Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner

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Название Ein Lied in der Nacht
Автор произведения Ingrid Zellner
Жанр Контркультура
Серия Kashmir-Saga
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347155794



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dann traf ihn ein Schneeball von Raja mitten ins Gesicht.

      Einen Moment stand er ganz still. Er wischte sich die Reste des Geschosses aus dem Bart und fixierte Raja, der sich vor Lachen bog; seine Augen schossen Blitze.

      »Das gibt Rache!« Er kam mit langen Schritten die Verandastufen herunter. »Mein Heer - zu mir!«

      Ahmad, Yussuf und Ibrahim waren sofort neben ihm. Moussa zögerte kurz im Niemandsland zwischen den beiden legendären Generälen, die Miene unentschlossen. Dann ging er langsam zu Raja und blieb an seiner Seite stehen, gefolgt von Azad, der sich tapfer auf Rajas anderer Seite aufpflanzte.

      »Verräter!«, dröhnte Vikrams Stimme. »Dafür sollt ihr fürchterlich büßen!«

      Und damit begann die zweite epische Schneeballschlacht im Dar-as-Salam, die die erste vor zwei Jahren an Dramatik noch weit übertraf. Sie dauerte etwa eine Viertelstunde und war noch in vollem Gange, als Sameera nach draußen kam und die beiden (inzwischen mit Schnee bedeckten und redlich erschöpften) Armeen in aller Ruhe ins Auge fasste.

      »Soldaten!« Ihre Stimme war kräftig genug, um das Kriegsgeschrei zu übertönen. »Ich plädiere für einen sofortigen Waffenstillstand – und außerdem dafür, die Friedensverhandlungen im Haus zu führen. Das Frühstück ist fertig.«

      Vikram wischte sich den Schnee aus den Augen und pflückte Rani, die sich auf ihn gestürzt hatte, um ihren Vater zu verteidigen, behutsam von seinem Rücken.

      »Ich akzeptiere«, knurrte er. »Allerdings keine Niederlage – nur, dass das klar ist.«

      »Selbstverständlich«, erwiderte seine Frau mit einer feierlichen Verbeugung. »Im Felde unbesiegt, wie immer. Und jetzt kommt rein, ja?«

      Raja rappelte sich aus einer Schneewehe auf, gestützt von seinen getreuen Vasallen Moussa und Azad.

      »Für einen Chai und einen Pfannkuchen unterzeichne ich jeden Friedensvertrag, der mir angeboten wird«, verkündete er und drückte die beiden Jungen herzlich an sich. »Und ich danke euch für eure Treue, Männer – ich bin überrascht und zutiefst gerührt.«

      Sameera betrachtete ihn augenzwinkernd. »Ich bin auch gerührt«, sagte sie lächelnd. »Aber überrascht bin ich nicht. Kein bisschen.«

      Und damit verschwand sie nach drinnen.

      ***

      Mit letzten Vorbereitungen in der Küche und den Kinderzimmern, mit Spielen, einem langen Film und einem köstlichen Abendessen verging der Tag wie im Flug. Als es Mitternacht wurde, versammelten sich alle im Aufenthaltsraum um die zusammengeschobenen Tische, wo Sameera ihren irischen Glaskranz mit den zwölf kleinen Löchern und dazu eine Schale mit Wasser und sieben Schwimmkerzen aufstellte. Sie begann ihre weihnachtliche Kerzenzeremonie mit dem Entzünden der Schwimmkerzen.

      »Für Hamid und Zobeida, und für Rizwan«, sagte sie leise, hob den Kopf und lächelte erst das Paar und dann den ehemaligen Elitesoldaten an, der die Einladung zur Weihnachtsfeier überrascht und erfreut angenommen hatte. »Für Mohan.« Sie betrachtete ihren Sohn, der auf dem Schoß seines Vaters saß und mit großen Augen die goldenen Lichter bestaunte. »Für Raja, für Sita und Rani.« Ihr Blick und der ihrer behn begegneten sich und hielten einander fest. Sita trug einen von Zeenath bestickten königsblauen Salwar Kameez und die Medaillonkette, die die Kinder des Dar-as-Salam ihr zum Geburtstag geschenkt hatten. Wie schön du bist, dachte Sameera, und wie froh ich bin, dass ich dich kenne. Sie hob die Schale hoch und stellte sie in das Zentrum des Glaskranzes.

      »Und jetzt«, sagte sie, »kommen die anderen Lichter. Es gefällt mir, dass wir euch sozusagen in unsere Mitte nehmen.«

      Sie steckte kleine, schmale Kerzen in den Kranz und entzündete sie, eine nach der anderen, sie sprach dabei die vertrauten Namen der Kinder und ihres Mannes aus und schaute in die geliebten Gesichter. Nach ihrem weihnachtlichen Segenswunsch setzte sie sich und spürte, wie Vikram ihre Hand nahm. Eine Weile blieb es still, dann erhob sich Raja.

      »Es ist schön, in eurer Mitte zu sein«, sagte er. »Und auch wir möchten unseren Beitrag leisten zu dem Licht, das in dieser besonderen Nacht das Dunkel erhellt. Im vorigen Jahr hat meine liebe Sita ein eigenes kleines Kerzenritual kreiert, in Erinnerung an deine Zeremonie, Sameera – und das wollen wir nun auch hierher in das Haus des Friedens bringen.«

      Sita griff nach dem Karton voller Diyas, den sie zuvor schon in dem Raum deponiert hatte. »Wer will, kann mir gerne helfen«, sagte sie lächelnd.

      Dank unzähliger williger und flinker Hände war der Karton bald leer, und die glitzernden, wachsgefüllten Tonschälchen bildeten, nebeneinander auf dem Fußboden arrangiert, das Wort Salaam.

      »Es sind genauso viele Diyas wie Menschen, für die wir sie nun anzünden«, erläuterte Sita weiter. »Für unsere Familie und Freunde in Shivapur und für jeden einzelnen von euch hier. Wir machen da keinen Unterschied mehr. Ihr alle seid unsere Familie.«

      Sie drückte Raja, Sameera und Vikram je eine Zündholzschachtel in die Hand.

      »Lasst sie uns gemeinsam entzünden.«

      Immer goldener wurde nun das Licht in dem Raum, als eine Diya nach der anderen zu flackern begann. Schließlich brachte Raja das letzte Lämpchen zum Brennen und stellte es auf den Boden zurück.

      »Da fehlt aber noch was«, meinte Ibrahim plötzlich und wies mit kritischem Blick auf den leuchtenden Schriftzug. »Das m ist nicht vollständig.«

      »Da hast du völlig recht, Ibrahim«, sagte Sita. »Deshalb zünden wir jetzt zum Abschluss noch zwei weitere Diyas an.«

      Sie sah Raja an, der unmerklich nickte und ein Streichholz zur Hand nahm.

      »Die vorletzte Diya soll für alle die brennen, die wir lieben und die nicht mehr bei uns sind«, sagte er. »Aber in unseren Herzen sind sie so lebendig wie dieses Licht hier.«

      »Und die letzte«, fuhr Sita fort, »haben wir im vorigen Jahr für alle die aufgestellt, die noch zu uns finden würden. Rückblickend kann man also sagen: für unser kleines Wunder Mohan, für unseren Enkel Soram – und für unseren wunderbaren Freund Azad.«

      Azads Augen strahlten auf, und er schmiegte sich glücklich an seine große Schwester.

      »Deshalb zünden wir auch in diesem Jahr ein Licht für neue Freunde und Familienmitglieder an – und sind gespannt, wen es zu uns bringen wird.«

      Ein letztes Streichholz flammte auf, und dann war das golden flackernde Salaam vollständig.

      »Möge der Frieden stets mit dem Dar-as-Salam und allen seinen Bewohnern und Freunden sein«, sagte Raja leise. »Salaam und Krismas mubarak!«

      Kapitel 4

       Sameeras Kämpfe

      Es hatte den ganzen Heiligabend und beinahe die gesamte Nacht danach ununterbrochen geschneit. Bevor die Bewohner des Dar-as-Salam sich am nächsten Morgen auf den Weg zu dem bunt beleuchteten Weihnachtsbaum hinter dem Haus machen konnten, mussten Vikram und Raja erst mühsam einen Weg freischaufeln. Dabei rissen über ihnen die Wolken auf und trieben über die Gipfel der Berge davon, und als die Familie in Mäntel und Schals verpackt ins Freie trat, färbte sich der Himmel am Horizont lachsrosa.

      Sameera erinnerte sich daran, wie Raja seine Tochter vor zwei Jahren noch zu dem Baum getragen hatte. Diesmal rannte Rani, die als Erste von allen aus dem Bett gesprungen und in mehrere Schichten warmer Kleidung geschlüpft war, den anderen voraus. Sie blieb vor der im Glanz unzähliger Lämpchen strahlenden Fichte stehen, breitete die Arme aus und lachte – es war ein Laut reiner, ansteckender Freude. Mohan, der auf Vikrams Arm saß, antwortete darauf mit einem fröhlichen Quietschen. Raja reichte Vikram einen Becher mit Chai, und Sita kam zu Sameera herüber und küsste sie auf die Wange.

      »Heute möchte ich etwas zu euch allen sagen«, meinte sie, griff dabei nach Sameeras Hand und hielt sie fest. »Vor zwei Jahren waren wir das erste Mal gemeinsam hier, mein Mann, meine Tochter und ich.