Yasemins Kiosk - Eine bunte Tüte voller Lügen. Christiane Antons

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Название Yasemins Kiosk - Eine bunte Tüte voller Lügen
Автор произведения Christiane Antons
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783894256807



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reden«, antwortete Yasemin aufgebracht. »Es ist ja nicht dein Kind! Ich trag doch die ganze Verantwortung!« Mit geröteten Augen saß sie auf ihrem Sofa und versuchte halbherzig, mit einem Küchentuch die aufgeweichten Reste einer Maisstange von ihrer Jogginghose zu entfernen.

      Nina schloss für einen Moment die Augen und träumte sich in eine atemberaubend schöne Schneelandschaft. Sie war froh, dass sie vor einigen Jahren mit ihrer Therapeutin diese Entspannungstechnik erarbeitet hatte. Die half ihr nicht nur in Gesprächen mit ihrer Mutter Hetta, sondern neuerdings auch im Umgang mit Yasemin. Als die kleine Ela vor acht Monaten auf die Welt gekommen war, hatte Yasemin ihren gesunden Menschenverstand offensichtlich im Kreißsaal abgegeben und nur den Säugling wieder mit nach Hause genommen.

      »Du weißt, wie lieb ich Ela habe. Mensch, ich war mit im Krankenhaus und hab die Nabelschnur durchgeschnitten, schon vergessen?« Nina hob zum zehnten Mal den Löffel vom Boden auf und reichte ihn dem Kind, das zum Dank vergnüglich quietschte. »Ich weiß, du willst nur das Beste für deine Kleine, aber du schießt übers Ziel hinaus. Du bist todmüde – da wird man komisch.«

      Nun brach Yasemin endgültig in Tränen aus. »Was ist, wenn ich nicht reiche?«, platzte es aus ihr heraus. »Sie hat doch nur mich, also muss ich alles doppelt gut machen.«

      Nina setzte sich zu Yasemin auf das Sofa und nahm sie in den Arm. »So ein Quatsch«, entgegnete sie in einem ruhigen Tonfall und betonte dabei jedes einzelne Wort. »Sie hat auch mich und vor allem Dorothee. Eine bessere Ersatzoma kann man sich ja wohl nicht vorstellen.«

      Als es an der Wohnungstür klingelte, fiel Nina ein Stein vom Herzen. »Guck mal, wenn man vom Teufel spricht!« Rasch öffnete sie die Tür. »Du kommst genau richtig«, flüsterte sie der Hauseigentümerin Dorothee Klasbrummel zu, die ihr fröhlich lächelnd einen Schokoladenkuchen entgegenstreckte. »Wir haben da mal wieder eine kleine Krise. Schlafmangel richtet wirklich schreckliche Dinge mit Menschen an«, erklärte Nina.

      »Keine Sorge, ich bringe erste Hilfe«, sagte Doro leise, um dann laut: »Wo ist denn mein kleiner Engel?«, hinterherzuschieben, während sie ins Wohnzimmer lief. »Da ist er ja!«

      Doro stellte den Kuchen auf dem Tisch ab, nahm Ela hoch und drückte ihr zur Begrüßung einen dicken Kuss auf die Wange. »Hallo, Yasemin, Liebes«, wandte sie sich schließlich an Elas Mutter. »Mach dich doch mal nützlich und koch uns einen Kaffee zum Kuchen, hm?«

      Immer noch leise schluchzend nickte die und erhob sich müde vom Sofa.

      »Ela zahnt und Yasemin hat heute Nacht mal wieder kein Auge zugetan«, erläuterte Nina die aktuelle Lage. »Außerdem hat sie einen Lagerkoller.«

      »Ja, sie muss hier mal raus. Wir sollten sie ermutigen, auch wieder selbst im Kiosk zu arbeiten«, schlug Doro vor.

      »Das ist eine gute Idee«, stimmte Nina zu, bevor Yasemin mit drei Kuchentellern aus der Küche zurückkehrte.

      Die junge Mutter nahm die kleine Ela von Doros Schoß und machte es sich mit ihr auf dem Sofa bequem. Doro verteilte die süße Nervennahrung derweil und räusperte sich. »Yasemin, ich habe einen neuen Auftrag vom Verlag erhalten. Ich soll einen Krimi aus dem Französischen ins Deutsche übersetzen.«

      »Cool, freut mich für dich«, entgegnete Yasemin abwesend und verharrte mit ihrem Blick auf Ela, die ihrerseits interessiert ihren Schnuller betrachtete.

      »Ja, das bedeutet aber auch, dass ich nicht mehr so häufig im Kiosk aushelfen kann. Und du weißt, dass Berkan gerade in den letzten Prüfungen für sein Studium steckt. Deshalb wäre es am besten, du übernimmst selbst wieder an zwei Tagen für ein paar Stunden den Kiosk. Ela kannst du ja entweder mitnehmen oder eine von uns«, sie zeigte auf Nina und sich, »passt auf sie auf. Wenn sie zum Beispiel Mittagsschlaf hält, kann ich prima im Nebenraum übersetzen.« Als Doro sah, wie Yasemin innerlich mit sich kämpfte, legte sie eine Hand auf das Knie der jungen Mutter. »Die Kunden vermissen dich. Alle fragen nach dir. Und niemand von uns kann ihnen die Haare schneiden. Die Friseurausbildung hast nur du und dein kleiner Salon im Hinterzimmer setzt langsam Staub an.«

      Yasemin atmete hörbar aus. Sie setzte ihre kleine Tochter auf den Boden, die sogleich zu Doros Stuhl krabbelte und versuchte, sich an ihm hochzuziehen.

      »Wenn ich ehrlich bin, würde ich echt gern wieder ein paar Stunden im Kiosk arbeiten. Ich vermisse meine Kunden, ne yapıyım? Aber meint ihr nicht, dass ich damit Ela vernachlässige?«

      »Nein!«, entgegneten Nina und Doro wie aus einem Mund. »Es geht doch nur um ein paar Stunden in der Woche, die dir bestimmt guttun werden! Wenn du möchtest, bin ich in den ersten Tagen mit Ela einfach immer dabei. Wir kriegen das hin«, ermutigte Nina ihre Freundin.

      »Hm«, entgegnete Yasemin zögerlich. »Ich denk drüber nach.«

      Die Kaffeemaschine gab ihren letzten röchelnden Laut von sich und Yasemin trug wenig später mit einem zufriedenen Lächeln die Kanne in das Wohnzimmer. »Also gut. Unter einer Bedingung arbeite ich wieder«, sagte sie, während sie den Kaffee in die Tassen füllte. »Nina macht ein Date mit ihrem Superbullen Brüggendings klar und erfindet nicht länger bekloppte Ausreden, warum sie sich nicht mit ihm treffen kann. Anlaştık mı, einverstanden?« Yasemin, die sich zunächst Tim Brüggenthies’ Nachnamen nicht hatte merken können, machte sich mittlerweile einen Spaß daraus und nannte ihn konsequent Brüggendings. Der Kriminalbeamte ließ es stoisch über sich ergehen.

      Doro lächelte und griff zu ihrer Tasse. »Das ist eine ausgezeichnete Idee und ein faires Angebot, findest du nicht, Nina?«

      »Ich … Was hat das denn jetzt plötzlich mit mir zu tun?« Entrüstet schüttelte sie den Kopf. Nina wusste, dass ihre beiden Freundinnen einen Narren an Tim gefressen hatten. Ständig lagen sie ihr in den Ohren, dass sie die Beziehung zu ihm nicht vergeigen sollte. Dabei hatten Tim und sie tatsächlich nie richtig darüber gesprochen, ob sie ein Paar waren, und Nina war das ganz recht so.

      Sie blickte von ihrem Kuchenteller hoch, auf dem sie die Krümel von links nach rechts geschoben hatte. Die Frauen und selbst Ela, so bildete sie sich ein, schauten sie erwartungsvoll an. Yasemin verschränkte demonstrativ ihre Arme. Nina seufzte schließlich und gab sich geschlagen. »Bitte schön. Zwischen Tim und mir ist alles bestens. Klar gehe ich mit ihm aus. Ich schreibe ihm gleich eine Nachricht. Seht ihr?« Sie nahm ihr Handy vom Tisch und tippte. »So. Erledigt. Und morgen«, sie deutete mit ihrem Zeigefinger auf Yasemin, »sehe ich dich im Kiosk hinterm Tresen.« Nina erhob sich. »Ich fahre jetzt zu Hetta. Gegen euch ist meine Mutter geradezu eine Erholung!«

      Yasemin und Doro lachten, als die Polizistin die Wohnung verließ, und Ela quietschte vergnüglich in den höchsten Tönen.

      2

      Sie rieb sich ihre schmerzenden Waden mit Franzbranntwein ein. Sie hatte zu viel trainiert und zu schwer gehoben. Aber was sein musste, musste sein. Sechs Wochen lang hatte sie die Tagesabläufe dieser Frau studiert, nun stand sie kurz vor ihrem ersten Etappenziel. Jeden Morgen gegen halb acht verließ das miese kleine Stück ihre Wohnung und fuhr mit der Stadtbahn zu ihrer Arbeitsstelle. Zwischen siebzehn Uhr dreißig und achtzehn Uhr machte sie Feierabend. Jeden Dienstag und Donnerstag besuchte sie das Fitnessstudio. Freunde schien sie nur wenige oder keine zu haben. In der ganzen Zeit hatte sie sich mit niemandem getroffen. Zweimal hatte sie ihre Mutter im Pflegeheim besucht. Einmal hatte sie den Donnerstagstermin im Fitnessstudio geschwänzt und stattdessen allein den Abendmarkt auf dem Klosterplatz besucht.

      In der dritten Woche hatte sie also eine Probemitgliedschaft abgeschlossen und dieselben Kurse wie ihre Zielperson besucht, Spinning und Body Pump. Anschließend war sie dem Miststück in die Sauna gefolgt und hatte beim zweiten Treffen, als sie günstigerweise allein schwitzten, mit ihr ein Gespräch angefangen. Menschen zu umgarnen, Interesse zu heucheln, das waren ihre Stärken.

      Schließlich hatte sie sich mit einem gefakten Profil auf Facebook und Instagram mit dem Miststück angefreundet. Deren Fotos sprachen Bände. Null Farbgefühl, schreckliche Klamotten. Für die war Stil nur das Ende eines Besens. Folgerichtig reagierte kaum jemand auf ihre Postings. Hier ein Daumen hoch, dort ein Wow, nie ein Herz. Die wenigen sozialen Kontakte spielten ihr in die