Название | Indien denkt anders - eine interkulturelle Begegnung |
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Автор произведения | Richard Lang |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783347075986 |
Am Abend saßen wir auf dem Flachdach des Hauses von Dora Bäumler direkt am Flussufer und blickten auf den dunklen Ganges hinab, der sich kaum von seiner Umgebung abhob. Nur in unregelmäßigen Abständen leuchteten auf diesem „heiligen Fluss“ Indiens einige flatternde Lichtlein, die auf dem Wasser an uns vorüberzogen, es war der Lichtschein von kleinen Kerzen oder Öllämpchen, die zusammen mit Blumengaben auf Blättern oder einem anderen schwimmenden Untersatz dem trägen Rhythmus des Ganges folgten: Opfergaben der Gläubigen. Von frühmorgens bis spät abends drängen sich Hindus an seinem Westufer. Der Ganges reinigt. Neben rituellen Waschungen machen die Gläubigen hier ihre Morgentoilette, hier waschen sie Hemden und Saris; sie beten, meditieren, praktizieren Yoga, und an einem besonderen Abschnitt, kurz bevor der Fluss die Stadt wieder verlässt, werden Tote verbrannt. Ab und an erblickt man in der Flussmitte die dunklen Rücken der vorbeigleitenden Delphine. Varanasi, und besonders sein Flussufer, ist ein Ort der inneren Erhebung und Läuterung, des Gebetes, der Meditation, des Innewerdens. Unter großen geflochtenen Schirmen werden Zuhörern allen Alters heilige Texte vorgelesen und erklärt. Ein großer Teil der Inder konnte/kann nicht lesen. Vorleser zu sein, ist eine Tugend.
Menschen und Schirme am Ganges (®)
Nandi, der heilige Stier
Ein Stier wird dort automatisch zu „Nandi“, dem „Reittier“ Shivas. Neben streunenden Hunden streifen auch herrenlose Kühe und Stiere ziellos durch die Straßen. Manchmal zeichnen Gläubige einem solchen Stier die drei übereinanderliegenden Shiva-Linien auf die Stirn – ein gutes Omen – und bitten um Shivas Segen.
Die meisten Gläubigen steigen in den Fluss, um zu beten.
Pilger in Benares (*)
Benares (Vārānasi) Westufer (♦)
Was gibt es Erstrebenswerteres, als in Benares (Vārānasi) die Sonne vom Westufer aus über dem Fluss im Osten aufgehen zu sehen?! (Auf dem Ostufer gibt es kein sichtbares Hindernis für die aufgehende Sonne, kein einziges Haus. Das dortige Ufer ist eben nur dazu da, den Fluss zu begrenzen). Wer Macht und Namen hat, kann sich direkt am Westufer aufhalten, dort vielleicht sogar in einem palastartigen Gebäude wohnen, natürlich mit Blick auf den Fluss, mit Blick nach Osten.
West- und Ostufer des Ganges in Vārānasi /Benares (®)
Doch ein bekannter Bettler der Stadt beschloss, dieses Privileg der Begüterten zu unterlaufen. Eines der zahlreichen Beispiele für die allenthalben anzutreffende indische Beharrlichkeit: Mit jahrzehntelanger konsequent altruistischer Haltung hortete er die empfangenen Almosen zu einem kleinen Vermögen, um an diesem so begehrten Ufer des Ganges ein Hindu-Sterbehaus errichten zu können. Nicht für sich, sondern als eine soziale Einrichtung für jedermann. Voraussetzung, um dort eingelassen zu werden, war und ist nur, dass man Hindu ist, gleich welcher Kaste. Hier gehen Träume in Erfüllung, hier eröffnet sich jedem Hindu die Chance, in der heiligen Stadt Benares, direkt am Ufer des Ganges, am heiligsten Ort Indiens kostenlos sterben zu können. Es ist das Mekka, der Olymp indischen Glaubens. In allen Zimmern mit Blick auf den heiligen Fluss stehen charpoys11, zu denen jeder ins Sterbehaus aufgenommene Hindu ein einfaches Betttuch erhält. Täglich gehen Helfer von Raum zu Raum, hinterlassen kleine Trinkgefäße mit segensreichem Ganges-Wasser oder tröpfeln es den Sterbenden auf die Zunge bzw. rollen die Toten in das Bettlaken, um diese danach an das Manikarnika-Ghat, den für Verbrennungen bestimmten Uferabschnitt zu bringen.
Lediglich ein Zeitpunkt ist noch von Bedeutung und gleichzeitig Bedingung, um als Hindu im Sterbehaus Einlass zu finden: die Gewissheit, am Ende dieser Inkarnation angekommen zu sein, oder anders ausgedrückt: in Kürze, noch vor Ablauf von 10 Tagen aus dem Leben zu scheiden12.
9 Cora erhielt ein Exemplar des argentinischen Buches, ich erhielt ein englischsprachiges Exemplar aus den Annalen der BHU (Benares Hindu University), lose Blätter, die allerdings leicht gebunden werden konnten.
10 Paramahansa Yogananda: „ Die Autobiographie eines Yogi“
11 Das typische Bett Indiens. Ein auf kurzen Beinen stehender Holzrahmen, der mit einem Naturfasernetz bespannt ist.
12 „Im Angesicht des Todes“. Dieses für mich zu tiefst berührende Foto eines sich auf den Tod vorbereitenden Hindus in diesem Haus, in tiefer Meditation sitzend, stammt vom Delhier Fotografen S. Paul
„Im Angesicht des Todes“, im Hindu-Sterbehaus in Benares, (Foto von S. Paul) Mein Abzug: 50 x 70 cm
New Delhi ( Neu-Delhi)
Indien gehört zu jenen Ländern, die den Fremden in kürzester Zeit in ihren Bann ziehen können, sofern dieser dazu bereit ist und sich „verindern“13 lässt. Das ist freilich nur möglich, wenn sich der Neuankömmling nicht grundsätzlich dagegen sträubt und eigentlich nur bestrebt ist, das Land auf dem schnellsten Wege wieder zu verlassen. Mit „verindern“ ist allerdings nicht Assimilierung gemeint, sondern Eintritt in eine Resonanz mit der anderen Kultur. Wir entdeckten das an uns selbst, als uns ein sogenannter Perspektivwechsel widerfuhr. Ein gerade eingetroffener deutscher Professor, der zusammen mit seiner Frau im Indus-Tal (dem heutigen Pakistan) mit Ausgrabungen beschäftigt war und auf meine Einladung hin nun im Nationalmuseum Neu-Delhis vor Historikern und Archäologen einen Vortrag über die neuesten Erkenntnisse dazu halten sollte, rief uns abends unter Entschuldigungen mit der Bitte an, ob es möglich wäre, seiner Frau saubere Handtücher zu bringen, weil sie jene des Hotels abstoßend fände. Cora legte mir zwei aus dem Schrank ins Auto und ich brachte sie kurzerhand zum Hotel. Als sie diese in Empfang nahm, konnte sie nicht umhin zu bemerken: „Aber diese sind doch auch grau“. Zum Beweis legte sie ihre blütenweiße Bluse neben die Handtücher – und es war unbestreitbar, die Handtücher waren eindeutig grauer. Uns war dieses nach mehreren Jahren unseres Lebens in Indien nicht mehr aufgefallen. Zwar waren sie sauber, aber eben nicht (mehr) „blütenweiß“, denn aus keiner Leitung fließt dort so klares Wasser, dass Wäsche nach wiederholten Waschgängen immer noch blütenweiß aus der Waschmaschine kommen könnte.
Über die Jahre empfand ich New Delhi als eine Wüstenstadt. Die Metropole liegt am Rande der Rajasthan-Wüste; feinster Staub findet seinen Weg durch noch so kleine Ritzen (und es gibt davon viele) in alle Häuser, aber auch in Schränke und Schubladen, natürlich aber auch in den Wassertank, aus dem das ohnehin nur nachts aus der zentralen Wasserversorgung hineintröpfelnde Wasser stammte. Jeden Morgen wurde es in einen großen Wasserbehälter (einen Plastik- oder gemauerten Tank) auf dem Dach hochgepumpt. Es war kostbar und reichte nur knapp für den Tagesbedarf. Das Wasser, das schließlich aus dem Wasserhahn oder aus der Dusche floss, besaß keinen Druck; es war schlicht das bekannte Newtonsche Gravitationsgesetz, nach welchem das Wasser aufgrund seines Eigengewichts aus dem Tank vom Flachdach in die Leitung und in die Brause der Dusche fiel. Entsprechend kraftlos kam es an. Darüber hinausreichende Ansprüche waren längst unserem Realitätssinn gewichen. Mit diesem Wasser duschten wir, spülten Teller und Gläser und wuschen Wäsche. Lediglich das Trinkwasser