Der Seele tiefer Grund. Beate Berghoff

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Название Der Seele tiefer Grund
Автор произведения Beate Berghoff
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347094444



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kamen wieder Zuhause an, aber dort ging das Leid erst richtig weiter, denn seine Mutter war von den Vergewaltigungen schwanger geworden. Sein Vater hatte Heinrich erzählt, dass sie durch die Schande schwermütig geworden war und sich hochschwanger aus einem der Wachtürme gestürzt hatte. Heinrich war sechs Jahre alt gewesen, als seine Mutter starb, und die Veränderungen, die folgten, waren gravierend gewesen. Seine ältere Schwester kam in ein Kloster zur Erziehung. Sein Bruder Karl war gar nicht da, der war bereits Page und wurde in einer anderen Burg zum Ritter ausgebildet. Plötzlich war Heinrich alleine gewesen, ohne Mutter und Schwester. An viel konnte er sich nicht mehr erinnern, nur dass es eine einsame und traurige Zeit gewesen war. Sein Vater war schier wahnsinnig vor Kummer geworden und hatte sich in die Arbeit mit den Pferden geflüchtet.

      Heinrich hatte sich damals an Veit, den Sohn des Stallmeisters gehängt. Er war zwei Jahre älter und konnte unglaublich gut reiten. Damals scherzten die Leute, dass er reiten konnte, bevor er mit dem Laufen anfing. Veit hatte ihn damals aus der Einsamkeit gerettet und ihm das Reiten beigebracht.

      Heinrich hing seinen Gedanken nach und überlegte, was wohl mit Veit passiert war? Er hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen. Vielleicht hatte er sich freigekauft und war weggegangen, oder er war tot. Viele Leute starben jung, es wäre nichts Ungewöhnliches gewesen.

      Heinrich war recht lange Zuhause geblieben, eigentlich hätte er gar nicht weggehen sollen. Er war geplant, dass er Zuhause blieb, dort lernte und später die Pferdezucht übernehmen würde. Doch sein Bruder starb, als Heinrich neun Jahre alt war, und er musste doch noch an einen anderen Hof gehen, um als Ritter ausgebildet zu werden. Sein Vater hatte sich in den Kopf gesetzt, dass einer seiner Söhne Ritter sein musste, und so geschah es auch. Heinrich war also deutlich länger Zuhause geblieben als die anderen Pagen, und Veit hatte die ganze Zeit mit ihm das Reiten und das Anreiten geübt. Heinrich hatte damals sogar ein Pony bekommen, das er selbst zureiten und trainieren durfte, was ihm mit Veits Hilfe auch gelungen war.

      Dann war der Ernst des Lebens losgegangen, und Heinrich hatte, wie so viele andere Jungs auch, die Ausbildung zum Ritter durchlaufen; erst als Page und dann als Knappe. Normalerweise wurde man mit 21 zum Ritter geschlagen, aber Heinrich hatte den Ritterschlag schon mit 20 empfangen, weil mal wieder Krieg war und der Herzog Leute zum Kämpfen gebraucht hatte. Albrecht, Leonhard und Gottfried waren mit ihm zusammen Ritter geworden, sie hatten zusammen gekämpft und waren beste Freunde seitdem. Es waren noch zwei Freund mehr gewesen, doch die waren im Krieg geblieben. Während der Ausbildung war Heinrich nur immer mal wieder ein paar Wochen im Sommer und zu Weihnachten heimgekommen.

      Eines Tages, Heinrich war 16 und über den Sommer ein paar Wochen Zuhause, hatte sein Vater ihm stolz einen verschüchterten, mageren Jungen von ungefähr 10 Jahren vor die Füße geworfen. Es war der Sohn des Mannes, der seine Mutter vergewaltigt hatte, so wurde ihm gesagt. Heinrich hatte zwar nicht ganz verstanden, wie sein Vater an dieses Kind gekommen war, aber letztendlich war es ihm auch egal gewesen. Sein Vater hatte endlich jemanden gefunden, an dem er sich für den Verlust seiner Ehefrau und seines Glücks rächen konnte, und das tat er auch ausgiebig.

      Der Junge, Martin, musste als Stallknecht am Gut arbeiten und hatte nichts zu lachen. Heinrich, der seine Mutter immer tief vermisst und betrauert hatte, war auch froh gewesen, endlich ein Ventil für seine Wut und Trauer gefunden zu haben, und auch er hatte dem Jungen das Leben zur Hölle gemacht.

      Seit zwei Jahren war er nun der Herr auf diesem Gut, und Martins Leben war anders geworden, aber nicht unbedingt besser. Meistens ließ Heinrich Martin in Ruhe, nur zweimal im Jahr, zum Geburtstag und Todestag seiner Mutter, gönnte er sich seine Rache und peitschte Martin vor allen Leuten des Gutes ausgiebig aus. Eigentlich war es ein Wunder, dass er noch lebte, denn Heinrich hatte sich noch eine andere, eine subtilere Rache überlegt: Martin bekam keine Erholung. Am Sonntag, wenn das andere Gesinde nur die notwendige Stallarbeit zu tun und dann frei hatte, musste Martin arbeiten. Weiterhin bekam er den ganzen Sonntag über nichts zu essen, er musste fasten als Buße. So sorgte Heinrich dafür, dass der Sohn des Dreckskerls, der seine Mutter vergewaltigt hatte, ganz langsam und elend zugrunde ging. Es war seine Rache, und er hatte sie nie in Frage gestellt, schließlich stand es ihm zu, sich für den Tod seiner Mutter zu rächen.

      Aber genau dieser Martin hatte ihn jetzt aus dem Bach gezogen und ihn versorgt. Heinrich verstand nicht, warum er das getan hatte. An seiner Stelle hätte er wahrscheinlich den Herrn erfrieren lassen und wäre gerannt, so schnell ihn seine Beine trugen. Martin hatte seit Jahren einen dicken Ring aus Eisen um den Hals, überall hätte man gesehen, dass er weggelaufen war. Er wäre vermutlich nicht weit gekommen, wahrscheinlich was das der Grund für sein ungewöhnliches Verhalten.

      Martin untersuchte gerade mit sorgenvollem Gesicht die Beinwunde. Dann sah er Heinrich ins Gesicht, zum allerersten Mal überhaupt. Heinrich sah, dass er blaue Augen hatte, die Augen faszinierten ihn, irgendwo hatte er diese Augen schon mal gesehen, aber er kam nicht drauf. Vermutlich erinnerte er sich an die Augen des Mannes, Martins Vater, der seine Mutter vergewaltigt hatte. Martin begann zu sprechen, auch das erste Mal heute und vielleicht überhaupt.

      Er meinte: „Das Bein ist gebrochen, Herr, und die Knochen sind verschoben. Ich werde sie wieder einrenken. Wenn es später getan wird, ist alles angeschwollen und es tut doppelt so weh.“ Heinrichs Herz schlug schneller. Als Kind hatte er sich mal einen Arm gebrochen, und das Einrenken der Knochen war furchtbar schmerzhaft gewesen. Aber er nickte nur. Was nutzte ihm ein schiefes Bein?

      Martin nahm Heinrichs langen Schal vom Gestell am Feuer und kniete sich neben das verletzte Bein. Wortlos schob er Heinrich ein Stück Holz in den Mund zum Draufbeißen und legte vorsichtig seine Hände auf das Bein. Er tastete herum und erfühlte mit den Händen die Bruchstellen. Es tat bereits jetzt schon so weh, dass Heinrich verzweifelt auf dem Holzstück herumbiss und keuchend atmete. Martin packte fester zu und tat einen Ruck.

      Heinrich schrie und wartete auf die gnädige Ohnmacht, doch die kam nicht. Sein Schreien ging in ein resigniertes Stöhnen über, dann biss er wieder auf das Holz, denn die Qual ging weiter. Martin wickelte den wollenen Schal sehr fest um Heinrichs Bein. Die Schmerzen schienen unerträglich zu werden, aber, so fand Heinrich, es war schon erstaunlich, was Menschen alles aushalten konnten. Wenigstens hörte die Blutung auf.

      Heinrich legte sich seitlich auf die Unterlage aus Holzstücken, er war erschöpft von den Schmerzen und der Kälte. Er rutschte so nah wie möglich mit seiner Vorderseite ans Feuer. Plötzlich spürte er, wie es hinter ihm auch warm wurde. Martin hatte sich hinter ihn gelegt und presste sich ganz eng an seinen Rücken. Was tat er da? Warum tat er das? Plötzlich wurde Heinrich klar: Martin wärmte ihn mit seinem Körper. Er verstand diesen Mann immer weniger.

      Dann wurde er ruhiger, er spürte die Wärme, und der Schmerz ließ langsam nach, wenn er sich nicht bewegte. Es pochte stark im Bein, aber die grauenhaften Schmerzen von vorhin verschwanden. Die Erschöpfung forderte ihren Tribut, und Heinrich nickte langsam ein.

      Als er wieder aufwachte, lag Martin immer noch hinter ihm und vor ihm brannte das Feuer. Heinrich konnte nicht behaupten, dass ihm wirklich warm war, aber kalt war es auch nicht mehr. Er setzte sich auf, und falls Martin auch geschlafen haben sollte, bemerkte Heinrich es nicht, denn er richtete sich auch sofort auf.

      Heinrich spürte seinen Hunger. Er hatte ja nicht gefrühstückt, nur ein paar Bissen Brot hinuntergewürgt. Martin war aufgestanden und legte neues Holz ins Feuer. Heinrich war zu hungrig, um stolz zu sein, und so fragte er: „Hast Du was zu essen?“ Martin sah ihn nicht an, als er den Kopf schüttelte und meinte: „Nein. Es ist Sonntag. Am Sonntag habe ich nie was zu essen.“ Heinrich schluckte schwer. Seine eigene Rache wurde ihm jetzt zum Verhängnis. Und er hatte ein ungutes Gefühl. Hunger fühlte sich übel an, und Martin hatte das jede Woche. Falls er hier lebend rauskam, würde er Martin das Hungern erlassen, das schwor er sich.

      Martin setzte sich und schaute ins Feuer. Dann meinte er: „Wir müssen von hier verschwinden, ein Schneesturm zieht auf.“ Heinrich blickte nach draußen. Er wusste nicht, woran Martin den drohenden Schneesturm erkennen konnte, aber er musste es wohl so hinnehmen. Martin fuhr fort. „Eure Kleidung ist noch nicht trocken, die könnt Ihr nicht anziehen. Ihr könnt meinen Mantel anlassen, und die Pferdedecke haben wir ja auch noch. Das muss reichen bis Rabenegg. Wir beeilen uns.“

      Er