Ichsucht. Johannes Stockmayer

Читать онлайн.
Название Ichsucht
Автор произведения Johannes Stockmayer
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783869548333



Скачать книгу

fest: „Nahezu alle Beobachtungen und Bestandsaufnahmen konvergieren in einem Punkt: die Evolution des Individuums hat ein Stadium erreicht, in dem der einzelne wie nie zuvor auf sich selbst gestellt ist.” Ein Individualisierungsschub habe höchst zwiespältige Ergebnisse mit sich gebracht: „Zum einen eine Vervielfältigung von Freiheiten, Optionen und Lebensmöglichkeiten, zum anderen neue Zwänge und Unsicherheiten, die dem einzelnen ein immenses Maß an Seelenarbeit, an gewaltigen Anpassungsleistungen abverlangt … Der Mensch muss sich nun immer wieder neu selbst bestimmen.”5

      1997 spricht der Pfarrer und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer in einer Predigt von der Freiheit des Dienens: „Wir nehmen uns die Freiheit für unseren Dienst, und wir können es, weil andere das Ihre – auch für uns! – getan haben und tun. Es wird eine unverzichtbare Aufgabe von uns Christen sein, in einer Durchsetzungskultur, die sich als Freiheit der Stärkeren darstellt, die Kultur des Dienens – aus Freiheit! – zu entfalten.”6 1998 bringt der Politikwissenschaftler K. Peter Fritzsche den Begriff „Stressgesellschaft” ins Spiel mit der Feststellung, dass die starken gesellschaftlichen Veränderungen Stress erzeugen: „Stress ist nicht nur das Ergebnis von einem Zuviel an Belastungen, sondern immer auch von einem Zuwenig an Fähigkeiten und Möglichkeiten, diese Belastungen zu bewältigen ... Zum Stress der unbekannten Freiheiten gesellt sich der Stress des Abbaus von Freiheit ermöglichenden und stützenden sozialen Sicherheiten.”7 Aus der Überforderung erwachsen Überreaktionen und entwickeln sich problematische Entlastungshandlungen. Die Gesellschaft müsse lernen, mit der Freiheit umzugehen, und das bedeute, Toleranzkompetenz zu entwickeln: „Toleranz muss man sich leisten können – und leisten kann sie sich nur derjenige, der sich seiner selbst sicher ist.” Dazu gehöre aber „Multiperspektivität”, die Fähigkeit, sich in die Perspektiven anderer hineinzudenken und hineinzufühlen.

       Gibt es eine Trendwende?

      1999 lässt im Gegensatz zu diesen Entwicklungen der Gießen-Test (eine Erhebung mit recht umfangreichen Befragungen, die in regelmäßigen Abständen – 1968, 1975, 1989, 1994, 1999 – mit ausgewählten Testpersonen durchgeführt wurden) einen erstaunlichen Einstellungs- und Wertewandel erkennen. Die Auswertungen zeigen jetzt u. a. folgende Resultate: „Die Deutschen suchen wieder mehr persönliche und soziale Nähe; sie wünschen sich langfristige Beziehungen und zeigen eine gewachsene ‚Liebesbereitschaft’; sie sind zur gleichen Zeit selbstbewusster (finden sich selbst anziehender als in früheren Befragungen) und verantwortungsbereiter. Auch die sogenannten Sekundärtugenden (Ordnung, Fleiß, Sparsamkeit usw.) werden stärker als zuvor akzeptiert und unterstützt: besonders die Westdeutschen halten Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit für wichtiger als zuvor.”8 Das Resümee: Die Menschen in Deutschland sind zugleich „solider und sozialer geworden”.

      Die Frage stellt sich: Werden hier nur Wünsche geäußert, anstatt konkretes Verhalten zu beschreiben? Kann es sein, dass die Menschen solider und sozialer sein wollen, es aber gar nicht können? Wird hier tatsächlich ein Wertewandel dokumentiert? Oder kommt nicht vielmehr gerade die Reaktion auf die Vereinzelung und Überforderung der Menschen zum Ausdruck? Dann wäre es kein anderes Verhalten, sondern nur eine weitere Steigerung des bisherigen: das Bedürfnis nach Sicherheit, Geborgenheit, soziale Nähe und die Individualisierungsbedürfnisse, die hier ihren Niederschlag finden?

      In den Jahren nach 1999 wird die Welt von Krisen geschüttelt: Der Wechsel ins neue Jahrtausend verunsichert viele Menschen, der 11. September 2001 erschüttert sie, dann brechen weltweit Krisenherde auf (Balkan, Naher Osten, Kaukasus u. a.). Zuletzt verursacht die Weltwirtschaftskrise 2008 eine deutliche Zäsur und signalisiert bald vielen, dass das geschützte, friedliche und schöne Leben zu Ende ist. Das Vertrauen in Politik und Wirtschaft ist erschüttert. Versprechen, die gemacht werden, erweisen sich als leere Versprechungen („blühende Landschaften”). Die Wünsche, dass alles besser wird, die Welt friedlicher, die Zukunft sozialer, der Arbeitsmarkt gerechter, die Rente sicher, gehen nicht in Erfüllung. Im Gegenteil. Die Erleichterung durch die Technik (Digitalisierung) führt zur erhöhten Komplexität der Vorgänge, alles wird schneller und verwirrender. Die Kommunikation wird mühsamer, Verständigungsprozesse benötigen viel Zeit und führen oft nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Ein Veränderungsprozess löst den anderen ab, sodass bald niemand mehr richtig Bescheid weiß. Die Globalisierung, die unbegrenzte Möglichkeiten verhieß, führt zu Einschränkungen und unerwarteten Nebenwirkungen. Das Schlagwort von der „Risikogesellschaft”, das Ulrich Beck in den 1980er-Jahren prägte, bewahrheitet sich schärfer als gedacht.

      Der Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski bezeichnet 2004 die Vertrauensbildung als die große Herausforderung des 21. Jahrhunderts und tritt dafür ein, dass die Menschen in diesen unsicheren Zeiten Selbstvertrauen entwickeln müssten9.

      Trotzdem ruft er wenige Jahre später (2010) das Ende der Ichlinge aus: „Hedonisten, hemmungslose Ichlinge passen nicht ins Bild von Krisenzeiten, auch und gerade im zwischenmenschlichen Bereich werden Prinzipien wie Verlässlichkeit und Beständigkeit wieder Bedeutung zugeschrieben. Dem entspricht die Überwindung der verengten narzisstischen Nabelschau zugunsten des wiedergefundenen Blicks auf das Wir und auf Wertorientierung. In den letzten Jahren ist eine grundlegende Änderung in den Lebenseinstellungen der Deutschen feststellbar. Die Menschen rücken wieder enger zusammen und vertrauen einander mehr.”10 Ein zu optimistisches Bild? Die Untersuchungen ergeben offensichtlich als allgemeinen Trend die Renaissance der Familie, neues Interesse an qualitativen Beziehungen und Freundschaften, Kommunikation statt Isolation und eine Kultur des Helfens.

      Bestätigung bekommt diese Beobachtung 2011 von dem Zukunftsforscher Matthias Horx. Er widerspricht der Aussage, dass die Menschen heute mit der immer komplizierter werdenden Welt als Individuen völlig überfordert sind, und stellt dagegen: „In Wahrheit ermöglicht uns erst eine ‚komplizierte Welt’ den Prozess der Selbstfindung. Denn eine einfache, unkomplizierte, nicht widersprüchliche Welt würde uns noch nicht einmal auf den Gedanken kommen lassen, dass wir anders werden könnten! Das Missverständnis – und die Überforderung – entsteht immer da, wo ein elitärer Individualismusbegriff entsteht. Das Ziel von Individualität kann nicht das alte, heroische Ich-Ideal sein, worunter man ehedem einen ‚konsistenten Charakter’ verstand, ausgestattet mit ‚stählernem Willen’ und dem Anspruch, allzeit vollständig über Entscheidungsgewalt zu verfügen.”11 Horx bezeichnet Egoismus und Narzissmus als missglückte Individualisierungen und ist der Ansicht, dass das Ich ein Wir braucht, um sich zu finden. Umgekehrt benötigt ein echtes Wir ein starkes Ich. Für den Zukunftsforscher ist die Individualisierung nur die Bedingung und Grundlage für den wichtigsten Megatrend, den er ausmacht: Connectivity – die große Verbundenheit. Das heißt: Der Individualismus ist nur eine Zwischenphase, um zu ganz neuen Formen des Miteinanders zu kommen.

       Ist das wirklich so? Besteht tatsächlich Grund zum Optimismus, dass die Zeiten des Egoismus beendet sind und eine neue Ära des „Wir” angebrochen ist?

      Breit angelegte Untersuchungen zeigen, dass der Narzissmus zunimmt: Eine Studie der San Diego Universität in USA ergab, dass im Zeitraum von 1982 – 2006 zwei Drittel der Studenten narzisstischer sind als früher.12

      Der Soziologe Gerhard Schulze identifizierte 2003 ein Dilemma: Das Ich sei immer mehr genötigt, sich selbst zu definieren, um zu wissen, was man will und wie man es am besten erreicht, aber gleichzeitig sei niemand da, der einem sagt, was man tun soll. Er stellt fest: „Man kann sich nur noch nach sich selbst richten.” Und er fährt fort: „Doch die Ungewissheit ist groß. Wer bin ich, und was will ich aus meinem Leben machen? Diese Frage hat im Lauf der letzten Jahrzehnte immer mehr Menschen ergriffen; in vielen Industrienationen ist sie nicht mehr bloß ein Luxusproblem privilegierter Minderheiten, sondern ein Lebensthema der meisten … Zu keiner Zeit hat sich das Ich so viel mit sich selbst beschäftigt wie in der Moderne.”13

      Der Journalist Peter Hahne fordert 2004 leidenschaftlich: „Weg mit der Wohlfühl- und Kuschelkultur, in der nur das getan wird, was Spaß macht und Lust bringt. Wo nur der das Sagen hat, der gerade ‚in’, modern und zeit(geist)gemäß