Könnte schreien. Carola Clever

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Название Könnte schreien
Автор произведения Carola Clever
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347059184



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du fröhlich und unbeschwert fliegen. Wie ein Schmetterling!“

      „Hey, du hast gute Augen, aber ich wusste nicht, dass du Chinesisch kannst.“

      „Kann ich auch nicht. Ich erkenne aber diese Weisheit und die Schriftzeichen dazu. Es stand als Überschrift in einem Buch. Ich habe es mir gemerkt, falls ich mir mal ein Tattoo leisten kann, wäre das meine erste Wahl.“

      „Oh, tut mir leid, Süße. Sei nicht traurig. Eines Tages hast du genügend Geld, dann kannst du dieses und viele andere haben.“

      „Geld wäre nicht schlecht, weil es meine monatlichen Kosten decken würde.“

      „Bleib entspannt, Süße, alles zu seiner Zeit. Für den Stabhochsprung brauchst du erst mal eine Stange, damit du den Sprung über die Latte schaffst.“ Der Umschlag fiel vom Hocker. „Ach ja, der Umschlag. Warum zahlst du es jetzt schon zurück? Warst du beim Buchmacher, im Spielkasino oder beim Pferderennen? Woher hast du das Geld?“

      „Erzähle ich dir später. Danke auf jeden Fall für deine Leihgabe. Ich hasse Schulden, sie geben einem das Gefühl, unzulänglich, unfähig und klein zu sein.“

      Danach schlenderten wir in Richtung Young Street: zum angesagten Schuhladen, in dem der Geschäftsführer bei Marys Eintritt in den Laden zur Begrüßung die Papst-Nummer machte. Ich hasste seine schleimige Art, wenn er schauspielernd den Boden küsste, um seine Ware an die Frau zu bringen, hasste es, wenn man sich prostituierte, nur um seine Ware zu verkaufen. Neid und Frustration überkamen mich. Ich konnte nichts kaufen oder bei der Kostümparty mitmischen. Was für ein erhabenes Gefühl muss das wohl sein, wenn man shoppen konnte, bis die Karte glühte.

      Shoppen, ohne aufs Geld zu achten.

      Ich nahm Mary drei Shopping-Tüten ab, damit wir ohne Probleme durch die Drehtür von Goodmann‘s Taschenladen passten, von wo aus wir problemlos direkt in die Parfümerie gehen konnten. Nach einer weiteren Stunde nahm ich Queen Mary zwei weitere Tüten ab, bevor sie endgültig genug hatte.

      Wir machten uns auf den Weg zum Italiener.

      MOLLY

      Vittorio, unser sizilianischer Strahlemann, strahlte wie die Mittagssonne in Palermo, als wir hereinkamen. Er ging sofort zu einem freien Tisch, zog zwei Stühle unterm Tisch zurück, wischte hektisch mit einer weißen Serviette über die Stuhlsitze und bat uns in gebeugter Haltung und mit galanter Geste zu Tisch. Präsentierte sein Motto: Eintreten, wohlfühlen!

      Wir prosteten uns mit Prosecco und einem Schuss Mirabelle zu. Mary erzählte zuerst, wie es ihr auf der Reise ergangen war, was sie erlebt hatte. Ich übte mich in Geduld. Eine Eigenschaft, die bei mir wirklich nicht ausgeprägt war. Mary erzählte.

      „Dieser Arzt, Dr. Huegli, hatte eine spezielle Kamera. Damit hielt er meine Aura auf dem Foto fest. In seiner Praxis spielte als Hintergrundmusik einer deiner Lieblinge, Maurice Ravel, während er mir die sichtbaren Farben erklärte. Er sagte, dass die Aura eine persönliche Sache ist und keine der anderen gleicht. Weil wir alle unterschiedlich sind. Laut seinen Ausführungen habe ich viel Rot in meinem Bild. Das zeugt von Energie und großer Dynamik. Das Lila steht für Menschenkenntnis und Intuition, der Streifen Blau für Ehrlichkeit, Schutz und Kommunikation, das Gelbgrün für Selbstreflexion und Offenheit. Gott sei Dank habe ich wenig Orangegelb, was ein Hinweis für Stress, Ermüdung und Kopflastigkeit wäre. Er gratulierte mir zu meinem großen Anteil an Blautürkis, das Zeichen für große Spiritualität und dafür, dass ich ein Gefühlsmensch bin. Das war sehr interessant für mich.“

      Ich hörte ihr mit offenem Mund zu. Wow, ihre Geschichten waren lang, spannend und schmerzhaft zugleich, dauerten bis zum Dessert: Kuchen mit geeister Zabaglione, frischen Walderdbeeren und Vanilleeis.

      „Hm, ich nehme den achtstöckigen Kuchen mit Sahne, Kirschwasser und anderen leckeren Zutaten, strecke meinen Rücken und ziehe meinen Bauch ein, damit dieses Stück noch Platz hat.“

      Mary schaute erst gar nicht in die Karte, als sie dem Oberkellner winkte. Vittorio, dessen Aufmerksamkeit nichts entging, war sofort strahlend zur Stelle. „Was darf ich den Damen Leckeres servieren?“

      Mary strahlte zurück, vielleicht sogar ein wenig länger als erlaubt! Sie kokettierte mit ihrem Hunger: „Vittorio!“ Sein Name kam klagend über ihre Lippen. „Bitte zwei Stück von eurer hausgemachten bella torta.“

      Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her, klopfte mit dem Zeigefinger immer auf dieselbe Stelle am Tisch. Endlich, ich war dran, sprudelte wie die heißen Quellen auf Island alle Neuigkeiten aus. Mein Redeschwall war nicht zu stoppen.

      Nachdem all meine Quellen versiegt waren, fragte Mary ungeduldig: „Hat Sabia dich nach deinem inneren Kind gefragt?“

      „Welches Kind?“

      „Okay, ich erkläre es dir: Dein inneres Kind ist eine Art Instanz, die sich wie ein kleines Kind verhält. Zunächst ist es noch unwissend und sehr zerbrechlich. Das kleine Kind ist unschuldig, fröhlich, neugierig, verspielt. Es ist aber auch ängstlich, verletzlich, wild, beleidigt, um nur einige Eigenschaften zu nennen, wie kleine Mädchen so sind. Jede Frau trägt so ein kleines Mädchen in sich, der Mann einen kleinen Jungen. Wenn du erwachsen wirst, zeigst du vielleicht in manchen Situationen diese charmanten Züge. Du wirkst herrlich jugendlich und unbeschwert. Wenn wir die Kleine lieben, pflegen, unterstützen, achten und respektieren, wird daraus eine starke, selbstbewusste und liebenswürdige junge Frau, die sich auf ihre Wurzeln besinnt, die diese Stärke für andere sichtbar ausstrahlt.“

      „Aha, das ist ähnlich wie die Haltung beim Qi Gong, wenn ich meine Zehen in den Boden kralle und mich mit der Erde, mit meinen Wurzeln verbinde!“

      „Wahrscheinlich. Ich mache Yoga. Dort gibt es auch Übungen, die das vermitteln. Wie gesagt, das kleine Mädchen trägst du immer bei dir. Auch wenn du alt bist, ist es immer da. Für so ein kleines Ding ist die Welt noch in Ordnung. Denn sie denkt mit dem Herzen. Es ist hilfreich, wenn du oft mit ihr sprichst. Die Kleine fragt, wie es ihr bei deiner Entscheidung geht, was sie fühlt und denkt. Diese Kommunikation zwischen dir und der Kleinen kann sich zu einem tollen Selbstgespräch entwickeln. Du kannst ihr auch einen Namen geben, um Nähe zu erzeugen!“

      „Lustige Vorstellung. Nach dem Motto die große Valentina und die kleine Valentina?“

      „Genau. Mit der Zeit verstehst du sie, ziehst ihre Gefühle, ihre Wünsche in Betracht, hast ein kleine Freundin, auf die du aufpassen musst.“

      „Also meine Kleine heißt nicht Valentina. Meine heißt Molly!“

      „Molly wie mollig?“

      „Ja, ich sehe sie als kleine mollige, robuste, fröhliche Prinzessin. Mit Grübchen und Schillerlocken!“

      Vittorio stellte mit breitem, geradezu frechem Grinsen die Kuchenteller vor uns hin. Dieses gigantische Stück Torte. Achtstöckig. Es sah aus wie Schwarzwälder Kirschtorte und strahlte uns an. Mary bohrte mit steifem Zeigefinger seitlich in die Sahnecreme, leckte genüsslich ihren Finger der Länge nach ab. Vittorio beobachtete im Hintergrund die Szene, wischte sich nervös die Stirn mit einer Serviette ab. Ich nahm die Deko-Kirsche von oben, ließ sie in meinen geöffneten Mund plumpsen. Vittorio rollte seine Augen nach hinten, tupfte wieder mit der Serviette.

      „Gosh, lecker.“ Ich sprach mit Molly. Sie nickte zustimmend.

      Mary brach ein riesiges Stück aus dem Kuchenstück ab, schob es mit dem Finger auf die Gabel. Während ich ihr zuhörte, balancierte ich ebenfalls ein überdimensionales Stück auf meiner Gabel. Keine Ahnung, wie es passierte. Ich blickte zu Mary, während sie lautstark „Scheiße“ brüllte. Das fette sahnige Häppchen fiel von der Gabel direkt über ihren Busen, rutschte im Zeitlupentempo von dort glibberig über ihr rotes Lederkleid in Richtung Schoß. Bei ihrem Aufschrei hatte mein Stück Torte vor Schreck ebenfalls die Balance verloren, hüpfte gleichfalls von der Gabel direkt auf mein Oberteil, folgte der Erdanziehung in Richtung Hose. Die sahnige Schleimspur machte in meinem Bermuda-Dreieck halt. Geschockt blickten wir auf unsere sahnigen Schlachtfelder, tauschten ungläubige Blicke aus, prusteten und lachten, gackerten und juchzten, sahen herrlich bescheuert und verschmiert