Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner

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Название Ein Lied in der Nacht
Автор произведения Ingrid Zellner
Жанр Контркультура
Серия Kashmir-Saga
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347155794



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zuzubereiten, als ihm plötzlich einfiel, dass Heiligabend war – und an diesem Tag würden sie bis Mitternacht aufbleiben, um mit Sameeras Kerzenzeremonie in das Weihnachtsfest hineinzufeiern. Vielleicht schadete es gar nicht, sich dafür noch ein wenig auf Vorrat auszuruhen. Kurzerhand kuschelte er sich wieder unter seiner Bettdecke zusammen und rief sich den Tag vor zwei Jahren ins Gedächtnis, als er zum ersten Mal Weihnachten in diesem Haus mitgefeiert hatte. Für Sameera, die als Tochter eines irischen Vaters und einer aus dem nordindischen Leh stammenden Mutter in Dublin geboren worden war und dem christlichen Glauben angehörte, hatte dieses Fest natürlich eine besondere Bedeutung, und allein schon um ihretwillen war es für die Kinder im Dar-as-Salam ein heißgeliebter Höhepunkt des Kalenderjahres.

      Seine Erinnerungen glitten zurück zu dem Vortag, an dem sie nachmittags mit den Sandeeps für letzte Weihnachtseinkäufe nach Srinagar gefahren und mit einer ganzen Wagenladung Lebensmittel zurückgekehrt waren. Sita und Sameera hatten sich dabei zwischendurch selbstständig gemacht, und Raja hätte sofort zehn zu eins gewettet, dass sie zu Ismail Kabuli gehen wollten, dem »Juwelier ihres Vertrauens« mit dem uralten kleinen Laden in der Altstadt, in dem er wundervolle handgefertigte Silberschmuckstücke verkaufte. Dass er diese Wette gewonnen hätte, wusste Raja spätestens, als Sita nach ihrer Heimkehr mit Unschuldsmiene ein mit dunklem Samt eingeschlagenes Päckchen aus ihrer Tasche zog. Er fragte sich, wie viel von seiner Barschaft dafür wohl in Kabulis altmodische Registrierkasse gewandert war, zumal da Sita dieses Thema wohlweislich gar nicht erst zur Sprache brachte. Aber er gönnte seiner kleinen Elster ihre Weihnachtsfreude und verkniff sich jeden Kommentar.

      Später hatte er in der Küche mit Ahmad über die ideale Zubereitung von Malai Kofta debattiert, danach mit Ibrahim, Maryam und Azad eine Runde Backgammon gespielt und sich schließlich von Firouzé dazu überreden lassen, mit ihr zusammen vor der versammelten Belegschaft Yeh Ladka Hai Deewana aufzuführen. Noch bis spät in die Nacht hinein war aus sämtlichen Zimmern die gepfiffene Anfangszeile des Filmsongs zu hören gewesen, und Raja beschlich das Gefühl, dass sein spontaner Auftritt als Shahrukh Khan an der Seite von Firouzé-Kajol das Zeug dazu hatte, in die eher heiteren Legenden des Dar-as-Salam einzugehen.

      Er schmunzelte und schloss die Augen. Ein Erfolg vom Vorabend war in jedem Fall unbestreitbar: Er hatte mit den Kindern fast durchgehend Kashmiri gesprochen. Mittlerweile fiel es ihm kaum noch schwer, auch sein Wortschatz wurde immer größer… und Anjali und Ameera hatten spontan zwei ihrer Lieblingsbücher auf Kashmiri angeschleppt und sie ihm geliehen, damit er sich weiterbilden konnte.

      Er beschloss, ein wenig darin zu schmökern, und stand auf. Die Sonne musste sich mittlerweile ein gutes Stück zum Horizont vorgearbeitet haben; das Dunkel vor dem Fenster hatte sich in ein silbriges Grau verwandelt. Er warf einen Blick hinaus in die Richtung des schönen alten Chenarbaums und der Feuerstelle. Und dann stutzte er – und lächelte breit.

      Er legte das Buch, das er bereits in die Hand genommen hatte, wieder hin und betrat leise das Kämmerchen nebenan, in dem seine Tochter in ihrem Bett lag und offensichtlich noch selig träumte.

      »Rani«, flüsterte er und wuschelte ihr sanft durch das Haar. »Wach auf, mein Schatz!«

      Sie gab einen Laut von sich, der wie ein ungnädiges Maulen klang, und drehte ihm den Rücken zu.

      »Rani!«, wiederholte Raja etwas lauter. »Aufstehen!«

      »… hab doch schulfrei…«, kam es undeutlich aus den Falten ihrer Bettdecke.

      »Stimmt«, sagte Raja in friedfertigem Ton. »Na gut, schlaf weiter, dann geh ich die Schneeflocken eben allein begrüßen.«

      Er grinste in sich hinein, schlenderte gemütlich zum Fenster und begann in seinem Inneren zu zählen. Er kam nicht mal bis drei.

       »Schnee??«

      Er drehte sich um. Rani hatte sich in ihrem Bett aufgesetzt, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und blinzelte, verschlafen und unbeschreiblich süß in ihrem blauen Schlafanzug mit goldenen Sternchen.

      »Also, wenn deine Mama und Sameera nicht gerade ihre ganzen Mehl- und Zuckervorräte aus dem Fenster kippen – ich würde das Weiße da draußen durchaus für Schnee halten.«

      Ranis Augen wurden riesengroß, und im nächsten Moment sprang sie aus dem Bett und lief zu ihm. Raja hob sie mit Schwung hoch und küsste sie liebevoll auf die Wange. »Guten Morgen, mein Schatz!«

      »Es schneit!«, jauchzte Rani begeistert und zeigte zum Fenster. »Es schneit wirklich!«

      Sie zappelte wie wild, so dass Raja sie wieder auf dem Boden absetzte, und stürmte zur Tür.

      »Halt!« Mit langen Schritten setzte Raja ihr nach und hielt sie fest. »Du willst doch nicht etwa barfuß und im Schlafanzug ins Freie, junge Dame? Komm…« Er holte rasch ein paar Kleidungsstücke aus ihrer Kommode. »Zieh dich an, ich werf mir auch schnell was über, und dann gehen wir raus in den Schnee, okay?«

      In Rekordtempo war Rani angezogen; gleich darauf stiegen beide in ihre warmen Winterstiefel und Anoraks, und Raja öffnete die Haustür. Große dicke Flocken fielen vom Himmel herab, und die gesamte Umgebung des Dar-as-Salam lag bereits unter einer reinen, weichen Schneedecke. Die friedliche Stille endete jäh, als Rani mit einem entzückten Jubelschrei ins Freie rannte, sich mit ausgebreiteten Armen mehrfach um die eigene Achse drehte und begann, mit den Schneeflocken zu tanzen.

      »Papa!«, schrie sie. »Papa, komm, wo bleibst du?«

      Lächelnd ging Raja die Verandatreppe hinunter, hielt sein Gesicht für einen Moment mit geschlossenen Augen den Schneeflocken entgegen und atmete tief und glücklich die frische, kalte Luft ein. Dann schnappte er sich seine Tochter und schwenkte sie ein paarmal im Kreis herum, bevor er sich mit ihr der Länge nach in den Schnee sinken ließ. Sie prustete laut, raffte mit beiden Händen Schnee zusammen und ließ ihn ihrem Vater ins Gesicht rieseln.

      »Siehst du? Ammi hat recht gehabt!« Die blaue Tür stand plötzlich wieder weit offen, und Yussuf sprang mit einem langen Satz auf den schneebedeckten Rasen. Raja konnte sich gerade noch rechtzeitig aufsetzen, bevor die nächste Ladung Schnee auf ihn niederging. Der nächste, der auftauchte, war Ahmad, und dann stand Moussa auf der Veranda – breit lächelnd, mit einer Strickmütze auf dem Kopf und in eine dicke Daunenjacke eingemummelt. Raja machte sich bereits auf eine Schneeballschlacht gefasst, als Vikram auf der Schwelle erschien.

      »Guten Morgen zusammen!«, sagte er. »Yussuf, wenn du Rani Schnee ins Gesicht reibst, darfst du eine Woche lang den Hühnerstall ausmisten. Ahmad, hol dir einen Schal… ach was, ich bring dir schnell einen, bevor du uns den ganzen Schnee ins Haus trägst. Und danach mach ich mal einen Chai, würde ich sagen.«

      »Bhaiyya!«, fiepte Raja in einem Tonfall abgrundtiefster Verzweiflung. »Du willst mich doch jetzt nicht mit dieser blindwütigen Horde hier alleinlassen?«

      »Ach, sei still!« Vikram grinste breit. »Wegen genau dieser blindwütigen Horde bist du doch hier. Ich bin bloß die Dreingabe, mere bhai.«

      Worauf er im Haus verschwand, mit einem dicken Wollschal in der Hand noch einmal kurz auftauchte und danach die Tür wieder fest hinter sich schloss. Moussa reichte Ahmad den Schal – und duckte sich geistesgegenwärtig, so dass der Schneeball, den Yussuf auf ihn gezielt hatte, mit einem deutlichen Knall an der Hauswand explodierte.

      Ahmad kam kaum dazu, sich den Schal um den Hals zu wickeln, bevor Yussuf bereits den ersten listigen Versuch machte, ihm eine Ladung Schnee von hinten in den Kragen zu stopfen. Gleichzeitig öffnete sich die Tür des Dar-as-Salam erneut, und Verstärkung nahte in Form von Ameera, Azad und Firouzé. Sie hielten sich wohlweislich von Yussuf fern und rannten stattdessen in Richtung Auffahrt, wo es bereits die ersten Verwehungen gab, in denen sich Schneeengel machen ließen. Die restlichen Kinder folgten auf dem Fuße, und nach kurzer Beratung wurde beschlossen, Rani zuliebe erst einmal einen Schneemann zu bauen. Der hatte nach einer knappen halben Stunde Form angenommen und bekam gerade einen Kopf aufgesetzt, als Vikram zurück ins Freie trat. Vor sich balancierte er ein Tablett mit zwei riesigen Thermoskannen und mehreren Stapeln Plastikbecher. Er überblickte das Bild vor sich mit unverkennbarer