Название | Indien denkt anders - eine interkulturelle Begegnung |
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Автор произведения | Richard Lang |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783347075986 |
Heute denke ich mit leichtem Schmunzeln an den vermutlichen Anfang meiner Beziehung zu Indien. Mein Vater erzählte mir als Kind, dass ein indischer Staatsmann5, der zur Zeit meiner Geburt noch gelebt habe, bei seinem letzten Besuch in Großbritannien (im Jahr 1931) in seiner „indischen Uniform“, (einem Lendenschurz genannt Dhoti) vor dem Parlament und dem König (!) Georg V. erschienen sei. Er hätte dabei „nicht einmal Hosen und feste Schuhe angehabt“6: Ein Bettler-Auftritt. Unvorstellbar, einfach unvereinbar mit „Zivilisation“ – fand mein Vater.
Zivilisation, dieser Begriff wurde damals im Westen meist unhinterfragt gebraucht. Dass man ihn dennoch so empfangen habe, wurde nicht etwa der beeindruckenden Persönlichkeit des Gastes zugeschrieben, sondern zeuge von der großen Freiheit, die das Abendland auszeichne. Schließlich verfügte dieser Okzident nach eigenem Selbstverständnis – selbst für Nonkonformisten unbestritten – über eine allgemeine Denk- und Redefreiheit, wofür mir damals aus rein europäischer Perspektive schon der alleinige Hinweis auf elektrische Gitarren, Pilzköpfe (selbst diese fasziniert von Indien) und auf ein gelbes Unterseeboot im Dienst der Musik reichte.
Das war allerdings eindeutig ein Blick von außen auf Indien. Bald sollte jedoch für mich hinter dieser selbstsicheren und selbstgefälligen Haltung des Westens in seiner Betrachtungsweise der Welt7 ein Fragezeichen heranwachsen: wie konnte sich in einem Land dieser freien Welt, in Deutschland, trotz jüngster Geschichte so schnell und so viel Selbstgerechtigkeit entfalten?
1 Für mich verorte ich sie z.B. bei A.L. Basham: „The Wonder that Was India“
2 Die Verfassung von 1949 sprach noch von 14 Amtssprachen, mit den späteren Verfassungszusätzen bis zum Jahr 2004 kam man auf 22 Amtssprachen der wohl insgesamt 122 Sprachen – von vier großen Sprachfamilien-, die Indien offiziell anerkennt
3 William Dalrymple: „City of Djinns“
4 Der Autor lebte zusammen mit seiner Familie zwölf Jahre lang in diesem Kulturraum.
5 Mahatma Gandhi
6 Winston Churchill nannte ihn einen „ halbnackten Fakir“
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Buenos Aires, 1985
Im Oktober 1985 hatte ich als Dozent des Goethe-Instituts gerade erst ein 3-monatiges Praktikum am Goethe-Institut Buenos Aires angetreten, als mich die Nachricht der Münchner Zentrale von meiner Versetzung nach Indien erreichte, eine Entscheidung, die dankenswerterweise einem meiner Dienstortwünsche entsprach. Der Umzug mit Frau und Sohn nach Neu Delhi wurde auf den Herbst des nächsten Jahres festgelegt und beinhaltete eine Umzugskostenvergütung für den Hausrat, der in Bälde von Deutschland aus auf den Weg gebracht werden sollte.
Cora drückte ihre Freude immer schon am besten in Bildern aus. Kurze Zeit später hielt sie dieses Blatt vor mich hin: Wir fahren nach Indien! Und darin trat – wohl aus ihrem Unterbewusstsein, denn es war erstmalig in ihrem Werk – das Mango-Muster auf, das wir später in Indien überall antreffen sollten.
Coras Bild „Wir fahren nach Indien“ (+)
Als diese Nachricht in der Familie und bei Freunden die Runde machte, rief sie gemischte Reaktionen hervor. Dabei muss festgehalten werden, dass niemand Indien wirklich kannte, niemand schon dort gelebt hatte. Nichtsdestotrotz war es bemerkenswert festzustellen, dass nahezu jeder eine feste Meinung zu haben schien, zumindest nach dem Eifer zu urteilen, mit dem jeder eine vertrat. Und so geschah, was häufig geschieht, wenn eine fremde Kultur als Thema das Gespräch bestimmt: es entfaltete sich ein breites Panorama an Meinungen, von der Ablehnung des Fremden, von Warnungen, ja nahezu Drohungen mit den „Geißeln“ und Gefahren, denen man sich ausliefere bis hin zu von Neugier geprägten Verlockungen, die auch als Versprechen verstanden werden können, Einmaliges und Faszinierendes zu erleben. Jeder hatte zumindest etwas über Indien gelesen oder auch entsprechendes Bildmaterial gesehen.
Aber für einige der Freunde war Indien mehr, es war eine Welt zwischen Weisheit und Wesenheit, die sie aus Büchern konstruierten. Vor allem solcher aus einer Buchhandlung in Buenos Aires: Kier8. Mit ihr und durch sie kommt eine weitere, ja, es kommen vielleicht gleich mehrere Perspektiven der interkulturellen Betrachtung hinzu. In welcher Form und mit welchem Tenor wurde von jenem (für einen Europäer) so entfernten Ende der Welt ein Blick auf den anderen Teil des Globus, auf Indien geworfen?
Buenos Aires ist eine Stadt der Buchhandlungen, und ihr Überleben spricht eine deutliche Sprache über die Lesegewohnheiten ihrer Einwohner. Welche der dort erworbenen Bücher hatten Coras Indienbild geformt, und inwiefern unterschied es sich von meinem? Inwiefern ist für die beurteilende Einschätzung einer Kultur die Perspektive wichtig, aus der die Betrachtung erfolgt? Wie oft traten solche und ähnliche Überlegungen im interkulturellen Gespräch in den Vordergrund?
Allmählich wuchs unsere Sensibilisierung für das Verhältnis Betrachter-Standpunkt (Perspektive) und Betrachtungsgegenstand. Später, als wir in Indien lebten, kamen wir oft und gerne auf diese Gespräche in der argentinischen Hauptstadt zurück.
7 – Etliche Jahre später war mir die interkulturelle Fragestellung viel klarer geworden: Im März 1991 veranstaltete ich in Neu Delhi die internationale Konferenz „ Judging An Other Culture“ mit den herauszuarbeitenden Themen: Judgement Without Understanding, Understanding Without Judgement, Judgement With Understanding und auch The Past As An Other Culture.
8 Librería Kier, ‘Libros, venta de libros, libros para la mente y el espíritu’ (Bücher für Verstand und Geist)
Vārānasi (Benares)
Es war in unserem sechsten Indienjahr, im Frühjahr 1991 in Vārānasi (Benares). In der Stadt am Ganges wimmelte es von Menschen und Rikschas.
Foto: Rikshas in Vārānasi (Benares)
Einfach hingesagt, aber will man Fremdes beschreiben, reichen Worte oft nicht aus. Ein Bild kann durch seine größere Unmittelbarkeit das Fremde manchmal leichter umreißen.
Im Haus eines anerkannten Heiligen, Lahiri Mahasaya, trafen wir mit dessen Enkel, dem emeritierten Chemieprofessor der Hindu Benares University, B. Lahiry zusammen. Er bot uns Sitzkissen an, auf denen wir um das Fußende des Bettes herum saßen, auf das ich später zu sprechen komme und erzählte eine Anekdote über seinen Essay „Quest for Truth“ (Wahrheitssuche), den er im Frühling 1965 an seiner Uni (in den dortigen Annalen) veröffentlicht hatte, ein Essay, von dem aber niemand Notiz genommen habe. Die Kollegen seines College of Science hätten mit Verwunderung reagiert, dass ein Chemieprofessor philosophische Fragen anspreche; die Kollegen der Humanwissenschaften hätten das Essay links liegen lassen, weil es ja von einem Naturwissenschaftler kam und wie hätte der ihnen etwas offenbaren können. Damit gebe es von diesem Essay nur ein paar vergilbte Exemplare dieses Annalen-Drucks. Zwar gebe es von dem Text auch einen Buchdruck, aber der sei im Ausland in spanischer Übersetzung erschienen, beim eigenwillig, auf das eigene Urteil vertrauenden argentinischen Verlagshaus KIER. Hier war es wieder: Kier in Buenos Aires, eine von Coras Quellen über Indien9.