Rubinrot. Керстин Гир

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Название Rubinrot
Автор произведения Керстин Гир
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401800141



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Charlotte neidisch, weil das Bad im zweiten Stock keine Fenster hatte, unseres aber gleich

      zwei. Aber ich mochte es auch deswegen in unserem Stockwerk, weil hier Mum, Nick, Caroline und ich für uns waren, was in diesem Irrenhaus manchmal ein Segen sein konnte.

      Nachteil war nur, dass wir verdammt weit weg von der Küche waren, was mir wieder mal unangenehm auffiel, als ich jetzt oben ankam. Ich hätte mir wenigstens einen Apfel mitnehmen sollen. So musste ich mich mit den Butterkeksen aus dem Vorrat zufriedengeben, den meine Mum im Schrank angelegt hatte.

      Aus lauter Angst, das Schwindelgefühl könnte zurückkehren, aß ich elf Butterkekse hintereinander. Ich zog meine Schuhe und die Jacke aus, ließ mich auf das Sofa im Nähzimmer plumpsen und streckte mich lang aus.

      Heute war irgendwie alles seltsam. Ich meine, noch seltsamer als sonst.

      Es war erst zwei Uhr. Bis ich Leslie anrufen und meine Probleme mit ihr erörtern konnte, dauerte es noch mindestens zweieinhalb Stunden. Auch meine Geschwister würden nicht vor vier Uhr aus der Schule kommen und meine Mum machte immer erst gegen fünf bei der Arbeit Schluss. Normalerweise liebte ich es, allein in der Wohnung zu sein. Ich konnte in Ruhe ein Bad nehmen, ohne dass jemand an die Tür klopfte, weil er dringend auf die Toilette musste. Ich konnte die Musik aufdrehen und laut mitsingen, ohne dass jemand lachte. Und ich konnte im Fernsehen anschauen, was ich wollte, ohne dass jemand »aber jetzt kommt gleich Sponge Bob« quengelte.

      Aber heute hatte ich zu alldem keine Lust. Nicht mal nach einem Schläfchen war mir zumute. Im Gegenteil, das Sofa – sonst ein Platz unübertroffener Geborgenheit – kam mir vor wie ein wackliges Floß in einem reißenden Fluss. Ich hatte Angst, es könne mit mir davonschwimmen, sobald ich die Augen schließen würde.

      Um auf andere Gedanken zu kommen, stand ich auf und fing an, das Nähzimmer ein bisschen aufzuräumen. Es war so etwas wie unser inoffizielles Wohnzimmer, denn glücklicherweise nähten weder die Tanten noch meine Großmutter, weshalb sie höchst selten in den dritten Stock hinaufkamen. Es gab auch keine Nähmaschine hier, dafür eine enge Stiege, die hinauf aufs Dach führte. Die Stiege war nur für den Schornsteinfeger bestimmt, aber Leslie und ich hatten das Dach zu einem unserer Lieblingsplätze erkoren. Man hatte einen wunderbaren Ausblick von da oben und es gab keinen besseren Ort für Mädchengespräche. (Zum Beispiel über Jungs und dass wir keine kannten, in die es sich zu verlieben lohnte.)

      Natürlich war es ein bisschen gefährlich, weil es kein Geländer gab, nur eine kniehohe Firstverzierung aus galvanisiertem Eisen. Aber man musste ja da auch nicht gerade Weitsprung üben oder bis an den Abgrund tanzen. Der Schlüssel, der zu der Tür auf dem Dach gehörte, lag in einer Zuckerdose mit Rosenmuster im Schrank. In meiner Familie wusste niemand, dass ich das Versteck kannte, sonst wäre sicher die Hölle los gewesen. Deshalb passte ich immer sehr auf, dass niemand mitbekam, wenn ich mich aufs Dach schlich. Man konnte sich dort auch sonnen, picknicken oder sich einfach nur verstecken, wenn man mal seine Ruhe haben wollte. Was ich wie gesagt oft wollte, nur gerade jetzt nicht.

      Ich faltete unsere Wolldecken zusammen, fegte Kekskrümel vom Sofa, klopfte Kissen in Form und räumte herumfliegende Schachfiguren zurück in ihre Schachtel. Ich goss sogar die Azalee, die in einem Topf auf dem Sekretär in der Ecke stand, und wischte mit einem feuchten Tuch über den Couchtisch. Dann sah ich mich unschlüssig in dem nun tadellos aufgeräumten Zimmer um. Es waren gerade mal zehn Minuten vergangen und ich sehnte mich noch mehr nach Gesellschaft als vorher.

      Ob Charlotte unten im Musikzimmer wieder schwindelig war? Was passierte eigentlich, wenn man vom ersten Stock eines Hauses im Mayfair des 21. Jahrhunderts ins Mayfair des, sagen wir mal, 15. Jahrhunderts sprang, als es an diesem Ort noch gar keine oder nur wenige Häuser gegeben hatte? Landete man dann in der Luft und plumpste sieben Meter tief auf die Erde? In einen Ameisenhaufen vielleicht? Arme Charlotte. Aber vielleicht lehrte man sie ja in ihrem mysteriösen Mysterienunterricht das Fliegen.

      Apropos Mysterien: Mit einem Mal fiel mir etwas ein, womit ich mich ablenken konnte. Ich ging in Mums Zimmer und schaute hinunter auf die Straße. Im Hauseingang von Nummer 18 stand immer noch der schwarze Mann. Ich konnte seine Beine und einen Teil seines Trenchcoats sehen. So tief wie heute waren mir die drei Stockwerke noch nie vorgekommen. Spaßeshalber rechnete ich aus, wie weit es von hier oben bis zum Erdboden war.

      Konnte man einen Sturz aus vierzehn Metern Höhe überhaupt überleben? Na, vielleicht, wenn man Glück hatte und in sumpfigem Marschland landete. Angeblich war ganz London mal sumpfiges Marschland gewesen, sagte jedenfalls Mrs Counter, unsere Erdkundelehrerin. Sumpf war gut, da landete man wenigstens weich. Allerdings nur, um dann elend im Schlamm zu ertrinken.

      Ich schluckte. Meine eigenen Gedanken waren mir unheimlich.

      Um nicht länger allein sein zu müssen, beschloss ich, meiner Verwandtschaft im Musikzimmer einen Besuch abzustatten, auch auf die Gefahr hin, wegen streng geheimer Gespräche wieder hinausgeschickt zu werden.

      Als ich eintrat, saß Großtante Maddy auf ihrem Lieblingssessel am Fenster und Charlotte stand am anderen Fenster, ihren Hintern gegen den Louis-quatorze-Schreibtisch gelehnt, dessen bunt lackierte und vergoldete Oberfläche zu berühren, uns streng verboten war, egal mit welchem Körperteil. (Nicht zu fassen, dass etwas so Grottenhässliches wie dieser Schreibtisch so wertvoll sein konnte, wie Lady Arista immer behauptete. Er hatte nicht mal Geheimfächer, das hatten Leslie und ich vor Jahren schon herausgefunden.) Charlotte hatte sich umgezogen und trug anstelle der Schuluniform ein dunkelblaues Kleid, das wie eine Mischung aus Nachthemd, Bademantel und Nonnenkluft aussah.

      »Ich bin noch da, wie du siehst«, sagte sie.

      »Das ist .. . schön«, sagte ich, während ich mich bemühte, das Kleid nicht allzu entsetzt anzustarren.

      »Es ist unerträglich«, sagte Tante Glenda, die zwischen den beiden Fenstern auf und ab ging. Wie Charlotte war sie groß und schlank und hatte leuchtend rote Locken. Meine Mum hatte die gleichen Locken und auch meine Großmutter war mal rothaarig gewesen. Caroline und Nick hatten die Haarfarbe ebenfalls geerbt. Nur ich war dunkel- und glatthaarig wie mein Vater.

      Früher hatte ich auch unbedingt rote Haare haben wollen, aber Leslie hatte mich davon überzeugt, dass meine schwarzen Haare einen reizvollen Kontrast zu meinen blauen Augen und der hellen Haut bildeten. Leslie redete mir auch erfolgreich ein, dass mein halbmondförmiges Muttermal an der Schläfe – das Tante Glenda immer »komische Banane« nannte – geheimnisvoll und apart aussähe. Mittlerweile fand ich mich selber ganz hübsch, nicht zuletzt dank der Zahnspange, die meine vorstehenden Vorderzähne gebändigt und mir das Häschenähnliche genommen hatte. Auch wenn ich natürlich längst nicht so »liebreizend und voll bezaubernder Anmut« war wie Charlotte, um mit James zu sprechen. Ha, ich wünschte, er könnte sie in diesem Sackkleid sehen.

      »Gwendolyn, Engelchen, möchtest du ein Zitronenbonbon?« Großtante Maddy klopfte auf den Schemel neben sich. »Setz dich doch zu mir und lenk mich ein bisschen ab. Glenda macht mich schrecklich nervös mit ihrem Hin- und Hergerenne.«

      »Du hast ja keine Ahnung von den Gefühlen einer Mutter, Tante Maddy«, sagte Tante Glenda.

      »Nein, das habe ich wohl nicht«, seufzte Großtante Maddy. Sie war die Schwester meines Großvaters und sie war nie verheiratet gewesen. Sie war eine rundliche, kleine Person mit fröhlichen blauen Kinderaugen und goldblond gefärbten Haaren, in denen nicht selten ein vergessener Lockenwickler steckte.

      »Wo ist denn Lady Arista?«, fragte ich, während ich mir ein Zitronenbonbon nahm.

      »Sie telefoniert nebenan«, sagte Großtante Maddy. »Aber so leise, dass man leider kein Wort verstehen kann. Das war übrigens die letzte Dose Bonbons. Du hättest nicht zufällig Zeit, zu Selfridges zu laufen und neue zu besorgen?«

      »Klar«, sagte ich.

      Charlotte verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere und sofort fuhr Tante Glenda herum.

      »Charlotte?«

      »Nichts«, sagte Charlotte.

      Tante Glenda kniff ihre Lippen zusammen.

      »Solltest du nicht besser im