Mein Herz hört deine Worte. Joanne Bischof

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Название Mein Herz hört deine Worte
Автор произведения Joanne Bischof
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783765575440



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eilte. Unter dem Nachthimmel liefen Al und Ida an ihm vorbei. Schnell kam Thor ihnen zu Hilfe, nahm den schweren Eimer und trug ihn ins Haus.

      Wo war Ava?

      Zu seiner Erleichterung sah er Haakon die Treppe hinauflaufen, als hätte er soeben denselben Gedanken gehabt. Ava musste in ihrem Zimmer sein. Sie musste einfach.

      Ida zupfte an seinem Ärmel und Thor beobachtete ihre sich schnell bewegenden Lippen. „Sie ist spazieren gegangen. Du musst nachsehen, ob sie wieder sicher nach Hause gekommen ist.“

      Nickend lief er Haakon nach, doch sein Bruder kehrte bereits zurück. Kopfschüttelnd kam er ihm entgegen. „Sie ist nicht hier!“

      Beide wandten sich in Richtung der geöffneten Tür. Als Haakon als Erster dort eintraf, packte Thor ihn am Hemd und riss ihn zurück. Mit weit geöffneten Augen starrte sein Bruder ihn an und Thor gestikulierte bleib. Er wollte ihm schließlich nichts tun, sondern nur dafür sorgen, dass Haakon im Haus blieb. Der Junge war viel zu impulsiv und mit ihm in der Unterzahl würde ein Zusammentreffen mit den Angreifern nicht gut enden. Auch Jorgan griff nach Haakons Unterarm und hielt ihn zurück.

      Dann deutete Jorgan zur Tür hinaus und buchstabierte D-O-R-O-T-H-E-E, gefolgt von der Form von Schachteln – genug, um Thor zu sagen, wo er als Erstes suchen sollte.

      Er zeigte auf die Schrotflinten und Al warf ihm eine zu. Als Thor in die Dunkelheit hinaustrat, ließ er die Waffe aufklappen und überprüfte die Patronen. Energisch ließ er sie wieder zuschnappen. Er musste Ava finden. Jetzt. Eine Armee von Männern war auf dem Weg hierher und obwohl sich ihre Wut nicht gegen Ava richtete, wäre sie für diese Männer ein Stück Himmel auf Erden. Und das machte Thor am meisten Angst.

      Fünf

      Das flackernde Licht der Laterne warf unruhige Schatten an die Wand der kleinen Hütte. Ava saß auf dem Boden inmitten von Dorothees Schätzen. Beschriftete und datierte Kisten in jeder Form und Größe, die Geschichten von der Frau erzählten, die deren Inhalt gesammelt hatte. In den Schatullen befanden sich Schnittmuster, die großen Leinensäcke waren gefüllt mit Spitze und anderen Besätzen. Ein dunkelblaues Glasgefäß enthielt Knöpfe in jeder Form und Farbe. Ava selbst lehnte an einem großen Fass, das mit Stoffen gefüllt war. Von gemustertem Baumwollstoff bis hin zu schweren Polsterstoffen war alles darin zu finden. Nach und nach würde Ava all diese Schätze gebrauchen können, aber heute Abend war sie lediglich auf der Suche nach Stickgarn.

      Beim Öffnen einer weiteren Zinnschatulle entdeckte Ava mehrere Rollen bunten Garns. Sie hielt die verschiedenen Farben nacheinander an das bestickte Deckchen, das Jorgan ihr vorhin gegeben hatte. Bald schon hatte sie das richtige Hellgrün für die zarten Ranken und das elfenbeinfarbene Garn für die Blütenknospen gefunden. Die beiden Garne hatten sich ineinander verschlungen, sodass Ava nach der kleinen Schere griff und sie voneinander befreite.

      Plötzlich hörte sie näher kommende Schritte und hob den Kopf. Ein dumpfes Geräusch erklang von draußen, dann wurde die Tür zur Hütte mit einem Schwung aufgerissen. Thor polterte mit solch einem Getöse hinein, dass Ava zusammenzuckte. Er winkte sie zu sich heran.

      „Was gibt es?“, wollte Ava wissen.

      Thors Blick viel auf die Laterne. Mit einem Satz hatte er sie erreicht und das Licht gedimmt.

      „Bitte nicht“, sagte Ava und streckte sich, um es wieder aufzudrehen. Mitten in der Bewegung packte Thor ihr Handgelenk und hielt sie fest.

      Erschrocken riss sie sich los, doch auch diesmal hinderte Thor sie daran, das Licht aufzudrehen. Was war hier los? Er kam näher. So nah, dass ihre erhobene Hand gegen seine Brust drückte. Ava wehrte sich und schlug gegen die stählernen Muskeln, als Thor sich hinkniete. Ein Schrei stieg in ihrer Kehle auf, doch sofort legte Thor seine riesige Pranke auf ihren Mund.

      Avas Herz pochte so schnell, dass es wehtat. Er war ihr so nah, dass sie den penetranten Geruch von Alkohol aus jeder Pore seines Körpers riechen konnte. Wie viel hatte er heute Abend getrunken?

      Ava stieß ihn so hart von sich weg, wie sie nur konnte. Doch Thor rührte sich keinen Millimeter. Nachdem er sich eine Schrotflinte auf den Schoß gelegt hatte, legte er den Zeigefinger an die Lippen. Mit derselben Hand berührte er sie dann so vorsichtig an der Schulter, dass Avas Magen sich umdrehte. Thors Gesicht kam immer näher und er blickte Ava tief in die Augen, als wolle er ihr auf diese Weise erklären, was er von ihr wollte.

      Pures Grauen schnürte Ava die Kehle zu. Sie wollte seine Hand lösen, doch Thor ließ sie nicht los. Wie hatte sie nur so naiv sein können? Hatte sie wirklich geglaubt, sie könne ihm vertrauen? Die Panik übermannte sie und sie begann um sich zu treten. So fest und hoch, wie sie nur konnte.

      Thor schlug ihren Fuß einfach weg. Der ärgerliche Blick, den er ihr dabei zuwarf, war einfach zu viel. Erst recht, als er mit dem nächsten Atemzug die Laterne ausblies.

      Dunkelheit legte sich über sie beide und Avas Instinkt ließ sie zurückzucken. Hart stieß ihr Kopf an das hölzerne Fass und stechender Schmerz fuhr ihr durch den Schädel. Als Thor sie vom Boden aufhob, erinnerte Ava sich gerade noch an die kleine Schere. Schnell schlossen sich ihre Finger um das kühle Metall. Die Schere war klein genug, um sie in der Hand zu verbergen.

      Als Thor sich in Richtung Tür wandte, versuchte sie sich loszureißen. Seine Hand legte sich erneut auf ihren Mund. Ava schrie, aber seine Pranke ließ jeden Ton ersticken. Ava biss ihm in den Finger. Thor jaulte auf.

      Knurrend presste er sie an sich und schob sie vor sich her. Ava bekam kaum Luft. Unter Anstrengung griff er nach seiner Schrotflinte und schob sich mitsamt seiner Ladung aus der Hütte.

      Gerade als er über die Schwelle trat, strampelte Ava in dem verzweifelten Versuch mit den Beinen, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Doch als er stolperte, riss er sie mit sich zu Boden. Hart landeten sie auf dem staubigen Boden, der Gewehrlauf drückte Ava in den Rücken. Thor lag mit seinem ganzen Gewicht auf ihr und presste sämtliche Luft aus ihren Lungen. Sie keuchte und rang nach Luft.

      Noch immer hielt Ava die Schere in der Hand. Sie versuchte sich gegen den strammen Arm zu wehren, der unter ihren Rücken fuhr. Ohne lange zu überlegen, stieß sie mit der Spitze der Schere so schnell und fest zu, wie sie nur konnte.

      Thor presste seinen Mund an ihre Schulter, wodurch sein erbitterter Aufschrei gedämpft wurde. Bei diesem Laut fuhr es Ava eiskalt den Rücken hinunter. Tränen stiegen ihr in die Augen. Thor riss sie hoch. Halb zerrte, halb schleppte er sie von der Hütte fort.

      Nach ein paar Schritten stolperte er erneut und hätte sie beinahe wieder zu Boden gerissen. Ihr Mieder saugte sich voll mit seinem warmen Blut, das ihm den Arm hinunterrann. Vor ihnen lag das Haus. Ruhig und still lag es inmitten des sanften Mondlichts. Wieso schleppte er sie zum Wohnhaus?

      Aus dem Augenwinkel sah Ava einen unnatürlichen Lichtschein. Er war zu golden und außerdem zu nah, um vom Mond zu stammen. Nach nur einem Blick erkannte Ava, dass das Licht sich bewegte. Ein stetiges, unheimliches Auf- und Abhüpfen vieler Fackeln, die durch die Nacht getragen wurden. Avas Augen wurden noch größer, als der flackernde Schein maskierte Gestalten offenbarte.

      Thor stieß sie gegen die Tür und allein seine Größe hielt sie dort gefangen, während er nach dem Türknauf tastete.

      Aus der Ferne beobachtete Ava, wie die Gruppe großer, gespenstisch aussehender Personen den Hof betrat. Spitz zulaufende weiße Kapuzen saßen auf ihren Köpfen. Zwei kleine Löcher waren jeweils für die Augen hineingeschnitten. Ein paar der Gestalten trugen statt der weißen Kutten schlichte Leinensäcke mit grob ausgeschnittenen Augenschlitzen.

      Hätte Thor sie nicht davon abgehalten, hätte Ava erneut geschrien. Während er noch immer mit dem Türknauf kämpfte, presste er sie fester gegen die Tür. Schließlich hämmerte er mit der blutverschmierten Hand gegen das dicke Holz. Mit einem Schwung wurde die Türe aufgerissen. Thor und Ava landeten auf dem Küchenboden. Sofort zog Thor Ava vom Eingang weg und trat die Tür zu.

      Durch das schwache Licht einer einzelnen Kerze blinzelte Ava in die verblüfften Gesichter von Haakon