Rubinrot. Керстин Гир

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Название Rubinrot
Автор произведения Керстин Гир
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401800141



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Eindruck. Aber dafür wusste ich, was zu tun war. Tante Glenda hatte es mir oft genug eingeschärft.

      »Ich bringe Charlotte nach Hause«, sagte ich zu Mr Whitman und stand auf. »Wenn das okay ist.«

      Mr Whitmans Blick ruhte immer noch auf Charlotte. »Das halte ich für eine gute Idee, Gwendolyn«, sagte er. »Gute Besserung, Charlotte.«

      »Danke«, sagte Charlotte. Auf dem Weg zur Tür taumelte sie leicht. »Kommst du, Gwenny?«

      Ich beeilte mich, ihren Arm zu nehmen. Zum ersten Mal kam ich mir in Charlottes Gegenwart ein bisschen wichtig vor. Es war ein gutes Gefühl, zur Abwechslung mal gebraucht zu werden.

      »Ruf mich unbedingt an und erzähl mir alles«, flüsterte Leslie mir noch zu.

      Vor der Tür war Charlottes Hilflosigkeit schon wieder verflogen. Sie wollte tatsächlich noch ihre Sachen aus dem Spind holen.

      Ich hielt sie am Ärmel fest. »Lass das doch, Charlotte! Wir müssen so schnell wie möglich nach Hause. Lady Arista hat gesagt . . .«

      »Es ist schon wieder vorbei«, sagte Charlotte.

      »Na und? Es kann trotzdem jeden Augenblick passieren.« Charlotte ließ sich von mir in die andere Richtung ziehen. »Wo habe ich nur die Kreide?« Ich kramte im Gehen in der Jackentasche. »Ach, hier ist sie ja. Und das Handy. Soll ich schon mal zu Hause anrufen? Hast du Angst? Oh, dumme Frage, tut mir leid. Ich bin aufgeregt.«

      »Schon okay. Ich habe keine Angst.«

      Ich sah sie von der Seite an, um zu überprüfen, ob sie die Wahrheit sagte. Sie hatte ihr kleines, überlegenes Mona-Lisa-Lächeln aufgesetzt, unmöglich zu erkennen, welche Gefühle sie dahinter verbarg.

      »Soll ich zu Hause anrufen?«

      »Was soll denn das bringen?«, fragte Charlotte zurück. »Ich dachte nur. . .«

      »Du kannst das Denken getrost mir überlassen«, sagte Charlotte.

      Wir liefen nebeneinander die Steintreppen hinunter, auf die Nische zu, in der James immer saß. Er erhob sich sofort, als er uns sah, aber ich lächelte ihm nur zu. Das Problem mit James war, dass niemand außer mir ihn sehen und hören konnte.

      James war ein Geist. Deshalb vermied ich es, mit ihm zu sprechen, wenn andere dabei waren. Nur bei Leslie machte ich eine Ausnahme. Sie hatte nie auch nur eine Sekunde an James’ Existenz gezweifelt. Leslie glaubte mir alles und das war einer der Gründe, warum sie meine beste Freundin war. Sie bedauerte zutiefst, dass sie James nicht sehen und hören konnte.

      Ich war darüber eigentlich ganz froh, denn das Erste, was James sagte, als er Leslie sah, war: »Himmelherrgott! Das arme Kind hat ja mehr Sommersprossen, als Sterne am Himmel sind! Wenn sie nicht schleunigst anfängt, eine gute Bleichlotion aufzutragen, wird sich niemals ein Mann für sie finden!«

      »Frag ihn, ob er vielleicht irgendwo einen Schatz vergraben hat«, war hingegen das Erste, was Leslie sagte, als ich die beiden einander vorstellte.

      Leider hatte James nirgendwo einen Schatz vergraben. Er war ziemlich beleidigt, dass Leslie ihm das zutraute. Er war auch immer beleidigt, wenn ich so tat, als sähe ich ihn nicht. Er war überhaupt recht schnell beleidigt.

      »Ist er durchsichtig?«, hatte Leslie sich bei diesem ersten Zusammentreffen erkundigt. »Oder so schwarz-weiß?«

      Nein, James sah eigentlich ganz normal aus. Bis auf die Klamotten natürlich.

      »Kannst du durch ihn hindurchgehen?«

      »Ich weiß nicht, ich hab’s noch nie versucht.«

      »Dann versuch es jetzt mal«, hatte Leslie vorgeschlagen.

      Aber James wollte nicht zulassen, dass ich durch ihn hindurchging.

      »Was soll das heißen – Geist? Ein James August Peregrin Pimplebottom, Erbe des vierzehnten Earls von Hardsdale, lässt sich nicht beleidigen, auch nicht von kleinen Mädchen.«

      Wie so viele Geister wollte er einfach nicht wahrhaben, dass er kein Mensch mehr war. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, gestorben zu sein. Wir kannten uns mittlerweile seit fünf Jahren, seit meinem ersten Schultag auf der Saint Lennox High School, aber für James schien es nur ein paar Tage her zu sein, dass er im Club mit seinen Freunden eine Runde Karten gespielt und über Pferde, Schönheitspflästerchen und Perücken gefachsimpelt hatte. (Er trug beides, Schönheitspflästerchen und Perücke, was aber besser aussah, als es sich jetzt anhören mag.) Dass ich seit Beginn unserer Bekanntschaft um zwanzig Zentimeter gewachsen, eine Zahnspange und einen Busen bekommen hatte sowie die Zahnspange wieder losgeworden war, ignorierte er geflissentlich. Ebenso wie die Tatsache, dass aus dem Stadtpalais seines Vaters längst eine Privatschule geworden war, mit fließendem Wasser, elektrischem Licht und Zentralheizung. Das Einzige, das er von Zeit zu Zeit zu registrieren schien, war die Länge der Röcke unserer Schuluniform. Offenbar war der Anblick weiblicher Waden und Knöchel zu seiner Zeit höchst selten gewesen.

      »Es ist nicht besonders höflich von einer Dame, einen höhergestellten Herrn nicht zu grüßen, Miss Gwendolyn«, rief er jetzt, wieder mal total eingeschnappt, weil ich ihm keine Beachtung schenkte.

      »Entschuldige. Wir haben es eilig«, sagte ich.

      »Wenn ich irgendwie behilflich sein kann, stehe ich selbstverständlich zur Verfügung.« James zupfte sich die Spitzenbesätze an seinen Ärmeln zurecht.

      »Nein, vielen Dank. Wir müssen nur schnell nach Hause.« Als ob James irgendwie behilflich hätte sein können! Er konnte nicht mal eine Tür öffnen. »Charlotte fühlt sich nicht gut.«

      »Oh, das tut mir leid«, sagte James, der eine Schwäche für Charlotte hatte. Im Gegensatz zu »der Sommersprossigen ohne Manieren«, wie er Leslie zu nennen pflegte, fand er meine Cousine ausschließlich »liebreizend und von bezaubernder Anmut«. Auch heute gab er wieder schleimige Komplimente von sich. »Bitte entrichte ihr meine besten Wünsche. Und sag ihr, sie sieht heute wieder einmal entzückend aus. Ein bisschen blass, aber zauberhaft wie eine Elfe.«

      »Ich werde es ihr ausrichten.«

      »Hör auf, mit deinem imaginären Freund zu sprechen«, sagte Charlotte. »Sonst landest du irgendwann noch in der Irrenanstalt.«

      Okay, ich würde es ihr nicht ausrichten. Sie war ohnehin schon eingebildet genug.

      »James ist nicht imaginär, er ist unsichtbar. Das ist ja wohl ein großer Unterschied!«

      »Wenn du meinst«, sagte Charlotte. Sie und Tante Glenda waren der Ansicht, dass ich James und die anderen Geister nur erfand, um mich wichtig zu machen. Ich bereute es, ihnen jemals davon erzählt zu haben. Als kleines Kind war es mir allerdings unmöglich gewesen, über lebendig gewordene Wasserspeier zu schweigen, die vor meinen Augen an den Fassaden herumturnten und mir Grimassen schnitten. Die Wasserspeier waren ja noch lustig, aber es gab auch gruselig aussehende dunkle Geistgestalten, vor denen ich mich gefürchtet hatte. Bis ich begriff, dass Geister einem gar nichts anhaben können, hatte es ein paar Jahre gedauert. Das Einzige, was Geister wirklich tun können, ist, einem Angst einzujagen.

      James natürlich nicht. Der war völlig harmlos.

      »Leslie meint, es ist vielleicht ganz gut, dass James jung gestorben ist. Er hätte mit dem Namen Pimplebottom sowieso keine Frau abgekriegt«, sagte ich, nicht ohne mich zu vergewissern, dass James uns nicht mehr hören konnte. »Ich meine, wer will schon freiwillig Pickelpo heißen?«

      Charlotte verdrehte die Augen.

      »Er sieht allerdings nicht schlecht aus«, fuhr ich fort. »Und stinkreich ist er auch, wenn man ihm glauben darf. Nur seine Angewohnheit, sich ständig ein parfümiertes Spitzentaschentuch an die Nase zu halten, ist ein wenig unmännlich.«

      »Wie schade, dass niemand außer dir ihn bewundern kann«, sagte Charlotte.

      Das fand ich allerdings auch.

      »Und wie dumm, dass du außerhalb der Familie über deine Absonderlichkeiten sprichst«,