Leben ohne Maske. Knut Wagner

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Название Leben ohne Maske
Автор произведения Knut Wagner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957163080



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neun lässt er sich kaum blicken“, sagte Fritz. Und Rolf, der voller Häme gegen den Alten schien, wollte von Wolfgang unbedingt wissen, was Oskar Anschütz ihm beim großen Rundgang durch die Schneidmühle so erzählt hatte.

      „Er hat mir erzählt, dass er noch heute auf der Spezialmaschine, die er Anfang der 30er-Jahre angeschafft hat, für die Leute Fußbodenbretter hobelt.“

      „Und hat er dir auch gesagt, was er mit dem Geld macht?“

      „Nein.“

      „Das trägt er in den Konsum. Dafür kauft er sich Schokolade, die er heimlich isst, und Schnaps“, sagte Tante Herta erbost. Im Gegensatz zu Lisa war sie flachbrüstig, schielte leicht und hatte ein mausgraues Kostüm an, unter dem sie eine herrenhemdartige, hoch geschlossene Bluse trug.

      „Vorgestern“, sagte Rolf, „hat sich Oskar den Kopf mit Kampferspiritus eingerieben, weil sein Eiswasser alle war. Und als er merkte, dass seine Kopfhaut zu brennen anfing, hat er geschrien, und ich habe ihm eine ganze Dose Panthenolspray auf den Kopf gesprüht.“

      „Wie eine Frau lief Oskar den halben Tag mit seiner Kopfpackung herum“, sagte Onkel Fritz, und alle lachten.

      „Er ist eben ein schrulliger, alter Mann“, sagte Lisa, die ihren Vater nicht weiter dem Gespött preisgeben wollte. Wolfgang sagte, dass er den Schneidmüller bewundere. Er besitze Charisma und sei für sein Alter noch unheimlich vital.

      „Vital ist er“, sagte Onkel Rolf, „weil er sich geschont hat, seit ich ihn kenne.“

      „Wenn wir auf der Wiese standen und Heu machten, lag er auf seinem Sofa, weil er angeblich die Hitze nicht vertrug. Aber wir mussten sie ertragen“, erzählte Onkel Fritz. „Und abends dann, wenn das Heu vom Wagen in die Scheune gegabelt werden musste, spielte er den starken Mann.“ „Komm, Mann“, sagte Tante Herta. „Es ist spät.“ Und Onkel Rolf gehorchte. Bevor er sich jedoch erhob, griff er nach einer dicken, schwarzen Zigarre und steckte sie in die aufgenähte Brusttasche seines kurzärmligen, karierten Campinghemds. „Wegzehrung“, sagte er lächelnd.

      „Hast du gesehen, was für ein Nassauer er ist?“, sagte Fritz zu Wolfgang. Die Konkurrenz zwischen den Schwiegersöhnen war spürbar. Jeder der beiden fühlte sich zum Chef berufen. Aber der Alte gab die Zügel nicht aus der Hand.

      Nachdem Onkel Rolf und Tante Herta gegangen waren, eröffnete Heidi ihrer Großmutter, ihrer Patentante und ihrem Patenonkel, dass sie sich im nächsten Jahr verloben und in zwei Jahren heiraten wolle.

      Daraufhin sagte Lisa: „Mädchen, Mädchen, mach bloß die Augen auf, Heiraten ist kein Pferdekauf.“

      „Wenigstens das Mittelstück passt“, meinte Fritz, schenkte Wolfgang Schnaps nach und prostete ihm zu.

      Heidis Großmutter tat, als habe sie die frivole Bemerkung ihres Schwiegersohns nicht gehört, und sagte: „Als Oskar und ich uns das Jawort gaben, war ich 18 Jahre alt und im dritten Monat schwanger. Lisbeth kam am 10. September 1922 zur Welt.“

       9. Kapitel

      Als Heidi und Wolfgang am nächsten Vormittag wieder in Arnsbach eintrafen, wollte August Stillmark von Wolfgang unbedingt wissen, wie ihm der Alte gefallen habe. Heidi kam Wolfgangs Antwort zuvor: „Er hat ihn stark beeindruckt.“ Tatsächlich war Wolfgang fasziniert von Oskar Anschütz, weil er groß und kräftig war und einen Stoppelbart wie Hemingway hatte.

      August Stillmark hingegen hasste seinen Schwiegervater und sagte: „Wenn der alte Schneidmüller mal stirbt, werde ich nicht zu seiner Beerdigung mitgehen, und mein Name wird auch nicht unter den trauernden Hinterbliebenen zu finden sein.“

      Wolfgang wurde das Gefühl nicht los, dass August Stillmark alles unternahm, um seinen Schwiegervater abzuqualifizieren. Es schien, als wolle er dem Niedergang der Schneidmühle den rasanten Aufstieg einer PGH entgegensetzen, die er mit aufgebaut hatte, und Wolfgang hatte das Gefühl, als wolle August Stillmark ihm vor Augen führen, dass er mehr als sein Schwiegervater vorzuweisen habe. Denn von dem Sägewerk, in dem einst 21 Leute beschäftigt waren, war nichts als eine kleine Metallbude übrig geblieben, in der zwei Männer und eine Frau Kofferscharniere stanzten.

      „Als ich beim alten Menz vor 13 Jahren als Werkzeugmacher anfing, waren wir drei Leute“, sagte August Stillmark zu Wolfgang. „Aber das war nur in den ersten drei Jahren der Fall. Dann stockten wir jedes Jahr die Personaldecke mehr und mehr auf, und da es sich herumgesprochen hatte, dass es bei uns gutes Geld zu verdienen gab, hatten wir ziemlichen Zulauf und konnten uns die besten Leute raussuchen. Jetzt sind wir 21 Mann. Mit uns geht es bergauf, und durch einen Anbau wollen wir die Werkstatt im nächsten Jahr modernisieren und erweitern.“

      Bei Gelegenheit wolle er Wolfgang den Betrieb zeigen, in dem er als Werkzeugmacher und Technologe arbeite, sagte August Stillmark. An diesem Samstagvormittag wurde er nicht müde, Wolfgang gegenüber zu betonen, wie gefragt die Messerköpfe der Firma Menz seien, die er mit entwickelt habe.

      Stunden später saß Louis Stillmark gedankenversunken auf der verwitterten, grünen Gartenbank, die an der Giebelseite des alten Holzschuppens stand, und Wolfgang setzte sich zu ihm.

      Es war heiß an diesem frühen Nachmittag, und Heidi sagte vom Küchenfenster aus: „Heute Abend muss ich unbedingt zum Gießen auf den Friedhof gehen.“

      Louis Stillmark, der trotz der Hitze ein langärmliges, weißes Hemd, eine anthrazitfarbene Strickjacke und gelbe, kariert gemusterte Hauslatschen anhatte, meinte plötzlich unvermittelt zu Wolfgang: „Ich hatte Pech mit meinen Frauen. Zwei Mal bin ich Witwer geworden.“

      Im Alter von 60 Jahren habe er seine zweite Frau Karoline verloren. Sie habe es mit der Bauchspeicheldrüse gehabt und sei kurz darauf gestorben, sagte Louis Stillmark. Besonders tragisch aber empfand Wolfgang, was Louis Stillmark ihm über die Todesumstände seiner ersten Frau erzählte, und es störte ihn nicht, dass Heidis Großvater weit ausholte.

      „Es war im ersten Weltkrieg“, sagte Louis Stillmark. „Ich war Kanonier. In Metz hatte ich als Ungedienter im März 1915 einrücken müssen, ab Februar 1916 hatte man uns ins Schlachtgetümmel an der Ostfront geworfen. Als unser Regiment bei der Offensive in Französisch Flandern Ende Mai 1918 eine strategisch wichtige Hügelkette erstürmte, bekam ich eine Woche später das Eiserne Kreuz zweiter Klasse und durfte zwei Wochen später auf Heimaturlaub fahren. Aber als ich nach Hause kam, erfuhr ich schon am Bahnfof, dass meine Frau am Tag zuvor beerdigt worden war.“

      Louis Stillmark machte eine Pause. „Ich war einen Tag zu spät gekommen“, sagte er. Auguste, seine erste Frau, war an Influenza gestorben. Seine fünfjährige Tochter Minna war von einem Tag auf den anderen Halbwaise geworden.

      „Glücklicherweise nahm ihre Patentante, deren Ehe kinderlos war, sie so lange zu sich, bis ich im Januar 1919 aus dem Militärdienst in Hersfeld entlassen wurde.“

      Obwohl diese Geschichte fast 50 Jahre zurücklag, trieb es Louis Stillmark beim Erzählen noch immer die Tränen in seine hellblauen, vom grauen Star getrübten Augen.

      Wenig später betrat August Stillmark den Hof und gesellte sich zu seinem Vater und Wolfgang. Er setzte sich in den Schatten der Halle und begann, die Sense zu dengeln, denn er hatte Tante Anna versprochen, ihr beim Mähen der Wiese zu helfen. Heidi sagte Tante Anna zu der alten Frau, obwohl sie mit Stillmarks nicht verwandt oder verschwägert war. Sie war eine gute Nachbarin, die schwer an Asthma litt.

      Als August Stillmark mit dem Dengeln der Sense fertig war, setzte er sich zu Heidi, Wolfgang und Louis Stillmark, die schon mit dem Kaffeetrinken begonnen hatten. Der weiße Gartentisch, an dem sie saßen, stand unter einem alten Apfelbaum. Die ersten frühreifen Äpfel lagen wie Billardkugeln im sommerheißen Gras. Die Grillen zirpten laut, und unter dem dichten, großen Blätterdach des knorrigen Apfelbaums sitzend, konnte man hören, wie der Dachstuhl und die Ziegel vor Hitze knackten und knisterten.

      Er könne kaum glauben, dass das Haus vor 40 Jahren gebaut worden sei, sagte Louis Stillmark. „Im Oktober 1926 hatten wir uns entschlossen, ein eigenes Haus zu bauen. Zu Weihnachten lag die Bauzeichnung vor, und im Februar,