Das Fußvolk der "Endlösung". Thomas Sandkühler

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Название Das Fußvolk der "Endlösung"
Автор произведения Thomas Sandkühler
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783534746217



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konnten, wenn immer mehr Polen und Juden in ihr Gebiet abgeschoben wurden. Unter solchen Vorzeichen blühten destruktive Utopien: Zunächst sollte ein »Reservat« in Ostpolen die ersehnte Lösung bringen, dann die Insel Madagaskar, schließlich der schnelle Sieg über die Sowjetunion. Keiner dieser Pläne wurde verwirklicht. Am Ende blieb nur der systematische Massenmord übrig, der seit langem durch die deutschen Akten geisterte. Himmlers ›germanische‹ Einwände gegen die »Ausrottung« der Juden hatten keine Geltung mehr.

      Die »Realisierung des Utopischen«, wie der Historiker Hans Mommsen diesen Vorgang genannt hat, wurzelte in Polen, anders als im besetzten Westeuropa und der UdSSR, im Scheitern gigantomaner Pläne für die SS-Ethnopolitik. Diese beruhten auf der gedanklichen Voraussetzung, dass »den Juden« kein Menschenrecht zustand und es oberste Zielsetzung der Politik sein musste, sie mit welchen Mitteln auch immer aus dem deutschen Machtbereich zu entfernen. Der Antisemitismus war Staatsräson und wurde von weiten Teilen der nichtjüdischen Deutschen akzeptiert, geteilt, durch Handeln beglaubigt. Zweifel an der Richtigkeit judenfeindlicher Politik waren nicht vorgesehen und wurden bestenfalls hinter vorgehaltener Hand geäußert.

      2.1Deportationen und Pläne für ein »Judenreservat«

      Hitler wollte, wie gesehen, »das Reichsgebiet […] von Juden und Polacken […] reinigen.« Im Südosten Polens wollte er ein »Judenreservat« gebildet sehen, in das alle jüdischen Staatsangehörigen Polens, Deutschlands, Österreichs und der Tschechoslowakei deportiert werden sollten. Dieses Abschubgebiet sollte im soeben zu Deutschland gekommenen Lubliner Gebiet entstehen.1

      Das war der Kontext der bereits erfolgten Befehle des Reichssicherheitshauptamts. Heydrich übersandte sie den vier in Polen tätigen Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD am 21. September 1939.2 Er erwähnte ein nicht näher konkretisiertes »Endziel«, zu dessen kurzfristiger Vorbereitung kleinere jüdische Gemeinden in den größeren Städten konzentriert werden sollten. Die Juden sollten registriert und die von ihnen betriebenen Geschäfte »arisiert« werden. Die Durchführung der Registrierung und die Vorbereitung der Umsiedlungen wurde den jüdischen Kultusgemeinden auferlegt. »Jüdische Ältestenräte«, meist Judenräte genannt, wurden Vollzugsorgane deutscher Weisungen. Sie wurden mit härtesten Strafen im Weigerungsfall bedroht.3

      Himmler wollte zu diesem Zeitpunkt nicht weniger als 7 Millionen Polen, Juden und »Zigeuner«, ins Generalgouvernement abschieben lassen, auch aus dem Reich in den Grenzen von 1937. Die mit den sowjetischen Behörden abgestimmte, für Himmlers machtpolitische Stellung bedeutsame Aktion »Heim ins Reich« gab Tempo und Umfang der Deportationen vor. Im Warthegau und Danzig-Westpreußen sollten Deutsche aus dem Baltikum und Wolhynien angesiedelt werden. Man wollte die Umsiedler großzügig mit Land und Höfen versehen, die zuvor polnischen Bauern abgenommen worden waren. Für den Anfang sollten laut Befehl Himmlers 1 Millionen Menschen vertrieben werden, darunter mehr als eine halbe Million Juden aus den deutsch annektierten Gebieten Polens.4

      Die Transporte wurden vom Reichssicherheitshauptamt mit der Reichsbahn abgestimmt und innerhalb des Generalgouvernements vom Höheren SS- und Polizeiführer koordiniert, der dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei die Verteilung auf die Distrikte übertrug.5 Begleitmannschaften für die Transporte stellte der Volksdeutsche Selbstschutz, Globocniks Terrortruppe.6

      Heydrichs Untergebener Adolf Eichmann hielt unterdessen Ausschau nach einem geeigneten Territorium für das »Judenreservat«. In der Kleinstadt Nisko am San wurde ein provisorisches Durchgangslager für die Neuankömmlinge errichtet. Von dort sollten sie über den Fluss ins Lubliner Gebiet abgeschoben werden. Zwischen Himmler, Frank und dessen damaligem Stellvertreter, dem österreichischen NSDAP-Funktionär Arthur Seyß-Inquart, bestand Konsens, dass das »Reservat« tödlichen Zwecken dienen sollte. Frank wollte die »jüdische Rasse körperlich angehen […]. Je mehr sterben, umso besser; ihn [den Juden] zu treffen, ist ein Sieg unseres Reiches.«7

      Ab 17. Oktober rollten Transporte aus dem Protektorat Böhmen und Mähren, Ostoberschlesien und Wien nach Nisko. Allerdings war diese erste Umsiedlung schlecht vorbereitet und unzureichend mit den ebenfalls anlaufenden Transporten aus Westpolen koordiniert.8 Bereits Ende Oktober brach Heydrich die Transporte nach Nisko ab.9 Im Generalgouvernement hielt man allerdings noch länger an der Idee fest, die polnischen Juden im Distrikt Lublin zu konzentrieren. Seit Anfang 1940 verschwand dieses Vorhaben von der Bildfläche; im März wurde es offiziell aufgegeben.10

      Da Himmlers Bevölkerungsbewegungen mehr Zeit beanspruchten als ursprünglich gedacht, zerlegte das Reichssicherheitshauptamt die Abschiebungen in mehrere »Nahpläne«, denen später ein nicht näher erläuterter »Fernplan« folgen sollte. Die Parallele zur Befehlsgebung gegen die Juden, in der ebenfalls zwischen Nah- und Fernziel unterschieden wurde, ist unübersehbar.11 Im Rahmen eines 1. Nahplans kamen von Anfang Dezember 1939 bis Ende März 1940 über 200 000 Polen und Juden aus dem Warthegau in alle Distrikte des Generalgouvernements. Sie wurden bei Winterkälte dorthin verschleppt.

      Dieses Schicksal traf auch rund tausend Juden aus der Hafenstadt Stettin, die im Februar 1940 Züge nach Polen besteigen mussten. Mehr als ein Viertel dieser Menschen kam beim Transport oder kurz nach der Ankunft durch Hunger und Kälte um. Diese erste Deportation deutscher Juden war so schauerlich, dass sie Aufsehen im Ausland erregte. Die NS-Führung sah daher vorerst von weiteren Transporten aus dem »Altreich« ab.12

      Von Mai 1940 bis März 1941 trafen im Rahmen des 2. und 3. Nahplans rund 76 000 Polen und Juden aus Danzig Westpreußen, dem Regierungsbezirk Zichenau, dem Warthegau und zuletzt auch aus der österreichischen Hauptstadt Wien im Generalgouvernement ein. Sie wurden nun vorzugsweise in den Distrikt Lublin geschickt. Zwar hatte man das Vorhaben eines »Reservats« inzwischen zu den Akten gelegt. Aber der SS- und Polizeiführer Globocnik unterhielt an der damaligen deutsch-sowjetischen Grenze ein militärisches Befestigungsprojekt. Die Transporte sollten dazu dienen, Zwangsarbeiter für dieses Vorhaben heranzuschaffen.13

      Unterdessen entstand auf Initative des Auswärtigen Amts der Plan, alle europäischen Juden mit Schiffen auf die Insel Madagaskar zu deportieren. Madagaskar gehörte zum Kolonialreich des militärisch geschlagenen Frankreich.14 Das Auswärtige Amt arbeitete eng mit dem Reichssicherheitshauptamt zusammen; nicht nur bei der Ausarbeitung des Madagaskar-Plans, sondern auch bei der späteren »Endlösung« durch systematischen Mord. Der Madagaskar-Plan war eine riesenhafte Neuauflage der »Reservats«-Pläne von 1939, die auf die ›passive‹ Ermordung der Juden durch Hunger und Seuchen hinauslief. Hierauf spielte Himmler an, als er in seiner schon zitierten Denkschrift über die »Fremdvölkischen« seiner Hoffnung Ausdruck gab, den »Begriff Juden […] durch die Möglichkeit einer großen Auswanderung sämtlicher Juden nach Afrika oder sonst in eine Kolonie völlig auslöschen zu sehen.«15 Auch dieses Vorhaben zerschlug sich jedoch, weil die deutschen Invasionspläne gegen Großbritannien im November 1940 scheiterten und Schiffstransporte des vorgesehenen Umfangs damit unmöglich wurden.16

      Umso lauter schallten die Proteste der Beamten im Generalgouvernement gegen die laufenden Deportationen aus Westpolen. Sie hatten sich schon vor der Aussicht gesehen, ihr Herrschaftsgebiet bald in Richtung Madagaskar »säubern« zu können. Diese Möglichkeit fiel nun fort. Kreishauptmänner behaupteten, die ankommenden Juden stellten eine Seuchengefahr in ihren ohnedies übervölkerten Gebieten dar und betätigten sich auf dem Schwarzmarkt. Auch Generalgouverneur Frank setzte sich gegen weitere Deportationen zur Wehr. Am 15. März 1941 stellte das Reichssicherheitshauptamt die Deportationen ins Generalgouvernement ein. Dies geschah allerdings weniger aus Rücksicht auf die Zivilverwaltung, sondern deshalb, weil die »Umsiedlungen« mit den Aufmarschvorbereitungen zum Krieg gegen die Sowjetunion kollidierten.17

      2.2Isolierung und Ghettoisierung

      Es gehörte seit dem Mittelalter zum Repertoire diskriminierender Maßnahmen gegen die jüdische Minderheit, sie von der Mehrheitsbevölkerung abzugrenzen und in zugewiesenen Wohnbezirken zu konzentrieren. Das Ghetto, historisch erstmals und namensgebend in der Kaufmannsrepublik