Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner

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Название Ein Lied in der Nacht
Автор произведения Ingrid Zellner
Жанр Контркультура
Серия Kashmir-Saga
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347155794



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sein als ich mit dir.«

      Liebevoll küsste Raja sie auf den Scheitel, bevor er sie noch enger an sich zog und wieder in den Anblick des weißschimmernden Taj Mahals versank. Das Symbol einer Liebe, die selbst der Tod nicht besiegen konnte, dachte er. So wie er auch unsere nicht besiegen wird. Niemals.

      ***

      Erst Stunden später, nachdem sie noch einmal in aller Ruhe durch den sonnenüberfluteten Garten spaziert waren, suchten sie schließlich Ashish, der wie vereinbart in einer Ecke der Anlage auf sie gewartet hatte. Spontan drückte Raja ihm sein iPhone in die Hand mit der Bitte, ein Foto von ihm und Sita vor dem Taj Mahal zu machen; es war an sich zwar überhaupt nicht seine Art, sich vor irgendwelchen Sehenswürdigkeiten ablichten zu lassen, aber dieses Bild wollte er unbedingt haben.

      Draußen vor der Mauer baten sie Ashish noch um ein wenig Geduld und durchstöberten die Andenkenläden. Schnell fanden sie, was sie suchten: ein zauberhaftes, aus weißem Marmor gefertigtes kleines Modell des Taj Mahal für Rani und dazu einen ganzen Stapel Seidentücher, Taschen und Kissenbezüge mit dem Taj-Mahal-Motiv, mit denen sie ihre Familie und Freunde sowohl in Shivapur als auch in Srinagar würden beglücken können.

      Danach ließen sie sich zurück ins Hotel fahren, entlohnten Ashish mit einem großzügigen Trinkgeld und begaben sich in ihre Suite. Erst als sie dort die Taschen mit ihren Einkäufen abstellten und ihre Schuhe abstreiften, merkten sie, wie müde sie waren.

      »Ich muss mich unbedingt noch einmal hinlegen, bevor wir nachher zum Essen gehen«, erklärte Sita und ließ sich seufzend in einen der beiden Sessel am Fenster sinken. »Ich hab das Gefühl, mir fallen die Füße ab.«

      »Das heißt, wir inspizieren das Paket aus Srinagar erst nachher, ja?«, erwiderte Raja augenzwinkernd.

      »So kaputt bin ich nun auch wieder nicht.« Sitas Augen blitzten. »Machst du’s schon mal auf, bitte?«

      »Aye-aye, Ma’am!«

      Er setzte sich ihr gegenüber und öffnete das Paket. Zum Vorschein kamen ein Päckchen mit seinem Namen darauf und ein an Sita adressierter Umschlag, der an einem großen Samtbeutel befestigt war. Mit vielsagend hochgezogenen Augenbrauen überreichte er seiner Frau ihr Geschenk; neugierig wog sie den Beutel in der Hand – und legte ihn dann zu Rajas Überraschung auf dem kleinen Beistelltisch zwischen ihnen ab.

      »Du zuerst«, forderte sie ihn auf und lehnte sich demonstrativ zurück.

      Raja grinste breit und schälte aus mehreren schützenden Schichten aus zartem Seidenpapier einen großen, rechteckigen Kasten mit Deckel heraus. Papiermaché, wusste er sofort, als er das leichte Material mit den etwas unebenen Oberflächen befühlte; er kannte dieses traditionelle Kunsthandwerk, das in Kashmir sehr verbreitet war, und hatte dort schon oft die allüberall angebotenen Dosen, Kerzenständer, Räucherstäbchenhalter und Armreifen mit ihren farbenfrohen und phantasievollen Dekors bewundert. Die Kassette, die man für ihn ausgesucht hatte, war mit Goldfarbe grundiert und dann mit zarten schwarzen Zweigen bemalt worden, in denen zahlreiche bunte Vögel saßen.

      »Mein Mann, der Baum.« Sita war aufgestanden und legte nun von hinten liebevoll die Arme um ihn. »Das ist entzückend. Mach mal auf, ob was drin ist.«

      »Neugierig bist du gar nicht, ja?«, gab Raja amüsiert zurück und wickelte eine ihrer dunkelbraunen Haarsträhnen um seinen Finger.

      »Pffft!«, machte sie mit würdevoller Empörung. »Von wegen neugierig – ich hab mein Geschenk noch nicht ausgepackt, im Gegensatz zu dir.«

      »Ich bin zutiefst beeindruckt.« Raja führte die Hand an seine Brust und verneigte sich. »Und zur Belohnung warte ich mit dem Aufmachen, bis du den Inhalt deines Samtbeutels zutage befördert hast – denn erzähl mir nicht, dass es dir nicht in sämtlichen Fingern danach kribbelt, meine kleine Elster!«

      Sita lachte hell auf, küsste Raja auf die Wange und schnappte sich den Beutel. Wie von beiden vermutet, enthielt er ein Schmuckstück… und dennoch weiteten sich Sitas Augen vor Überraschung, als sie es nun langsam und vorsichtig herauszog. Es war eine Halskette, aus elf runden Medaillons gefertigt, die jeweils von zwei silbernen, flach gehämmerten Kettengliedern getrennt wurden, zwischen denen eine leuchtend blaue Lapislazuliperle saß. Die Medaillons mit einem Durchmesser von etwa zwei Zentimetern waren in schlichtes Silber gefasst und zeigten verschiedene, in Emaille gegossene bunte Bildmotive.

      »Großer Gott!«, hauchte Sita. »Haben sie das etwa…«

      Ahnungsvoll hängte sie sich die Kette über ihren Unterarm, griff nach dem Brief und öffnete ihn.

       Meine geliebte behn,

       herzlich willkommen im erlesenen Club der Fünfziger, und alles Liebe für dich aus dem Dar-as-Salam! Dein Geschenk ist eine Idee unserer Kinder. Wir haben ihnen gesagt, dass du fünfzig wirst, so wie ich – und da haben sie vorgeschlagen, dass wir alle zusammenlegen, damit du diesmal etwas besonders Schönes von uns bekommen kannst. Seit sie im Frühjahr so lange bei euch in Shivapur zu Gast waren, haben sie dich mindestens ebenso lieb wie Raja.

       Zooni und Maryam meinten, du freust dich bestimmt am meisten über ein schönes Schmuckstück. Also haben sie diese Kette entworfen, jedes der Kinder hat ein Motiv für dich gezeichnet, und Ismail Kabuli (der dich übrigens herzlich grüßen lässt) hat die Emaille-Medaillons gegossen und die Kette angefertigt.

       Ich schreib dir schnell noch auf, was von wem ist, da wir ja an eurem großen Tag leider nicht bei euch sein können, um es dir zu sagen. Zum Teil errätst du es sicher leicht von selbst; die Garnspule und die Nadel mit dem Faden hat natürlich Zeenath beigesteuert, die dampfende Schüssel unser Meisterkoch Ahmad, die Note Firouzé und die kleine Steinschleuder Yussuf (wer sonst!). Die Rosenblüte ist von Zooni, die Sonnenblume von Maryam und das Herz von Ameera, der dicke, verzweigte Ast ist von Ibrahim und das goldene Chenarblatt von Moussa.

      Bei Azads Zeichnung habe ich einen Moment lang schwer schlucken müssen, als er sie mir brachte – von ihm sind die drei dicken Kettenglieder, von denen das mittlere zerbrochen ist. Und die Hand ist von Anjali; sie meint, es sei eine liebevolle Hand, die schützt und tröstet. Ich weiß nicht, ob sie dir das jemals erzählt hat… aber sie ist seinerzeit von den Behörden in ein Heim gesteckt worden, weil sie von ihrer Mutter schwer misshandelt worden ist. Und über ihre Zeit bei euch in Shivapur hat sie mir erzählt, dass das nach dem Dar-as-Salam nun schon das zweite Mal war, dass sie sich in einer Familie geborgen gefühlt hat. Ich dachte, das solltest du wissen, damit du ihre Zeichnung verstehst.

       Wir alle wünschen dir und Raja Glück und Segen zu eurem Doppelgeburtstag (ich liebe den Gedanken, dass ihr beide am gleichen Tag geboren seid). Und wenn ihr an Weihnachten wieder herkommt, dann musst du mir ganz genau erzählen, wie es war im Taj Mahal! Habt eine wunderschöne Zeit dort!

       Alles Liebe, meri pyaari behn!

       Deine Sameera

      Sita hatte während der Lektüre immer wieder die Kette durch ihre Finger gleiten lassen und nach den jeweiligen Motiven gesucht; nun drückte sie Raja den Brief in die Hand und studierte, während er ihn las, noch einmal jedes Detail dieses außergewöhnlichen Schmuckstücks.

      »Ist das nicht unglaublich?«, fragte sie, als er den Brief sinken ließ. »So etwas Wunderschönes… für mich!«

      »Sie haben dich eben ins Herz geschlossen, du Mutter der Kompanie«, entgegnete Raja mit einem warmherzigen Lächeln und griff nach seinem Kasten. »Und jetzt…«

      Er öffnete den Deckel und fand darin, wie er bereits geahnt hatte, einen Stapel Bilder und handgeschriebener Briefe.

      »Na, dann hast du ja jetzt etwas, womit du dich beschäftigen kannst, während ich meinen Schönheitsschlaf halte«, lachte Sita und ließ ihre Kette zurück in den Samtbeutel gleiten. »Weckst du mich rechtzeitig, damit ich noch duschen kann, bevor wir essen gehen?«

      »Selbstverständlich.«

      Sie küsste ihn zärtlich