Ichsucht. Johannes Stockmayer

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Название Ichsucht
Автор произведения Johannes Stockmayer
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783869548333



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aus erlösten und befreiten Ichs.

      Gibt es Ichlinge in der christlichen Gemeinde? Vor allem gibt es sie dort, wo Menschen ihren Mangel in der Gemeinde stillen wollen. Weil sie ihre tiefe Bedürftigkeit mitbringen und fordern, dass andere sie satt machen. Ichlinge gibt es dort, wo das Ich an der Garderobe abgegeben wird und die Gemeindeglieder zum Es werden, die sich wie Babys versorgen lassen. Es passiert dann Folgendes: Die Predigt wird zur Verkündigung und ist keine lebendige Begegnung mit Gott mehr. Das Gebet wird zur Liturgie und das Gespräch zwischen Mensch und Gott erlahmt. Der Glaube reduziert sich auf das Für-wahr-Halten und äußert sich nicht in einer tiefen Beziehung zum Gott des Lebens. Die Kirche wird zur Wohlfühlgemeinde und die Gemeinschaft zur Heilsinstanz eines frommen Wirs, das die Seele streichelt.

      In der Gemeinschaft der Ichlinge hat auch die Ichsucht ihren Platz. Es ist das große Ich, das sich über die anderen kleinen, rudimentären Ichs stellt und sie beherrscht – weil es dadurch seinen Wert und seine Bedeutung bekommt. Aber alle anderen bleiben klein und abhängig.

      Die tiefe Sehnsucht der Menschen nach dem wahren, dem wirklichen, dem echten Leben fordert den Menschen auf, sich auf die Suche zu machen. Es ist die Suche nach dem „Ich”. Wird er nicht fündig, misslingt die Suche oder geht in die Irre, wird sie zur Sucht: Der Mensch wird abhängig – von seinen Bedürfnissen und von anderen Menschen. Denn im Bereich seiner Sehnsüchte ist der Mensch am verletzlichsten. Wenn es um sein Ich geht, geht es um alles, geht es um seine ganze Existenz.

      2Ulrich Beck, Risikogesellschaft, Frankfurt 1986, Seite 199

      3Faith Popcorn, Der Popcorn Report, München 1992, Seite 40

      4Claudia Szczesny-Friedmann, Die kühle Gesellschaft, München 1991, Seite 11

      5Heiko Ernst, Psychotrends, München 1996, Seite 14

      6Friedrich Schorlemmer, Zeitansagen, München 1999, Seite 342

      7K. Peter Fritzsche, Die Stressgesellschaft, München 1998, Seite 10 ff.

      8Johannes Fiebig, Abschied vom Ego-Kult, Krummwisch 2001, Seite 122

      9Horst W. Opaschowski, Deutschland 2020, Wiesbaden 2004, Seite 39

      10Horst W. Opaschowski, Wir! Warum Ichlinge keine Zukunft haben, Hamburg 2010

      11Matthias Horx, Das Megatrend Prinzip, München 2011, Seite 126

      12www.alltagsforschung.de/die-psychologie-des-narzissmus/

      13Gerhard Schulze, Die beste aller Welten, München 2003, Seite 212

      14Peter Hahne, Schluss mit lustig, Lahr 2004, Seite 141

      15Stephan Grünewald, Deutschland auf der Couch, Frankfurt 2006, Seite 63

      16Hans-Willi Weis, Exodus ins Ego, Düsseldorf 1998, Seite 10 ff.

      17Frank Schirrmacher, Ego – Das Spiel des Lebens, München 2013

      18Thomas Ramge, Nach der Ego-Gesellschaft, München 2006, Seite 202

      19Horst-Eberhard Richter, Das Ende der Egomanie, Köln 2002

      20Horst W., Opaschowski, Wir!, Hamburg 2010, Seite 200 f.

      21Stephan Valentin, Ichlinge, München 2012, Seite 328

      22Horst-Eberhard Richter, Der Gotteskomplex, Gießen 2005, Seite 35

      23Horst-Eberhard Richter, Die Krise der Männlichkeit, Gießen 2006, Seite 80

      24Viktor E. Frankl, Ärztliche Seelsorge, München 2014

      25Martin Buber, Ich und Du, Stuttgart 1995, Seite 12

      26Karl Jaspers, Philosophie Band 2, Berlin 1932, Seite 51, zitiert nach Otto Friedrich Bollnow, Existenzphilosophie, Stuttgart 1949, Seite 46

      27Nach Otto Friedrich Bollnow, Existenzphilosophie, Stuttgart 1949, Seite 46

      28Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt 1980, Seite 30

      29Erich Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität, Hamburg 1977, Seite 229

       2.Die Sehnsucht der Menschen

       Auf der Suche nach dem Ich

      In unserer konsumorientierten Gesellschaft werden alle Sehnsüchte der Menschen bedient. Für Geld kann man alles haben. Wirklich alles? Es gibt Sehnsüchte, die bleiben unbefriedigt, auch wenn man Geld genug hat. Sie zu stillen wird zu einem größeren Wert als alle Konsumartikel. Diese Sehnsüchte haben alle mit dem Ich des Menschen zu tun: mit seinem Selbstverständnis, seinem Selbstwert, seiner Identität. Der Kampf um das „Ich” ist entbrannt. Es geht darum, das Ich zu fördern, zu optimieren, zu finden und zu entfalten, möglichst groß zu machen, aufzupolieren, durchsetzungsfähig zu gestalten, unverletzlich abzusichern und vieles mehr. Aber das geht nur, wenn das Ich in seiner Wurzel gesund ist. Stimmt die Grundlage nicht, ist sämtliche Arbeit am Ich doch nur eine kosmetische Operation, eine mühsame Reparatur und es bleibt beim Versuch, etwas abzustützen, was wackelig ist. In folgenden Sehnsüchten zeigt sich, wo das Ich Mangel leidet:

       1. Die Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung

      Liebe und Anerkennung sind etwas Selbstverständliches, sie sind überlebensnotwendig. Wer keine Liebe und Anerkennung bekommt, verkümmert. Deshalb will jeder Mensch wahrgenommen und geliebt werden. Er will wichtig sein. Aber wer gibt Liebe und Anerkennung, wenn sie jeder für sich möchte? In unserer Gesellschaft gibt es zunehmend viele Ichs, die gesehen werden wollen. Wer schaut sie an? Viele schreien nach Zuwendung. Wer hört sie und gibt ihnen, was sie brauchen?

       2. Die Sehnsucht nach Sicherheit

      Die Komplexität der Welt ist für viele verunsichernd. Die ständigen Veränderungen und Umbrüche lassen nicht zur Ruhe kommen. Was heute gilt, ist morgen anders. Die Zukunft ist fragwürdig. Das Gleichgewicht der Mächte ist filigran und bedroht. Die wirtschaftliche Stabilität ist nicht nachhaltig. Permanent bedroht eine Krise die momentane Ruhe. Es gibt keine wirkliche Absicherung, nichts ist tatsächlich dauerhaft stabil. Was ist zu tun? Wo gibt es Orte der Geborgenheit? Wo kann man sich wirklich sicher sein?

       3. Die Sehnsucht nach Bedeutung

      Man will gern eine wichtige Rolle spielen, nicht nur ein kleines Rädchen im allgemeinen Getriebe sein. In der großen Masse möchte man auffallen, als Individuum erkenntlich sein. Das zwingt zur Individualisierung, zum Selbstmanagement, man muss sich optimieren. Es genügt nicht, einer von vielen zu sein, man muss seine Besonderheiten herausstreichen – und wenn man dabei zum bunten Hund wird: Was ist mein Markenzeichen? Was ist meine Stärke? Auch Kleinigkeiten bekommen eine große Bedeutung und werden marktschreierisch präsentiert.

       4. Die Sehnsucht nach Freiheit

      Man sehnt sich nach Unabhängigkeit, will überall sein, alles mitnehmen und von einer größtmöglichen Weite und vielen Alternativen profitieren. Das Kleine genügt nicht, Einschränkungen hindern die Entfaltung. Es darf nichts geben, was die eigene Individualität begrenzt. Alles ist möglich und alles geht. Ja nicht mit weniger zufrieden sein. Das Leben leben bis zum Anschlag. Wehe, wenn sich Krankheit, Behinderung oder sonstige Beeinträchtigungen in den Weg stellen. Gesetze werden nicht akzeptiert, Verbindlichkeiten nur dann, wenn sie nicht einschränken.

       5. Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit

      Der Wunsch, in der großen, weiten Welt einen Ort zu haben, wo man zu Hause ist, einen Menschen, bei dem man andocken kann und dem man der Wichtigste ist. Stärke dadurch bekommen, dass man Mitglied einer Gemeinschaft ist, Teil eines großen Ganzen, das einen stützt und schützt. Sich einmal