Der Seele tiefer Grund. Beate Berghoff

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Название Der Seele tiefer Grund
Автор произведения Beate Berghoff
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347094444



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Kapitel 3: Alleine mit der Schuld

      Bald darauf klopfte es, und Ulrich kam herein. Er sah angespannt aus. In sicherer Entfernung blieb er stehen und meinte: „Ihr habt mich rufen lassen? Braucht Ihr etwas?“ Heinrichs Gesicht war eine Maske aus Stein, als er befahl: „Setzt Euch.“

      Ulrich setzte sich an den Tisch und wartete. Heinrich spürte, dass er gar nicht wirklich wissen wollte, was passiert war, aber es musste wohl sein. Zögernd fragte er: „Wie ist meine Mutter gestorben, und warum? War es im Kindbett?“

      Ulrich schüttelte stumm den Kopf und sah so kummervoll dabei aus, dass es Heinrich das Herz zusammenzog. „Was war es dann? Mein Vater hat gesagt, sie hätte sich das Leben genommen.“ Der Verwalter schluckte schwer. Dann meinte er: „Ich hatte gedacht, Ihr wisst es. Jeder hier weiß es.“

      Heinrich schloss die Augen. Alle außer ihm.

      Die Männer schwiegen eine Weile, dann nahm Heinrich allen seinen Mut zusammen. „Nun?“

      Ulrich räusperte sich. Am liebsten wäre er jetzt ganz weit weg gewesen. Er überlegte. Leider gab es niemand anderen, der Heinrich die Wahrheit ins Gesicht sagen konnte, also musste er wohl oder übel in den sauren Apfel beißen.

      „Wie gesagt, Eure Mutter war schwanger von den Vergewaltigungen. Sie hat mir erzählt, dass es mehr als einer war, deswegen weiß niemand, wer von ihnen Martins Vater war. Bei der Befreiung war sie bereits hochschwanger, sonst hätte sie das vielleicht anders lösen können, hm, also, Ihr wisst schon.“

      Heinrich wusste, was er meinte. Sicherlich wäre das das Beste gewesen für alle Beteiligten.

      „Euer Vater ist vergangen vor Kummer und Sorge. Er hat Eure Mutter so sehr geliebt und als er sie in ihrem Zustand gesehen hat, da hat er…. er hat etwas überreagiert.“

      Überreagiert? Was konnte das wohl gewesen sein? Heinrich wollte gar nicht fragen. Der Verwalter fuhr fort:

      „Als das Kind dann geboren war, hat Eure Mutter es gleich nach der Geburt ihrer Schwester mitgegeben, damit sie es zu Pflegeeltern bringt. Das hat sie auch getan, sie ist bei Nacht und Nebel aufgebrochen. Als Euer Vater das herausgefunden hat, war er furchtbar wütend. Er hat gedacht, dass sie das Kind liebte, dass es ihr wichtig wäre, dass sie es schützen wollte. Er hat sich in einen Wahn hineingesteigert und gedacht, sie hätte den Vergewaltiger und auch sein Kind geliebt.“

      Heinrich wusste, was er mit Wahn meinte. Sein Vater hatte auch am Ende seines Lebens panische Angst vor einem Überfall gehabt. Irgendwie war es sein Wahn, dass jemand ihn angreifen würde. Niemand hatte ihm das ausreden können. Er hatte öfter solche Wahnideen gehabt.

      Trotzdem verstand Heinrich nicht. Er fragte nach: „Aber meine Mutter hat doch das Richtige getan? Was hätte mein Vater denn mit dem Säugling anfangen können?“

      Ulrich sah sehr traurig aus. Heinrichs Vater war sein Freund gewesen, und er hatte ihm immer treu als Verwalter gedient, aber seine Unbeherrschtheit und Grausamkeit war legendär gewesen. Leise meinte er: „Er wollte das Kind töten, um seine Genugtuung zu haben.“

      Heinrich schauderte. Er war im Krieg gewesen und hatte viel Übles getan, aber Kinder hatte er nie töten können. Ulrich sprach weiter:

      „Als Euer Vater herausgefunden hat, dass das Kind nicht mehr da war, hat sich sein Zorn auf Eure Mutter gerichtet. Er hat sich in die Idee verrannt, dass sie dem Vergewaltiger zärtlich zugetan war und nun sein Kind schützen wollte. Er hat einfach nicht erkannt, dass fast jede Mutter ihr Kind schützen würde, ob sie es nun freiwillig ausgetragen hat oder nicht. Wenn er einfach Ruhe gegeben hätte, dann wäre alles so einfach gewesen. Nichts wäre passiert.“

      Heinrich staunte, denn Ulrich kämpfte mit den Tränen. Er hatte seinen Verwalter noch nie weinen oder die Fassung verlieren sehen. Sein Brustkorb wurde eng. Die Wahrheit war anscheinend noch furchtbarer, als er gedacht hatte.

      Ulrich brauchte ein bisschen, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Dann fuhr er fort: „Euer Vater hat sich also in diesen Wahn hineingesteigert, er war furchtbar eifersüchtig. Er hat Eure Mutter in den Turm gesperrt und wollte sie zwingen ihm zu sagen, wo das Kind ist. Sie hat es nicht getan. Und genau das hat ihn dann wieder in seinem Wahn bestärkt. Hätte sie ihm doch nur das Kind gegeben! Martin wäre viel Leid erspart geblieben, Eurer Mutter auch. Und Euch.“

      Heinrich blieb stumm. Wollte er wirklich wissen, wie es weiter ging? Nein, er wollte nicht, absolut nicht. Aber er wusste genau, dass es ihm keine Ruhe lassen würde, also nickte er nur und bedeutete so dem Verwalter, weiterzusprechen.

      „Er ist immer wütender geworden und hat Eure Mutter geschlagen und gequält. Ich habe sie oft schreien hören. Irgendwie ist aus seiner Liebe Hass geworden, und er hat ihr so bitter Unrecht getan. Eines Tages war er wieder bei ihr und wollte unbedingt herausfinden, wo das Kind war. Wir alle haben das Geschrei und das Weinen gehört. Dann ist Eure Mutter aus dem Turmfenster gestürzt.“

      Ulrich schwieg erschüttert, sein Gesicht spiegelte seinen inneren Kampf. Mit leerer Seele fragte Heinrich:

      „Hat sie sich das Leben genommen?“

      Ulrich sah ihm in die Augen. Tiefer Kummer lag in seinem Blick. „Ich weiß es nicht, ich war nicht dabei. Euer Vater hat auch nie darüber gesprochen. Es ist nur seltsam, dass die Magd auch aus dem Fenster gefallen ist.“

      Heinrich verstand. Er spürte, wie sein Herz gefror. Alle Lebenskraft schien aus ihm zu weichen und Heinrich war froh, dass er bereits im Bett lag, sonst wäre er vermutlich einfach umgefallen. Sein Vater hatte seine Mutter getötet.

      Soviel Leid, soviel Einsamkeit, soviel Kälte wäre ihnen allen erspart geblieben, wenn sein Vater nicht so eifersüchtig und unbeherrscht gewesen wäre. Und er hatte andere dafür büßen lassen. Heinrich wurde schlecht als er daran dachte, was sie beide dem armen Martin angetan hatten. Er wollte gerne alleine sein und weinen, doch Ulrich war noch nicht fertig. Für Heinrich fühlte es sich unbarmherzig an, aber Ulrich fuhr fort: „Als sie tot war, hat er tief um sie getrauert. Sein Hass auf die Angreifer ist ins Unermessliche gewachsen. Eure Tante hatte sich in ein Kloster zurückgezogen, so konnte er sie nicht drangsalieren. Er hat sie tatsächlich 10 Jahre lang heimlich überwachen lassen, bis sie sich dann sicher wägte. Sie hat einen Boten zu den Zieheltern des Jungen geschickt, mit Geschenken und Geld.“

      Heinrich spürte, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen und herunter tropften. Offensichtlich weinte er, aber er fühlte nichts. Er ahnte, was er nun hören würde, und ihm graute davor. „Euer Vater ist mit ein paar Leuten zu dem Dorf geritten. Er hat Martins Ziehfamilie getötet und den Jungen mitgenommen. Den Rest wisst Ihr.“

      Verzweifelt versuchte Heinrich, das Grauen von sich wegzuhalten. Er war gerade dabei, den Respekt vor seinem Vater zu verlieren, und das wollte er auf gar keinen Fall. Leise fragte er: „Hat Martin gewusst, warum mein Vater das getan hat?“ Ulrich schenkte sich noch einen Becher Wein ein und trank ein paar Schluck. Die Erinnerung hatte ihm sichtlich zugesetzt. „Nein. Er hatte von alldem nichts gewusst. Er hatte gedacht, dass die Müllersleute seine Eltern wären. Den Rest hat er dann erst hier nach und nach vom Gesinde erfahren.“

      In Heinrichs Brust schmerzte es. Es schmerzte so stark, dass es ihm den Atem nahm. Der Schmerz und die Scham schienen ihn schier erdrücken zu wollen. Er brachte es noch zustande, dem Verwalter zuzunicken und ihn wegzuschicken, dann brach er zusammen.

      Er weinte und weinte und schlug mit den Fäusten auf sein Kopfkissen ein. Sein Vater war immer sein Held gewesen, ein guter Geschäftsmann, ein harter Mann, ein Mann ohne Furcht. Ein Mann, dem das Schicksal übel mitgespielt und ihm die Frau genommen hatte. Ein… ein Mörder.

      Heinrich fühlte, wie nach seinem Herzen auch seine Seele gefror. Sein Vater war nichts anderes gewesen als ein gemeiner Mörder ohne Anstand und Gewissen. Und ein Lügner. Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag und schien ihn zu lähmen. Heinrich lag einfach nur in seinem Bett und wusste vor Gram nicht, was er tun sollte. Also lag er da und tat gar nichts, gefangen in seinem Schmerz.

      Es wurde Abend, und die Magd kam mit dem Abendessen. Sie versorgte Heinrich wie