Zwei wie Zucker und Zimt. Zurück in die süße Zukunft. Stefanie Gerstenberger

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Название Zwei wie Zucker und Zimt. Zurück in die süße Zukunft
Автор произведения Stefanie Gerstenberger
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401805153



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Mama anfügte: »Egal. Wen interessieren diese alten Kamellen schon. Wir verkaufen und ich werde gehen! So schnell wie möglich. Am besten schon nächsten Monat.«

      Was? Ich sprang aus dem Bett. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Wie stellte sie sich das vor? Godesbach verlassen? Nur um in einem Supermarkt an der Kasse zu sitzen, während die Flugzeuge über ihren Kopf hinwegdonnerten? Ich riss die Tür auf, um einfach irgendwas zu tun.

      »Vergiss es, Mama, ich gehe nirgendwo mit hin!« Ich knallte die Tür wieder zu. Mein Herz klopfte. Die ganze Welt war so ungerecht!

      Wütend schaute ich mich um und griff nach der alten Armbanduhr auf dem Schreibtisch, die Mama mir vor ein paar Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Die kam noch aus ihrer eigenen Kindheit und sie hing sehr daran. Die kleine Uhr war alt, das sah man, das runde Zifferblatt war gelblich angelaufen, die Zahlen darauf winzig und kaum erkennbar. Mit dem blauen Lederarmband wirkte sie unspektakulär und nicht gerade wertvoll. In meiner Schule würde sie nicht einmal unter den angesagten Vintage-Style fallen. Darum trug ich sie auch nie. Mama hatte mich gebeten, vorsichtig mit der Uhr umzugehen, aber das konnte sie vergessen, ich war immer noch sauer auf sie, sehr sauer. Ich drehte grob an dem Aufzieh-Rädchen an der Seite, vielleicht ging das blöde alte Ding dadurch ja endlich kaputt. Fuck you! Schon fühlte ich mich besser, ich knallte die Uhr zurück auf den Schreibtisch, schlüpfte ins Bett und zog mir die Steppdecke über den Kopf und hörte meinem heftigen Atem zu.

      Ich musste einige Stunden geschlafen haben, als ich mit einem Ruck aufwachte. Es war dunkel. Was hatte mich geweckt? Ich lauschte. Nichts. Selbst auf dem Hof der Spedition war noch Ruhe und die fingen schon um sechs Uhr an, ihre Lastwagen hin und her zu rangieren. Ich setzte mich auf. 05.04 Uhr zeigte die Digitalanzeige meines Weckers. Ohne Licht zu machen, schaute ich aus dem offenen Fenster. Es war immer noch sommerlich warm, selbst jetzt, kurz vor Sonnenaufgang. Der Kirschbaum trug keine einzige Kirsche dieses Jahr. Sogar die Blätter waren ihm alle ausgegangen – wie einem alten Mann die Haare. Fast hatte ich Mitleid mit ihm.

      Ich schlurfte in die Küche, trank im Dunkeln einen Schluck Wasser und tapste wieder zurück in mein Zimmer. Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, ich sah die Uhr auf dem Schreibtisch neben meinem Handy liegen und nahm sie in die Hand. Mamas bescheuerter Plan, nach Köln-Schnorz oder -Porz oder wie das hieß, zu ziehen, fiel mir wieder ein. Niemals! In hohem Bogen warf ich die Uhr aus dem Fenster. Sie landete ohne ein Geräusch irgendwo auf dem kurz geschorenen Rasen vor dem Kirschbaum. Sollte sie dort unten doch vergammeln!

      5. Mai, morgens

      Als ich aufwachte, war es furchtbar hell im Zimmer. Das Fenster stand immer noch offen, ich konnte Vogelgezwitscher hören. Die Sonne stand hoch über dem Kirschbaum, dessen Kirschen als unzählige hellrote Tupfen durch das volle Laub schimmerten. Hä? Blätter? Über Nacht? Und gestern hatte er doch keine einzige … Wie viel Uhr war es überhaupt, warum hatte mein Wecker nicht geklingelt? Ich war zu müde, um den Kopf zu drehen. Die Bettdecke lag schwer auf mir und fühlte sich ungewohnt rau an und mein Körper war komplett … Moment mal? Plötzlich war ich hellwach … Komplett nackt!

      Komisch, ich schlief nie nackt, doch in den vergangenen Stunden schien ich mich offenbar im Schlaf ausgezogen zu haben. Und wo waren meine Poster von Rihanna und Lady Gaga? Wer hatte sie abgenommen und stattdessen dieses komische Bild aus Pappe über mein Bett gehängt? Es zeigte zwei alte Typen, die hintereinanderstanden, der eine trug einen Schal, den anderen sah man gar nicht richtig. Simon & Garfunkel stand darüber. Voll depressiv die beiden. Daneben prangte ein überdimensionaler Atomkraft-nein-danke-Aufkleber, so groß wie ein Kürbis, und ein ebenso großes Frauenzeichen in blassem Lila.

      Krass. Die Möbel sind nicht von mir, die Tapete ist der Horror und die kindische Lampe an der Decke habe ich auch noch nie gesehen. Anscheinend habe ich woanders übernachtet und das total vergessen … Na sicher, schon bei den vielen halb reifen Kirschen da draußen hätte ich skeptisch werden müssen! Ich schaute mich um. Doch das Fenster sah aus wie bei mir zu Hause und war an der richtigen Stelle, das Bett und die Zimmertür auch. Ein himmlischer Geruch nach geschmolzener Schokolade durchzog das Zimmer, das mit ungefähr zwölf Quadratmetern so klein war wie mein eigenes. Wo war ich?

      Ich überlegte. Nackt konnte ich unmöglich unter der Decke hervorkommen. Ich lauschte. Irgendetwas fehlte. Dann wusste ich mit einem Mal, was: Die Laster von der Spedition rumpelten nicht wie sonst über den Hof. War vielleicht Sonntag? Hatte ich einfach nur zu lange gepennt? Oder nach einem Sturz auf den Kopf ein Jahr im Koma gelegen? Aber ich war nicht gestürzt … oder doch?

      Über dem Stuhl hing ein hellblauer Bademantel, der sah sauber aus. Ich beschloss, ihn überzustreifen, und dann würde ich herausfinden, wo ich gelandet war. Ich warf die Decke zurück, huschte in gebückter Haltung hinüber zu dem Frotteemantel, schlüpfte hinein und schaute mich weiter neugierig um. Kein Flachbildschirm mehr, keine Poster, bis auf die braven Daddys da oben auf ihrem Pappdeckel. Wenn ich es mir genau überlegte, sah der Schreibtisch doch so aus wie mein eigener, war aber merkwürdig aufgeräumt. Kaum etwas lag darauf, kein Laptop, kein Handy, kein iPod, nur ein paar Hefte, Stifte und eine olle Schreibtischunterlage von Die Patisserie. Halt, die Firma kannte ich irgendwoher. Den Schreibtisch kannte ich. Ich war also doch zu Hause in meinem Zimmer, nur hatte jemand über Nacht alles umdekoriert und meine Sachen verschwinden lassen. Gab es nicht eine Fernsehsendung, in der sie so etwas machten?

      Im Regal stand kein einziger von meinen bunten Fantasy-Romanen mehr, sondern nur noch grüne, gleich große Bücher. Goethe. Thomas Mann. Fontane. Oh Gott, was war das denn? Schulliteratur. Dazu einige langweilig aussehende Romane und viele gelbe Reclam-Heftchen. Vorsichtig öffnete ich den unbekannten dunkelbraunen Kleiderschrank, meiner war weiß und von IKEA, und betrachtete die Klamotten, die auf den Bügeln hingen. Karierte Blusen, gestrickte Westen, seltsame Kleider aus grob gewebtem Stoff und – Latzhosen! Drei Latzhosen in Orange, Gelb und Rot. Wer, um Himmels willen, sollte das tragen? In den Fächern lagen T-Shirts, Socken. Das Zeug war zwar nicht hübsch, sah aber einigermaßen neutral aus. Doch dann besah ich mir die Unterwäsche. Weiße Rippunterhemden und weiße Unterhosen mit verwaschenen Blümchen darauf, keine BHs, sosehr ich auch wühlte …

      Ich nahm mit spitzen Fingern eine der weißen Unterhosen und ein T-Shirt und begann, mich anzuziehen. »Was soll der Blödsinn …«, murmelte ich halblaut. Ich hatte keinen Spaß an solchen Spielchen. Vielleicht waren ja Kameras versteckt, ich schaute mich um und wunderte mich im selben Moment über mich. Dachte ich etwa wirklich, ich wäre in dieser Sendung für asoziale Jugendliche, bei Die strengsten Eltern der Welt? Ich war ja schon völlig durchgeknallt. Ich tat so, also ob alles in Ordnung sei, nahm die gelbe Latzhose vom Bügel und stieg hinein. Das Teil war erstaunlich bequem, trotz der schrecklichen Farbe. Als ich mich im Spiegel sah, musste ich unwillkürlich lachen. Ich sah aus wie ein Handwerker, ein Malerlehrling oder so. Ich schlang meine rotbraunen Haare im Nacken zu einem unordentlichen Knoten zusammen, nahm einen Bleistift vom Schreibtisch, steckte ihn hindurch, das würde halten, und stellte mich dann ans Fenster.

      Auch unser Garten sah an diesem Morgen anders aus, definitiv! Bäume überall, dazwischen mein guter alter Kirschbaum, aber plötzlich in voller Pracht. Der kleine Holzschuppen glänzte, so neu waren seine Bretter. Das Gras war anscheinend schon lange nicht gemäht worden, denn unter mir lag eine Wiese mit weißen und rosa Kleeblüten und jeder Menge anderer Blumen. Ein paar zitronengelbe Schmetterlinge flatterten darüber. Ein Bild wie aus einem kitschigen Zeichentrickfilm. Gleich würde wahrscheinlich Biene Maja um die Ecke gebrummt kommen.

      Ich merkte, wie mir der Mund offen stand, und klappte ihn zu. Und wieder zog mir der Schokoladengeruch in die Nase. Irgendetwas lief hier ganz komisch, ich war in einem anderen Film und musste herausfinden, was passiert war.

      Leise öffnete ich die Tür und ging die Treppe hinunter. Mama!, wollte ich rufen, doch es war so still, dass ich mich nicht traute. Barfuß rannte ich die Stufen hinab, meine Mutter würde hinter dem Tresen stehen oder in der Backstube Kartons mit Topflappen oder Küchenrollenhaltern auspacken. Sie würde wissen, was los war. Die schwere Tür war nur angelehnt, vorsichtig stieß ich sie auf. Die Backstube war leer und viel