Leben ohne Maske. Knut Wagner

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Название Leben ohne Maske
Автор произведения Knut Wagner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957163080



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und der Hausbau sollte insgesamt 9.100 Mark kosten.“

      Bis zum Richtfest und dem Decken des Daches sei alles wie am Schnürchen gelaufen, berichtete Louis Stillmark. „Aber als das Haus im November 1927 bezugsfertig war, geriet ich in arge Bedrängnis. Und ich konnte die Handwerker-Rechnungen nicht bezahlen, weil der Landrat in Kassel uns erst ein Jahr später den zugesicherten Kredit über 2.500 Mark gewährte.“

      So habe der Vater seiner ersten Frau, der die Tüncherarbeiten ausgeführt habe, fast zwei Jahre auf sein Geld warten müssen, sagte Louis Stillmark. „Wenn er nicht so viel Verständnis für meine missliche Lage aufgebracht hätte, wäre unser Traum vom eigenen Haus noch in letzter Sekunde geplatzt. Ihm war es zu danken, dass wir das Haus zu viert Ostern 1928 beziehen konnten.“

      Als Louis Stillmark mit seiner Hausgeschichte endlich zu Ende war, sagte August Stillmark unüberhörbar laut: „Wer Heidi einmal heiratet, erbt das Haus, ob er will oder nicht.“

      Als die Hitze etwas nachgelassen hatte, half August Stillmark Tante Anna beim Mähen. Heidi und Wolfgang machten sich auf den Weg zum Friedhof. Der Gang auf den Friedhof war für Heidi etwas Selbstverständliches und an heißen Tagen obligatorisch. Die Blumen mussten gegossen werden, und ein Grab, das ungepflegt war, war eine Schande.

      Im Schatten einer großen Fichte stand ein weißer, großer Grabstein, auf dem mit schwarzer Schrift geschrieben stand: Karoline Stillmark, geb. Büchner, *18. Februar 1888, +3. Oktober 1947 in Arnsbach.

      „Ich war zwei Jahre alt, als meine Großmutter starb. Und als sie tot war, habe ich nach ihr gefragt. Ich wollte wissen, wo sie ist“, sagte Heidi. „Als Kind habe ich oft mit meinem Großvater vor diesem Grab gestanden.“

      Wolfgang sah Heidi zu, wie sie sich über das Grab bückte, welke Blüten von den lilafarbenen Stiefmütterchen zupfte und anschließend zwei Mal hintereinander mit einer großen Zinkgießkanne goss.

      Viele Leute waren an diesem Abend auf dem Friedhof. Gießkannen schwenkend bewegten sie sich zwischen den Grabreihen. Sie verharrten andächtig vor den efeubewachsenen oder blumengeschmückten Gräbern und gedachten ihrer Verstorbenen.

      Für Heidi war es ein Leichtes, vor Gräbern in die Familiengeschichte einzutauchen. Für Wolfgang hingegen verlor sich die Spur seiner Vorfahren im Dunkel. Im schlesischen Hausdorf lag sein Großvater begraben, der bei einem Bergwerksunglück ums Leben gekommen war, und Onkel Heinrich, der Bruder seiner Mutter, war in Tschudskoj-Bor südwestlich von Petersburg gefallen.

      Krieg und Vertreibung hatten die Familienbande durchschnitten. Die einzige Brücke, die es zwischen damals und jetzt gab, war seine Großmutter, die ihm märchenhaft verbrämt, in Kindertagen Geschichten aus der schlesischen Heimat erzählt hatte.

      Als Heidi und Wolfgang vom Friedhof kamen, saß Louis Stillmark noch immer auf der Bank an der Giebelseite des alten Holzschuppens. Er zeigte sich zufrieden, dass Heidi nach Karolines Grab gesehen hatte. „Sie war eine herzensgute Frau“, sagte er. „Aber sie ist leider nur 59 Jahre alt geworden.“

      „Ich werde auch mal nicht älter“, sagte August Stillmark, der vom Mähen auf Tante Annas Wiese kam.

      Der frühe Tod seiner Mutter beschäftigte ihn sein Leben lang. Er war 26 Jahre alt, als sie gestorben war.

      August Stillmark, die Sense in der Hand, fragte Wolfgang, ob er schon mal gemäht habe. „Gesichelt habe ich schon, aber noch nie gemäht.“

      Das brachte August Stillmark auf die Idee, Wolfgang zu zeigen, wie gemäht wird.

      Er suchte im Schuppen nach einer zweiten Sense, schärfte sie mit einem Wetzstein, der, wie er Wolfgang erklärte, nicht zu hart sein durfte, und drückte Wolfgang den Sensenstiel in die Hand.

      „Jetzt kann’s losgehen“, sagte er, und Wolfgang folgte ihm auf das große Stück Wiese hinterm Haus.

      Ein Mann müsse in der Reihe mähen können, sagte August Stillmark, und seine Kurzunterweisung geriet zu einem Fachvortrag. Aufrecht müsse man stehen und dürfe sich keinesfalls nach vorn beugen, wenn man zum Mähen aushole. Das Sensenblatt sollte so auf dem Gras aufliegen, dass die Sensenspitze sich nicht in der Erde festhaken könne. Auch dürfe der Halbkreis, den man mit der Sense beschreibe, nicht zu groß sein, und August Stillmark machte Wolfgang vor, wie mit einem gleichmäßigen Kraftaufwand und gleichmäßig großen Schwüngen das Gras gleichmäßig kurz abgemäht wurde.

      Trotz der eingehenden Belehrung und des Vormachens kam bei Wolfgangs Mähversuchen nur wüstes Hacken heraus, und August Stillmark sah ein, dass Wolfgang ein Großstädter war, der wohl nie das Mähen lernen würde. Wolfgang solle die Sense zurück in den Schuppen hängen, sagte er. Während Wolfgang vom hinteren Grundstück aus auf das Haus zuschritt, die Sense wie Gevatter Tod geschultert, ließ August Stillmark sein scharfes Sensenblatt leicht durch das feuchte Gras gleiten. Mit dem Mähen hörte er erst auf, als die Dunkelheit hereinbrach und der bleiche Mond rund und hell über den nachtschwarzen Bergen aufstieg.

      Am nächsten Morgen wartete August Stillmark auf Hartfried, seinen Schul- und Dackelfreund, mit dem er jeden Sonntag einen zweistündigen Spaziergang auf den nahegelegenen Kohlberg unternahm.

      Punkt zehn stand Hartfried vorm Hoftor, um August Stillmark abzuholen, und jeder von ihnen hatte zwei Dackel dabei.

      Als sie den Kohlberg erreicht hatten, genossen sie den herrlichen Blick in die Rhön, die sich in der Ferne bläulich abzeichnete, und wenig später tauchten sie, ihre Spazierstöcke schwenkend, in den Wald ein, der ihnen ausreichend Schatten bot.

      Der Weg war schmal, und die Bäume waren hoch und August Stillmark und Hartfried atmeten die Waldluft tief ein und hatten Spaß, wenn ihre Dackel eine Wildspur aufnahmen und ihr kläffend folgten, und sie erzählten sich, was sie sonst keinem erzählten. Sie waren eben richtige Freunde seit ihrer Schulzeit, und nur für die Zeit, in der sie beim Militär gewesen waren, hatten sie Arnsbach kurzzeitig verlassen. August Stillmark hatte als Soldat in der 36. Kompanie in Dänemark gedient, und Hartfried, groß und stark, wie er gebaut war, war bei der Waffen-SS gewesen. Aber das hatte ihrer Freundschaft keinen Abbruch getan. Auf Hartfrieds Dritte-Reich-Vergangenheit kamen sie so gut wie nie zu sprechen, sie sparten bewusst aus, was ihre Verbundenheit hätte stören können. Und so drehten sich ihre vielen, endlos langen Sonntagsgespräche fast ausschließlich um Hunde, Familie und Beruf.

      Hartfried lobte an diesem Tag seinen Schwiegersohn in den höchsten Tönen. Gleich nach dem Studium an der Ingenieurschule habe dieser eine Stelle in der Abteilung für Forschung und Entwicklung bekommen, sagte Hartfried, der mit seinem Bruder zusammen einen kleinen Metallbetrieb besaß, in dem Rändelräder für Uhren aller Art und Größe gefertigt wurden.

      „Ab dem nächsten Jahr werden wir eine Injektionsvorrichtung für Diabetiker auf den Markt bringen“, verriet er. An der Entwicklung dieses neuen Produktes habe sein Schwiegersohn eine große Aktie.

      „Einen Schwiegersohn mit technischem Verständnis und handwerklichen Fähigkeiten werde ich wohl nicht bekommen“, sagte August Stillmark enttäuscht. Er stellte mit Bedauern fest, dass Wolfgang völlig unmusikalisch war, Angst vor Hunden hatte, nicht Ski fahren konnte und als Großstädter wenig Verständnis für das Haus und die Belange des Dorfes aufbrachte.

      Und schwer hinnehmbar war es für August Stillmark, dass Wolfgang noch dazu ein Evakuierter war. Ein Einheimischer als Schwiegersohn wäre ihm lieber gewesen, was ihn zu dem Satz veranlasste: „Freist du über’n Mist, weißt du, wer er ist.“

      Als Hartfried sah, wie untröstlich August Stillmark in diesem Moment war, sagte er: „Bis zur Hochzeit fließt noch viel Wasser den Berg hinunter und vielleicht läuft Heidi bis dahin noch etwas Besseres über den Weg.“

      „Schön wäre es“, sagte August Stillmark. „Aber meine Tochter hat sich schon entschieden. In zwei Jahren will sie heiraten“, und er fügte verärgert hinzu: „Ich kenne meine Frau, und ich kenne meine Tochter. Was die sich in den Kopf setzen, machen sie wahr.“

      Als Heidi die dampfenden Klöße, den Schweinebraten, das Rotkraut und die Schale mit der braunen Soße, die nicht fehlen durfte, auf den Tisch brachte, sagte August