Ichsucht. Johannes Stockmayer

Читать онлайн.
Название Ichsucht
Автор произведения Johannes Stockmayer
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783869548333



Скачать книгу

sprechen einem zu, dass man okay ist, wie man ist.

      Hinter all diesen Sehnsüchten steckt die Suche nach dem Ich. Es ist dem Menschen bei allem, was ihn beschäftigt, abhandengekommen, deshalb muss er es finden. Er jagt seinem Ich nach; hat er es gefunden, tut er alles, um es zu pflegen und zu nähren. Das Selbst empfindet einen Mangel und versucht ihn auszugleichen. Der Mensch ist innerlich nicht satt und versucht nun, seinen Hunger zu stillen. Er sorgt sich um sich – wer tut es sonst? Aber so vereinzelt der Mensch und das Ich bläht sich immer weiter auf. Irgendwann platzt die Blase. Die Ichsucht ist die Mangelerscheinung des Ichs. Es fehlt ihm an Anerkennung, Sicherheit, Bedeutung, Freiheit und Geborgenheit. Das, was fehlt, wird nun künstlich erzeugt. Aber da der Mangel nur mit echter Liebe, zuverlässiger Sicherheit, realistischer Bedeutung, verbindlicher Freiheit und gelassener Stärke zu füllen ist, bleiben viele Menschen hungrig. Ihr Hunger wird nicht wirklich gestillt, dem Mangel nicht aufgeholfen. Deshalb brauchen sie immer mehr. Die Gier wächst ins Unermessliche – und trotzdem reicht es nicht. Es muss immer mehr von demselben zugeführt werden. Das ist die Sucht. Das ist das unersättliche Ich, das nie zufrieden ist. Aber irgendwann kollabiert das Ganze, dann geht nichts mehr.

      Sucht ist nach WHO (World Health Organization) ein Zustand periodischer oder chronischer Intoxikation, verursacht durch wiederholten Gebrauch einer natürlichen oder synthetischen Substanz, der für das Individuum und die Gemeinschaft schädlich ist.

      Psychische (seelische) Abhängigkeit ist definiert als übermächtiges, unwiderstehliches Verlangen, eine bestimmte Substanz/ Droge wieder einzunehmen (Lusterzeugung und/oder Unlustvermeidung). Physische (körperliche) Abhängigkeit ist charakterisiert durch Toleranzentwicklung (Dosissteigerung) sowie das Auftreten von Entzugserscheinungen.

      Abusus oder Missbrauch beinhaltet den unangemessenen Gebrauch einer Substanz/Droge, das heißt überhöhte Dosierung und/oder Einnahme ohne medizinische Indikation. Wiederholtes Einnehmen führt zur Gewöhnung, psychisch durch Konditionierung, körperlich in der Regel mit der Folge der Dosissteigerung.

      Zu den krankheitstypischen Verhaltensweisen zählen Beschönigung, Verleugnung, Bagatellisierung und Dissimulation mit Verheimlichungstendenzen. Das Selbstwertgefühl ist durch Schuldgefühle reduziert, meist findet sich eine erniedrigte Frustrationstoleranz.30 Der Liedermacher Konstantin Wecker sagt es aufgrund eigener Suchterfahrungen so: „Sucht ist die Folge eines Phantomschmerzes, wenn man die Spiritualität wegoperiert hat.” Es fehlt also etwas ganz Entscheidendes und das führt dazu, dass man es sucht und das Loch mit unmäßigen Mitteln zustopfen möchte.

      Der amerikanische Psychiater und Theologe Gerald May (1940 - 2005) bezieht den Grund der Sucht auf nicht erfüllte Sehnsucht: „In überfließender Liebe hat uns Gott erschaffen und uns dabei den Keim der Sehnsucht eingepflanzt. Unser ganzes Leben lang nährt Gott dieses Verlangen und lockt uns, das große Doppelgebot der Liebe zu erfüllen: du sollst Gott mit ganzem Herzen lieben und deinen Nächsten wie dich selbst! Wenn wir unsere Sehnsucht nach Liebe als den wahren Schatz unseres Herzens anerkennen könnten, dann wären wir in der Lage, mit Gottes Gnade dieses Doppelgebot auch zu leben.”31 Aber durch die Sucht wird die Sehnsucht gefangen gehalten und der Süchtige unterwirft sich Dingen, die er, wenn er ganz ehrlich ist, gar nicht will. Die Sucht missbraucht die Freiheit und verdrängt die Liebe. Das gilt für alle Formen der Sucht, so schreibt Gerald May weiter: „Dieselben Mechanismen, die zu Alkoholismus oder Drogenabhängigkeit führen, wirken in uns, wenn wir an Idealen hängen, Macht anstreben, Arbeit und Beziehungen nachjagen, von Stimmungen und Fantasien abhängig sind oder was dergleichen an Abhängigkeiten noch denkbar ist … Die Sucht macht uns zu Götzendienern und -dienerinnen. Indem wir gezwungen werden, dem Objekt unserer Begierde zu huldigen, sind wir unfähig, Gott und unseren Nächsten in Freiheit zu lieben. Es ist paradox: Sucht bringt einen starken Willen hervor, unser Wille ist jedoch nicht mehr frei und unsere Würde längst untergraben. Sucht ist also ein Teil der menschlichen Natur und arbeitet doch gegen sie. Sie ist eine erbitterte Feindin der menschlichen Freiheit, geradezu eine Gegenleidenschaft zur Liebe.”

      Ichsucht ist keine klinische Diagnose, sondern ein Überbegriff über all die unterschiedlichen Fehlformen des Ichs. Ichsucht beschreibt den Zustand des kranken, bedürftigen Ichs, das vieles auf sich nimmt, um sich zu stabilisieren und das dadurch in den Mittelpunkt der eigenen Aufmerksamkeit rückt. Es dreht sich alles um das Ich, ständig ist man mit sich selbst beschäftigt und andauernd bemüht, sich ins rechte Licht zu rücken. Je mehr das Selbstwertgefühl reduziert ist, desto mehr Aufmerksamkeit benötigt das geschwächt Ich. Da auch die eigene Frustrationstoleranz gering ist, erträgt man keine Kritik, keine Anfrage von anderen, reagiert frustriert und unternimmt alles, um sich selbst wieder aufzubauen. Ein beständiger Kreislauf, der viel Kraft kostet.

      Im weitesten Sinn gehört die Ichsucht zu den nichtstofflichen Süchten wie Sexsucht, Internetsucht, Spielsucht, Kaufsucht, Esssucht, Magersucht. Aber es gibt zum Beispiel auch die Beziehungssucht, die Sportsucht oder die Arbeitssucht. Man spricht hier von den neuen Süchten des Alltags. Beim postmodernen Menschen tun sich offensichtlich immer mehr und größere Löcher auf, die er mit allen möglichen Drogen zu stopfen hat. Bei der Ichsucht heißt die Droge: Anerkennung, Akzeptanz, Aufmerksamkeit. Das Ich will beachtet werden. Ist das einmal nicht der Fall, macht es sich sofort deutlich bemerkbar. Das Ich benötigt starke Reize, um sich spüren und wahrzunehmen, dass es noch da ist. Wie bei einer Zahnlücke beschäftigt man sich ständig mit dem, was fehlt, und rückt es in den Fokus des eigenen Interesses. Da der gespürte Mangel nicht dauerhaft beseitigt werden kann – das Ich ist wie ein Fass ohne Boden – ist man ständig damit beschäftigt, es zufriedenzustellen. Das führt zu einer Suchtentwicklung: Die Gedanken kreisen um das Ich, man sehnt sich nach dem nächsten Kick der Anerkennung, giert nach dem Hochgefühl der Akzeptanz durch andere und versucht alles, um ein Übermaß an Aufmerksamkeit zu erreichen. Erst dann ist man einigermaßen zufrieden. Aber sobald man dieses Ziel erreicht hat, ist es bereits wieder zu wenig, und man braucht die nächste „Dosis”. Dadurch entsteht Abhängigkeit und der Versuch, den Rausch der allgemeinen Bestätigung und Wertschätzung zu erzeugen, muss immer öfter unternommen werden. Aber je öfter man das tut, desto tiefer gerät man in die Abhängigkeit – in die Abhängigkeit von dem kleinen, bedürftigen Ich, das gern groß und allmächtig sein möchte32.

      Es gibt bei nichtstofflichen Süchten keine körperliche Abhängigkeit (wie z.B. beim Alkoholiker, der anfängt zu zittern, wenn er keinen Alkohol zu trinken hat), aber Kontrollverlust und psychische Abhängigkeit. Kontrollverlust bedeutet, dass sich der Ichsüchtige in seinem Suchtverhalten nicht mehr kontrollieren kann. In diesem Sinne ist auch der Ichsüchtige abhängig und zeigt Entzugserscheinungen. Diese machen sich vor allem dann bemerkbar, wenn sich der Betroffene aus seiner Sucht befreien will. Er wird von einem inneren Zwang beherrscht, der ihn nicht mehr loslässt. Der Ichsüchtige braucht Anerkennung und grenzenlose Akzeptanz, um gute Gefühle zu haben und negative Gefühle zu vermeiden (bzw. negative Gefühle zu betäuben) und um mit Belastungen und Problemen umgehen zu können.

      Bei einem Ichsüchtigen ist es auch nicht wie bei einem Alkoholiker, der vielleicht nur einmal im Monat seinen regelmäßigen Rausch hat oder nur ab und zu betrunken ist, wenn sich eine Gelegenheit dazu bietet. Ein Ichsüchtiger ist immer von seiner Sucht betroffen, denn das Ich braucht beständig seinen „Stoff”. Es kann höchstens sein, dass die Gier nach Anerkennung, Akzeptanz und Annahme zeitweise nachlässt, weil der Ichsüchtige in Verhältnissen lebt, wo er sein nötiges Quantum in ausreichendem Maß beständig erhält. Weil er es dort freiwillig bekommt, muss er es nicht fordern, weil allen Beteiligten klar ist, dass er das „braucht”, bekommt er es selbstverständlich. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn der Ichsüchtige eine Gemeinschaft leitet, die ihm den Status zugesteht, den er für sich beansprucht – das wäre der Fall in einem autoritären, machtdominierten System. Da er die „Droge” beständig erhält, fällt er nicht besonders auf. Wird er jedoch infrage gestellt und wackelt seine Machtposition, wird die Ichsucht wieder stärker und macht sich vermehrt in Rastlosigkeit, Ungeduld, Kreisen um sich selbst und die eigenen Bedürfnisse