Название | Ein Buch für Keinen |
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Автор произведения | Stefan Gruber |
Жанр | Афоризмы и цитаты |
Серия | |
Издательство | Афоризмы и цитаты |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783347043282 |
Oft hören wir die Klage älterer Menschen, dass die Zeit damals (1950 – 1980) langsamer verging und heute alles so hektisch sei. Der Grund für das subjektive Empfinden einer langsamer verstrichenen Zeit liegt daran, dass der Kapitalismus damals noch nicht seinen exponentiellen Höhepunkt (kurz vor dem Untergang) erreicht hatte. Die 50er und 60er waren geprägt von Rock ´n´ Roll und zugehörigen Modetrends, ebenso wie die Hippie-Bewegung der 60er und die Disco-Ära der 70er Jahre. Dann wechselten Musik und Modetrends in immer schnelleren Intervallen, und heute blickt bei der Vielfalt an Musikstilen und Trends nicht einmal die Jugend selbst mehr durch, welche die breite geistige Verflachung (zu deren Ursachen wir gleich kommen) und ihren fehlenden charakterlichen Individualismus durch individuellen Musik- und Kleidungsstil zu kompensieren versucht. Die immer schneller wechselnden Trends, die immer stärker voranschreitenden technischen Errungenschaften (an welche die ältere Generation nicht mehr anschließen kann), die immer aggressivere Werbung, die exponentiell wachsende Vielfalt an Konsumartikeln und Lifestyleprodukten sowie die allgemein zunehmende Hektik durch Werbereklamen, Verstädterung und den Übergang in die spätkapitalistische Konsumgesellschaft geben den Alten mit ihrer Klage Recht. Da der Mensch nicht mehr essen kann, als er als Mensch essen kann1, nicht mehr zum Anziehen kaufen kann, als sein Wohnheim fassen kann und der technologische Fortschritt sich schnell in der Verbesserung des zum Zeitpunkt physikalisch Möglichen erschöpft2, weicht die Nachschuldnerfindung in der Masse auf Wellness-3 und Unterhaltungsprodukte aus: Mode, Schönheits- und Jugendwahn, Computer- und Konsolenspiele, Promi-Magazine, technischer Schnickschnack etc. Der Konsumwahn, als letzte Phase des kapitalistischen Zyklus, zeichnet sich, wie bereits erwähnt, vor allem dadurch aus, dass er keine Grundlage, d.h. kein freies Eigentum mehr bietet zur Kreditgenerierung. Das Geld fällt dem stupiden Konsum anheim und zuletzt gibt es keine großen Erfindungen mehr, die als Basisinnovation die Schuldenkurve noch ein paar Jährchen länger in die Senkrechte treiben könnten. Zusätzlich waltet die Inflation, welche die Sparmoral bestraft und den Konsum begünstigt.
Die allgemeine Dekadenz ist eine direkte Folge des kapitalistischen Systems kurz vor seinem Untergang. Sie ist nicht auf die späten 80er bis heute beschränkt – ein Abschnitt, der selbst nur ein Fraktal des gesamten Nachkriegskapitalismus ist, der einem Menschen aus dem 18. Jh. als dekadent erscheinen müsste. Durch das Anwachsen des Wohlstandes ist der Mensch nicht mehr gezwungen, für sein Überleben zu kämpfen. Er hat Zeit und Geld (bzw. den Kreditrahmen, der ja ebenfalls im Zeitablauf steigt, da die Banken vor dem Kollaps nichts anderes mehr kennen als ewig steigende Kurse und damit Wertsteigerungen der unter dem Kreditvertrag liegenden Sicherheiten) und das kapitalistische System braucht Nachschuldner, die aus besagten Gründen immer mehr im Dienstleistungssektor gesucht werden. Dies, in Kombination mit der allgemeinen Hektik des späten Konsumkapitalismus, führt zu einer allgemeinen geistigen Degeneration. Jugendliche stecken ihre geistigen Kapazitäten in das Anhimmeln von Promis und ihr Geld in entsprechende Magazine, Accessoires und ihre Schönheit (bis hin zum Trend »Schönheitsoperationen«). Medien folgen dem Trend und verstärken ihn. Die gesamte Psychologie mehrerer Generationen ist dem Kapitalismus geschuldet. Wo die Großeltern noch eisern sparten und es sogar als Schande galt, selbst für ein eigenes Haus einen Kredit aufzunehmen, zehrt die zweite Generation den Wohlstand der Eltern auf und ruht sich auf den Lorbeeren von deren Errungenschaften aus, und die dritte Generation konsumiert auf Schuldenbasis.1 Dies geht Hand in Hand mit dem debitistischen System – und muss Hand in Hand damit gehen, da sonst der Kapitalismus schon vorher sein Ende gefunden hätte. Wo die strenge Erziehung der Kriegsgeneration noch aus der Erfahrung von Not resultiert, d.h. die gesamte Moral, die sie ihren Kindern vermittelt, ein Produkt ihrer harten Erfahrung ist – dass nur durch harte Arbeit der Magen satt wird, da schwimmt die zweite Generation auf der Welle des Wohlstands und vermittelt ihren Kindern eben keine Werte mehr, sondern will statt einer Autoritätsperson lieber der beste Freund sein. Das ergibt sich auch ganz automatisch aus den geänderten Bedingungen im Umfeld: Kaum jemand muss noch wirklich per Hand am Acker schuften, daher muss auch kaum jemand die harte Arbeitsmoral des Alltags eingetrichtert werden. Das liberaler werdende Umfeld lässt dann auch strengere Eltern weicher werden. Es geht hier nicht um die alte »Früher war alles besser und diese Jugend von heute… «-Litanei, diesen typischen Zwiespalt zwischen Eltern und Kindern, der sich in jeder Generation (nur in der spätkulturellen und zivilisatorischen Phase einer Kultur; siehe dazu später) entfaltet und schon von Sokrates, Platon und Aristoteles beklagt, ja selbst auf einer altbabylonischen Keilschrifttafel (2000 v. Chr.) gefunden wurde.1 Es geht um etwas viel Fundamentaleres: das Erkennen dieses Musters durch die Masse – nach dem Motto: »Meine Güte, wir waren doch genauso. Unsere Eltern haben in uns auch den Untergang des Abendlandes gesehen. Lasst die Kinder doch Kinder sein.« Ich nenne dieses Erkennen eines Musters durch die Masse »Konditionierung des kollektiven Bewusstseins«, daher Lernen – das Verschieben von Inhalten des kollektiven Kurzzeitgedächtnisses ins Langzeitgedächtnis einer Kultur. Sobald aber ein Muster von der Masse erkannt wird2, verschwindet es. Hier kommt es zu einem Knick in der Erziehungsgeschichte einer Kultur an sich. Erziehung funktioniert in einem Machtsystem eben nur so lange, wie dieses Muster nicht erkannt wird, d.h. Eltern ihre Kinder unter ähnlich strengen Kriterien erziehen, wie sie sich das anno dazumal nicht von ihren eigenen Eltern gewünscht hatten. Dieser Prozess des Mustererkennens, der stets für eine Auslöschung des erkannten Musters sorgt, wird uns später unter anderem noch beim Untergang von Kulturen beschäftigen.
Die Kinder selbst vollenden dann bloß noch, was der Kapitalismus für sie vorgesehen hat. Sie sehen ihren dekadenten Wohlstand als Selbstverständlichkeit, da sie nie gelernt haben, dass Wohlstand nur durch Leistung generiert wird und eifern nur mehr dem nach, das schöner, wohlhabender und begehrenswerter ist als sie: Models, Reiche, Film- und Musikstars. Ihr Geltungsbedürfnis und ihr kompensierter Individualismus durch eigenen Kleidungs- und Musikstil resultiert in erster Linie aus einer fehlenden autoritären3 Erziehung, die aber im Patriarchat erst Stabilität gewährleistet. Deren Ergebnis sind Jugendliche, welche die materialistisch-mediale Welt für bare Münze nehmen, weil ihnen durch fehlende Grenzen nie ein realistisches und konsistentes Weltbild vermittelt wurde. Am Ende stehen sie da und träumen selbst mit 20 noch in Massen von der Karriere als Model oder Popstar und nur überschuldete, dekadente Individuen sind es, die dem Debitismus am Ende noch seinen letzten Schub verleihen. Die verzweifelten Versuche rechter Parteien, die alten Werte zu retten, sind lächerliche Versuche, den Lauf des Debitismus aufzuhalten, ja den Lauf einer Kultur im Gesamten. Trotzdem sorgen erst ihre Existenz und die Existenz aller anderen Apologeten für die dynamische Entwicklung einer Kultur. Die Dynamik erhält sich eben nur durch den Glauben an Meinungen und Ideologien. Würden alle begreifen, was Thema dieses Buches ist, wären Stillstand und Untergang die Folge. Durch den breitflächigen Wohlstand, bei gleichzeitiger Konzentration der Basisproduktion und des Eigentums in Großkonzernen und Großgrundbesitzern sowie der Ablösung der manuellen Arbeit durch den technologischen Fortschritt, kommt es zu einer wahren Flut von Eltern, die ihren Kindern bloß die beste Ausbildung zukommen lassen wollen. Wo früher die Masse nach der Grundschule im elterlichen Betrieb arbeitete, später dann der Lehrberuf zur üblichen Ausbildung der Kinder herangezogen wurde, da kommt es jetzt zum massenhaften Auftreten von Absolventen höherer Schulen. Studenten strömen in den Dienstleistungssektor, wählen Marketing-, Management- und Wirtschaftsfächer (neben Fächern, die »Spaß« machen – ein Attribut, das vor 50 Jahren völlig fremd war) und werden damit ein Rädchen in der Konsummaschinerie, die den Nachschuldner in der Masse sucht. Dass eine solche Entwicklung bald in sich selbst endet, wenn die Masse ihre überzogenen Konten nicht mehr bedienen kann, ist absehbar. Ich will das nicht als Kritik verstanden wissen, da eine solche vollkommen sinnlos wäre. Was wir sehen, ist einfach ein völlig normaler debitischer Durchlauf – mit dem Unterschied, dass in unserem Fall nicht nur der Subzyklus (Nachkriegskapitalismus),