüber, dessen Augen noch immer gefährlich blitzten.

      Haakon schnaubte, angelte sich eine Schrotflinte vom Tisch und verließ die Küche. Noch immer das Bild dieser maskierten Gestalten vor Augen, ließ Ava sich gegen den Küchenschrank sinken. Mit beiden Händen strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. Thor schnitt mit der Hand durch die Luft und legte dann die Fingerspitzen seiner beiden Zeigefinger aneinander. Zuletzt deutete er mit einem davon auf sie. Er blickte so ernst zu Ida empor, dass seine Verzweiflung Ava durch Mark und Bein fuhr.

      „Ich sag’s ihr, Thor. Ich sag’s ihr.“ Die grauhaarige Frau kniete sich neben ihn und umwickelte seinen Arm mit einem langen Stofftuch. Als sie ihn fest zusammenknotete, zuckte er zusammen. Dann stand Thor auf, griff nach der Flinte und verließ mit einem letzten, finsteren Blick auf die Schere den Raum.

      Nun wandte Ida sich freundlich, aber bestimmt an Ava: „Er hat gesagt, dass er dir niemals wehtun würde.“ Sie griff nach Avas Hand und drückte sie. „Es gibt ein paar Dinge, die du über Thor wissen musst. Jetzt ist nicht die Zeit dafür, aber sei gewiss, dass er dir nichts Böses wollte. Er wollte nur helfen.“

      Bedrückt ließ Ava den Kopf hängen. „Es tut mir leid“, murmelte sie.

      Ida warf Jorgan einen scharfen Blick zu. „Und euch allen sollte das eine Lehre sein, nicht immer so verflixt stur zu sein und alles zu vertuschen. Das arme Mädchen ist zu Tode verängstigt. Hat keine Ahnung von Thor, weil niemand ihr davon erzählt hat.“ Frustriert wischte Ida sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Morgen früh solltet ihr das nachholen.“ Reumütig ließ Jorgan die Gardinenpredigt über sich ergehen und nickte.

      Sanft drückte Ida Avas Hand und ließ dann ihren Blick über das blutverschmierte Kleid gleiten. „Hast du dich verletzt oder ist das Thors Blut?“

      „Seins“, antwortete Ava und dieses Zugeständnis schmerzte sie. „Die blauen Flecken habe ich mir selbst zuzuschreiben.“ Sie stolperte, als Jorgan ihr auf die Füße half.

      Noch immer raste ihr Puls, als sie ihm in den angrenzenden Raum folgte. Dort standen zwei Frauen. Ihre Haut hatte die Farbe von Kaffee mit einem Schuss Milch und beide hatten sich gemusterte Schals um den Kopf geschlungen, die das Haar verbargen. Ava erinnerte sich an Jorgans Erzählungen und dass Idas Schwester auf dem Land lebte. Sie musste die ältere der beiden sein. Cora, meinte sich Ava zu erinnern. Bei der anderen Frau musste es sich dann wohl um deren Tochter handeln. Auch ein junger Mann war im Raum. Ein kleines Mädchen spähte zwischen seinen Beinen hindurch, so klein, dass sie nicht älter als sechs Jahre alt sein konnte. Ihre geflochtenen schwarzen Haare wurden von einem gelben Tuch gehalten. Um eines der losen Enden wickelte Cora unaufhörlich ihren Finger.

      Mit einer Handbewegung wies Jorgan sie alle an, sich zu setzen. Nachdem er Ava näher an die anderen herangeführt hatte, bat er sie dasselbe: „Bleib unten.“

      Ava hätte nicht widersprochen, selbst wenn sie Einwände gehabt hätte. Sie lehnte sich an die Wand und zog die Knie an. Zwei kleine Kerzen brannten an je einem Ende des Raumes und hielten ihn im Halbdunkel. Ihr Rücken tat weh und Ava bewegte ihn leicht. Schmerz schoss durch ihre Hüfte und sie unterdrückte ein Keuchen. Es wäre wohl besser, wenn sie nicht versuchen würde, sich zu bewegen.

      Die Längsseite des Großen Raumes war mit Fenstern gesäumt, die damit fast die gesamte Länge der Hausfront ausmachten. Mit über die Schulter geworfener Flinte kletterte Haakon auf den Tisch. Von dort aus griff er nach einem quadratischen Querbalken und schwang seine Füße hinauf und darum herum. Mit etwas Anstrengung hievte er sich hinauf, bis er auf dem schmalen Holz kniete.

      Die Flinte hielt er in einer Hand, während er langsam über den Balken zu einem der Dachfenster balancierte. Dort lehnte er sich an die Wand und hob den Rahmen des nächstbesten Fensters an. „Sie brennen das Holzlager nieder“, teilte er den anderen mit. Sein Gesicht wurde von dem flackernden Feuerschein erhellt, doch sein Ton war ausdruckslos. Als würde ihn der Anblick dieser Zerstörung nicht beeindrucken.

      Mit derselben Gelassenheit schritt Jorgan im Raum umher. Ohne sich zu bewegen, starrte Thor aus dem Fenster. Hatten sie diesen Angriff erwartet? Oder fühlten sich die Brüder wahrhaftig nicht bedroht? Vielleicht weder noch. Vielleicht wollten sie in diesem Raum einfach die Ruhe bewahren.

      Thor lief die Fensterfront entlang. Sein ernstes Profil wurde von dem Halbkreis beleuchtet, zu dem sich der Fackelzug vor dem Fenster bildete. Thor blickte in Avas Richtung, bis Jorgan nach seiner Aufmerksamkeit verlangte. Daraufhin warf er seine Schrotflinte von einer Hand in die andere und zielte dann auf das Glas.

      Haakon riss sich vom Fenster los und drückte sich in die Ecke. Die Waffe in seiner Hand war geladen und schussbereit. „Vorsicht!“, rief er mit höherer Stimme als sonst. Die anderen Männer duckten sich, als ein Feuerball durch den schwarzen Nachthimmel auf die oberen Dachfenster zugeflogen kam. Haakon duckte sich und schützte seinen Kopf mit dem freien Arm. Glass splitterte.

      Ein mit brennendem Stoff umwickelter Stein rauschte durch die Luft und landete hart auf dem Boden. Jorgan rannte los, um die Flammen zu löschen.

      „Nicht schießen!“, rief er und duckte sich wieder. „Damit meine ich dich, Haakon.“ Er zeigte hinauf zu seinem Bruder.

      „Ich werde nicht schießen“, rief dieser zurück. Doch nachdem er sich die Glassplitter von Hemd und Hose gestrichen hatte, legte er die Flinte an.

      Die Fensterscheibe über seiner rechten Schulter sah aus, als hätte man sie repariert. Plötzlich verstand Ava, wieso der Teppich an manchen Stellen verkohlt war. Das hier passierte nicht zum ersten Mal.

      „Sie wollen uns nur Angst einjagen“, sagte Jorgan. Die Hand, die neben Avas lag, war schweißnass vor Angst und Ava drückte sie kurz. Die junge Frau warf ihr einen traurigen Blick zu, obwohl sie im selben Moment dem Kind in ihrem Schoß Worte des Trostes zuflüsterte. Das Schluchzen des kleinen Mädchens verlor sich in dem Blusenstoff ihrer Schwester.

      Irgendwo im Obergeschoss zerbrach ein weiteres Fenster.

      „Seht nach, ob es oben brennt!“, rief Haakon herunter. Jorgan stieß Thor an der Schulter an und hob seine Finger, die er wie Flammen in der Luft zappeln ließ. Nickend bewegte Thor sich in Richtung Treppe. Beim Vorbeilaufen fuhr er mit der Hand über Avas Kopf, als wolle er sicherstellen, dass sie unten blieb. Blut war durch den provisorischen Verband gesickert, mit dem man seinen Oberarm verbunden hatte.

      Einen kurzen Moment später ließen Schritte die Decke über Avas Kopf vibrieren. Als Thor zurückkam, legte er einen verkohlten Stein zur Seite. Wind pfiff durch das zerbrochene Fenster. Daneben stand Haakon und spähte durch den Raum. Seinem Blick nach zu urteilen war irgendetwas nicht in Ordnung.

      Plötzlich brüllte er: „Links!“ Ein Splittern kam von der Küchentür, gefolgt von drei hereinstürmenden Männern. Mit ihren Zipfelmützen und den weiten Roben sahen sie riesig aus. Die Gesichter waren verdeckt, als wären sie Gestalten aus der Unterwelt. Doch durch die kleinen Löcher in den Kutten wurden Gesichtszüge echter Menschen erkennbar.

      Angst machte sich in Ava breit, doch die Brüder stellten sich unbeugsam den Eindringlingen entgegen. Thor machte einen Satz nach vorne, die Flinte noch immer fest im Griff. Die verhüllten Männer sahen sich im Raum um, ließen ihren Blick zuerst hinauf zu Haakon und dann hinab zu den zusammengekauerten Frauen am Boden gleiten. Auch die Hündin rollte sich zusammen und winselte.