Mary und das Geheimnis der Kristallpaläste. Elfriede Jahn

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Название Mary und das Geheimnis der Kristallpaläste
Автор произведения Elfriede Jahn
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783951981307



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sie in ihrem Bett lag, dachte Mary mit großer Zärtlichkeit an ihre Großmutter und mit Wehmut an ihre Mutter, die ihr so ähnlich gewesen war. Sie erinnerte sich daran, dass sie, wann immer sie als Kind bei ihrer Großmutter übernachtet hatte, auf ihrem Kopfkissen eine weiße Feder gefunden hatte. „Das ist ein Engelgruß, der dir gute Träume schenkt“, hatte Laura dann immer gesagt.

      Trotz der vielen Gedanken, die ihr im Kopf herumschwirrten, und obwohl keine Feder mehr auf ihrem Kopfkissen lag, schlief Mary in dieser Nacht tief und traumlos.

      Larry und Doff übernachteten im Bootshaus beim Anlegesteg. Während Larry bereits leicht schnarchte und von Mary träumte, konnte Doff lang nicht einschlafen. Er lag in der anderen Ecke der zugigen Holzhütte auf seiner Matratze, in warme Decken gehüllt, und lauschte dem Geräusch, das die Wellen machten, die sich am Steg brachen. Noch konnte er sein Glück gar nicht fassen: War er wirklich dazu bestimmt, gemeinsam mit seinen Freunden ein außergewöhnliches Abenteuer zu erleben? Es war beinah zu schön, um wahr zu sein.

      Bilder aus seiner Vergangenheit quälten Doff: die unordentliche Wohnung seiner Eltern in Townsend; seine Mutter, die im selben Pub als Bedienung arbeitete, in dem sich sein Vater jeden Abend betrank; die täglichen, lautstarken Auseinandersetzungen seiner Eltern und die Gesichter seiner Geschwister, die sich erschrocken aneinanderkauerten. Hoffentlich ging es ihnen gut!

      In Doffs Vorstellung wurde Larry zum Ritter in silberner Rüstung, der auf seinen Schimmel sprang, um aus seiner untergehenden Heimat zu fliehen, und Mary zur Lichtgestalt, die sie beide leitete. Langsam lullte ihn der Rhythmus der Meereswogen ein und Doff schloss die Augen. Hinter seinen geschlossenen Augenlidern ging, rosig wie eine riesige Marzipankugel, die Sonne auf. Doff lächelte selig. Er würde keine Leichen für Master Ruppy waschen, sondern stattdessen ein großes Abenteuer erleben! ... Leise begann er zu schnarchen.

      Der Aufbruch

      In den nächsten Tagen trafen sich die Freunde immer zur verabredeten Zeit in ihrem Versteck. Gleich neben ihrem Eingang hatte sich eine Seedohle ihr Nest gebaut, das war allerdings zu ihrer Enttäuschung das einzig Bemerkenswerte, was sich ereignete. Mary fiel es zusehends schwerer, sich auf ihre alltäglichen Pflichten in der Schule zu konzentrieren. Am Nachmittag des dritten Tages betrat sie die kleine Buchhandlung in Lysardh Fount. Sie hatte beschlossen, ein Tagebuch zu führen, in dem sie alles aufzeichnen wollte. „Ablegen der Gedanken“ nannte sie es. Heute wollte sie damit anfangen.

      Die Ladenbesitzerin, Mrs Toth, begrüßte sie wie gewöhnlich überfreundlich, was Mary nicht ausstehen konnte. Sie war grellblond gefärbt, davon abgesehen allerdings eher hausbacken, was sie vergeblich durch modische Kleidung wettzumachen versuchte. Ihren neugierigen, kleinen und flinken Augen entging nichts.

      „Du strahlst ja richtig, Mary“, flötete sie mit der sanften Stimme, die ihren Kunden vorbehalten war. Larry hatte erzählt, dass ihr spindeldürrer Mann, der die Bäckerei zwei Häuser weiter betrieb, diese freundliche Stimme so gut wie nie zu hören bekam. Wie immer war Mary höflich, aber reserviert. Rasch sah sie sich um, entdeckte, was sie suchte, wechselte mit Mrs Toth einige belanglose Sätze über das Wetter, bezahlte das zu teure, aber schön gebundene Tagebuch an der Kasse und ignorierte die Frage der Buchhändlerin, ob sie denn schon einen Freund habe.

      Als sie auf der Straße stand, atmete Mary erleichtert auf. Mit der Hand strich sie über den Buchdeckel, den ein Rosenmuster zierte, und dachte über die ersten Zeilen nach, die sie ihrem Tagebuch anvertrauen wollte. Ihre Reise sollte nach Pakistan gehen. Mary wusste nicht viel über dieses Land. Keiner von ihnen besaß einen Computer, doch Mary hatte sich in der Schule einige Fakten herausgesucht. Zum Glück besaß ihr Lehrer einen alten Computer, den er ihr zur Verfügung stellte ...

      „Ein Reiseführer wäre gut“, dachte sie, „mit Fotos und allem Drum und Dran.“ Doch den müsste sie bei Mrs Toth bestellen und das war bei deren Neugierde und Tratschsucht zu riskant.

      So schlenderte sie auf dem Nachhauseweg durch den nahen Park. Es war später Nachmittag, und sie wollte sich dort auf eine Bank setzen, um in Ruhe ihre ersten Einträge über die Erlebnisse der letzten Tage zu machen. Während sie über das Gras spazierte, fiel ihr ein junger Mann auf. Er saß allein auf einer Parkbank, blickte nachdenklich vor sich hin und schien auf jemanden zu warten. Mary ging langsamer und musterte den Mann aus dem Augenwinkel. Sie schätzte ihn auf Ende zwanzig. Er hatte reine klare Gesichtszüge und außergewöhnlich grüne Augen. Sein makelloses Gesicht war umrahmt von dunkelblonden langen Haaren. Marys Schritte wurden noch langsamer und, ohne es selbst bemerkt zu haben, war sie plötzlich stehen geblieben. Es war, als ob eine unsichtbare Kraft sie zu diesem Fremden hinzog. Unvermittelt hob er den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. Ein angenehmer Schauer lief ihr über den Rücken und in diesem Augenblick ahnte sie es ... Noch ehe er ein Wort sagte, wusste sie, wen sie vor sich hatte ...

      „Ich bin Troy, dein geistiger Begleiter“, sprach er und hielt ihr dabei seine Hand zum Gruß entgegen.

      Er war es, der gute Geist, der Beschützer, den man ihr zur Seite gestellt hatte.

      „Ich heiße Mary“, flüsterte sie leise, als sie ihm die Hand reichte. In dem Augenblick, als sich ihre Hände berührten, durchzuckte Mary ein merkwürdig vertrautes Gefühl, wie ein Blitz flammte in ihren Gedanken ein verschwommenes Bild auf. Sie sah Troy und sie sah sich selbst, es war wie eine Erinnerung aus einem längst vergangenem Leben. Sie wollte diesen Augenblick festhalten, so fasziniert war sie von ihrem Gegenüber. Die Kraft und die Liebe, die von ihm auf sie überströmten, gaben ihr ein noch nie da gewesenes Gefühl. Fasziniert sah sie in sein Gesicht. Es wirkte jung und dann doch auch wieder alt und weise. Sie fühlte sich von der ersten Sekunde an wohl in seiner Nähe.

      Troy betrachtete das hübsche Mädchen, an dessen Seite ihn das Schicksal gestellt hatte, und war überrascht. Er hatte schon vieles auf Erden gesehen, eine Aura wie diese war allerdings selbst ihm noch nie begegnet. Ein strahlendes Violett umgab Mary. Troy war fasziniert von dieser Kraft, die von ihrem außergewöhnlichen Aurafeld ausging.

      „Die höchste Göttliche Energie“, dachte er im Stillen. Dieser Gedanke ließ ihn unwillkürlich lächeln, und er wusste, warum gerade Mary auserwählt worden war. Langsam ließen sich ihre Hände wieder los. Troy trat einen Schritt zurück.

      „Du solltest mit den Vorbereitungen beginnen“, sagte er, „wir werden uns bald wiedersehen. Bevor die Reise beginnt, werde ich wieder zu euch stoßen und dann machen wir uns gemeinsam auf den Weg.“

      Er lächelte Mary noch einmal warm zu, bevor er sich abwandte und davonging. Mary schloss kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete, konnte sie Troy nicht mehr sehen. Sie war verwirrt und enttäuscht, weil ihre Begegnung so abrupt geendet hatte und sie noch so viele Fragen hatte, doch sie war auch ungemein erleichtert. Das war die Bestätigung, auf die sie gewartet hatte. Ihre Vision war Wirklichkeit gewesen und kein Traum!

      „Was für Vorbereitungen denn?“, fragte Larry verstimmt. „Hat dieser Troy denn nichts Genaueres gesagt?“

      Mary hatte die Freunde noch im Bootshaus angetroffen und überschwänglich von ihrer Begegnung mit Troy erzählt. Während Doff zufrieden wirkte, sah Larry verdrießlich aus. Mary strahlte von innen heraus und das machte ihn misstrauisch und verunsicherte ihn.

      „Das ist wieder einmal typisch für dich!“, schimpfte Doff. „Hast du denn gar kein Vertrauen, Larry?“

      Mary, die sich an ihre intensiven Gefühle erinnerte und an die Sprachlosigkeit, die es unmöglich gemacht hatte, Fragen zu stellen, spürte erschrocken, dass sie errötete. Das entging Larry nicht und es machte Mary selbst unsicher.

      „Er wird zu uns kommen, wenn es so weit ist“, sagte sie mit mehr Nachdruck, als sie vorgehabt hatte. „Und dann erfahren wir bestimmt mehr.“

      „Hoffentlich“, bemerkte Larry skeptisch und presste seine schmalen Lippen zusammen.

      Doff, der sich von Larrys schlechter Laune nicht beirren ließ, gab zu bedenken: „Vielleicht hat Troy ja gemeint, dass wir unsere Dinge in Ordnung bringen sollten, bevor wir aufbrechen?“

      Zu seiner Überraschung gab Mary ihm dafür einen Kuss und Doff stammelte verlegen, dass Troy ihn nicht