Leben ohne Maske. Knut Wagner

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Название Leben ohne Maske
Автор произведения Knut Wagner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957163080



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Mädchenwohnheim kam es nicht. Wenn sie sich am Rande einer Vorlesung trafen, gingen sie auf einen Sprung in die Kaffeestube oder in die nahegelegene Milchbar.

      Es waren flüchtige, kurze Begegnungen, an denen sie beide ihren Spaß hatten. Sie freuten sich, wenn sie sich sahen. Doch weil Heidi stark auf das Schreiben ihrer Staatsexamensarbeit und die entscheidenden Abschlussprüfungen fokussiert war, lehnte sie jegliches Schwofen im Studentenkeller ab. „Ich bin doch nicht zum Saufen nach Jena gekommen“, erklärte sie Wolfgang kategorisch, als er nicht verstehen konnte, dass sie keine Zeit für ihn und ausschweifende Abende im Studentenkeller fand.

      Trotzdem schien Heidis Haltung auf Wolfgang abzufärben. Er stürzte sich in sein Studium, wie man es bisher von ihm nicht gekannt hatte.

      Sein Zimmer sah aus wie eine Räuberhöhle. Auf seinem Schreibtisch türmten sich Textbücher, Fachliteratur über „Deutsche Klassik“ und eigene Texte. Das Referat über Schillers „Fiesko“ nahm er sehr ernst, und er wälzte viel Sekundärliteratur. Wenn er nicht gerade die Dramen Schillers beackerte, schrieb er an seinem Stück „Der Gast oder Der Versuch zu leben“.

      Es sollte autobiografische Züge tragen und die drei Frauenrollen schrieb er Biene, Doris und Edda auf den Leib. Auch schien es, als sei das Stück eine Art Therapie, um die Auseinandersetzungen mit seinem Vater, sein bisheriges Versagen und seine unglückliche Liebe zu Edda bewältigen zu können.

      Die Veränderungen, die in Wolfgang vor sich gingen, waren offensichtlich. Er machte kein Hehl mehr daraus, dass er eine Vorliebe für vollbusige Frauen mit breiten Hüften hatte. Er schwärmte für Renoirs „Diana, die Jägerin“. Da von ihr keine billige Kopie zu bekommen war, begnügte er sich mit der „Badenden“ von Auguste Renoir und hängte sich das Bild direkt über sein Bett. Seine Vermieterin konnte ruhig sehen, auf welchen Typ Frau er stand.

      An einem Abend, als Heidi untröstlich war, weil sie in Psychologie nur eine Drei bekommen hatte, sagte Wolfgang, der sie im Wohnheim besuchte: „Lass uns einen Spaziergang durch die Gärten unten am Hang machen.“

      Sie gingen durch üppig blühende Gärten, die schwer nach Flieder dufteten, und Wolfgang überraschte Heidi mit einem Gedicht. Es hieß „Bleibe“ und war ihr gewidmet. Sie war verlegen und glücklich zugleich, als sie las: „Der Dornenstrauch in mir hat eine Knospe, / die keinen Frühling braucht, um aufzublühen. / Nur eines, eigentlich nur dieses: dich. / Und einen Preis hat dieses Blühen: BLEIBE.“

      Sie umarmte ihn, und er spürte, wie erregt sie war.

      „Und ich“, sagte sie, „möchte alt werden mit dir.“

      Dass sie vom Altwerden sprach, obwohl sie erst 21 Jahre alt war, verwunderte Wolfgang, und er dachte: Sie ist eben eine ungewöhnliche Frau. Schwer zu durchschauen.

      Ihre Beziehung wurde immer fester und so war es kein Wunder, dass Heidi ihn zu einer Feier im kleinen Kreis einlud, auf der die bestandenen Examensprüfungen begossen werden sollten.

      Als Wolfgang das Gartenlokal im Seidelpark betrat, brauchte ihm niemand zu sagen, wo Heidi, Beate und Anne saßen. Er hörte sie schon von weitem lautstark schnattern, und als er vor dem rustikalen Sechser-Tisch stand, sagte Heidi: „Da bist du ja endlich.“

      Bernd, der mit Beate liiert war, sagte: „Somit wäre unsere Männerrunde komplett.“ Und Jochen, ein Sportstudent, sagte: „Ich gehöre zu Anne.“

      „Alles klar“, sagte Wolfgang und setzte sich zu Heidi, die schon mächtig in Stimmung war. „Jetzt sind wir dem Staatsexamen schon ein ganzes Stück näher gekommen“, sagte sie. „Drei von fünf Prüfungen haben wir schon geschafft.“

      „Mit Bravour geschafft“, ergänzte Beate, die sich vor jeder Prüfung vor Aufregung erbrechen musste.

      Obwohl an diesem Abend viel getrunken wurde, musste keiner kotzen.

      Und als man gegen Mitternacht aufbrach, hatte jeder von ihnen zwölf Rhöntropfen, etliche Biere und eine halbe Flasche Gamza-Rotwein intus.

      Heidi hatte mehr getrunken als sonst, sie war ausgelassener als sonst, und sie war nicht so zugeknöpft wie sonst. Vor der Tür des Gartenlokals schien Heidi zu spüren, wie warm die Nacht war. Der Vollmond stand hell am Himmel, und sie sagte übermütig: „Wir sollten im Schleichersee baden gehen.“

      „Jetzt?“

      „Jetzt“, sagte Heidi.

      Sie stürzten sich nackt in den Schleichersee, bis der ABV mit seinem großen Schäferhund am Strand erschien und das Badevergnügen bei Nacht unterband. Wahrscheinlich hatte ihn jemand, der neidisch auf die ausgelassenen Nacktbader war, informiert. Der Vollmond schien durch die majestätisch großen Bäume. „Kommt raus!“, rief er. „Es ist streng verboten, hier zu baden!“

      Wolfgang hatte Angst vor dem Schäferhund und nur zögernd folgte er Heidi, die, im flachen Wasser angekommen, mutig auf das Ufer zuschritt. Der ABV hatte nur Augen für Heidi, Beate und Anne. Zu Wolfgang, Bernd und Jochen sagte er süffisant: „Dann noch viel Spaß.“ Und drohend fügte er hinzu: „Und verhaltet euch ruhig auf dem Heimweg. Sonst gibt’s Ärger!“

      Heidi, die sich mit ihrem Unterrock und ihrem Schlüpfer notdürftig abgetrocknet hatte, war völlig nackt unter ihrem dünnen Sommerkleid, als sie durchs nächtliche Jena liefen, und Wolfgang konnte sehen, wie das Kleid auf ihren nassen Hüften klebte.

      Als sie Richtung Stadt auf den Paradiesbahnhof zuliefen, sagte Wolfgang: „Ich muss jetzt links weg.“

      „Ich auch“, sagte Heidi zur Überraschung aller. „Ich will doch endlich sehen, wo Wolfgang haust.“

      Im Dunkeln betraten sie Wolfgangs Kellerwohnung und Heidi sagte:

      „Licht brauchen wir nicht zu machen. Der Mond ist hell genug.“

      „Aber zur Orientierung ist es vielleicht nicht schlecht, wenn ich mal kurz das Licht anmache“, sagte Wolfgang.

      „Orientierung kann nicht schaden“, Heidi klang ziemlich beschwipst.

      „Orientierung ist immer gut.“

      Als sie „Die Badende“ über Wolfgangs Bett sah, sagte sie: „Da bin ich ja in bester Gesellschaft“ und fing an, sich auszuziehen. Als sie nackt in der Stube stand und ihr Kleid über den Stuhl vorm Schreibtisch legte, musste Wolfgang, der in der Tür zur Küche stand, daran denken, wie er die dicke Frau Fendrich nackt unter der Dusche gesehen hatte.

      Er löschte das Licht, zog sich aus und legte sich zu Heidi auf das weiche Federbett. Später sagte Heidi, die entspannt und erschöpft neben ihm lag: „Sind wir nicht geschaffen füreinander?“

      „Ich denke schon.“ Wolfgang war mit seinen Gedanken bereits beim ersten gemeinsamen Ostsee-Urlaub. Drei Wochen zusammen in einem Zelt, dachte er. Was Schöneres kann es doch gar nicht geben.

       7. Kapitel

      Wenige Tage vor dem gemeinsamen Ostseeurlaub rief Heidi an. Sie könne nicht mit zum Zelten fahren, ihre Mutter liege mit einer Blinddarmentzündung im Krankenhaus und müsse operiert werden. „In dieser Zeit muss ich mich um den Haushalt kümmern“, sagte Heidi. Ihr Vater und ihr Großvater müssten von ihr bekocht werden. Wenn Wolfgang sich entschließen könnte, nach Arnsbach zu kommen, wäre sie sehr froh, meinte Heidi.

      Einen Tag vor Heidis Geburtstag fuhr Wolfgang mit dem 14-Uhr-30-Zug von Erfurt in Richtung Meiningen und stieg nach einer Stunde Bahnfahrt in Zella-Mehlis um. Dann ging es mit einer Dampflokomotive auf einer einspurigen Nebenstrecke bis zur ersten Haltestelle in Birkenhall, und von da aus musste Wolfgang drei Kilometer zu Fuß zurücklegen, bis er das Stillmarksche Haus am Rande von Arnsbach erreicht hatte.

      Nichtsahnend trat er durch das Hoftor, das sperrangelweit offen stand. Kaum hatte er den Hof betreten, rannten ihm drei kläffende Dackel entgegen. Angst durchzuckte ihn. Er stand wie angewurzelt und hielt den Atem an, als einer der Dackel an ihm hochzuspringen versuchte.

      In diesem Moment ertönte ein Pfiff. Ein Mann um die vierzig kam um die Hausecke herum.