Der Seele tiefer Grund. Beate Berghoff

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Название Der Seele tiefer Grund
Автор произведения Beate Berghoff
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347094444



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bis er zu alt zum Kämpfen war. Dann, vor ungefähr 12 Jahren, war er am Gut seines Bruders aufgetaucht und geblieben, sehr zum Leidwesen der Leute dort. Heinrich war nicht blind, also hatte er sehr wohl bemerkt, wie Markwart wütete. Keine Frau und auch kein junger Mann waren vor ihm sicher gewesen. Er wollte sogar Hand an seinen Neffen legen, aber das hatte der Vater gottlob sehr schnell unterbunden. Man hatte sogar gemunkelt, dass Markwart sich durch Grausamkeit Lust verschaffte, dass er es liebte, andere Menschen zu quälen. Heinrich wusste es nicht, er war zu lange weggewesen. Als er als Hausherr zurückkehrte, was Markwart schon lange tot gewesen. Niemand hatte ihm eine Träne nachgeweint.

      Der Verwalter riss Heinrich aus seinen Gedanken: „Ich werde es ihm also sagen. Sonntag ist künftig auch für ihn ein freier Tag, und er muss nicht mehr hungern. Können wir auch das Halseisen endlich abnehmen?“

      Heinrich war gereizt. Er gab dem Verwalter den kleinen Finger, und der wollte gleich wieder die ganze Hand. Gefährlich ruhig fragte er: „Warum trägt er denn das Halseisen?“

      Ulrich war ebenso ruhig. Er tat zwar immer genau das, was der jeweilige Herr von Rabenegg befahl, aber einschüchtern ließ er sich schon lange nicht mehr. „Es ist weggelaufen, als er 14 war. Seitdem hat er das Halseisen. Es scheuert die Haut auf und tut furchtbar weh. Außerdem ist bei den Leuten mit einem Halseisen der Hals ständig entzündet. Viermal schon hatte Martin den Wundbrand und hat nur knapp überlebt.“

      Heinrich hatte diese Debatten um Halseisen und Fußfesseln so satt. Die Leute trugen sie ja nicht ohne Grund. Wenn Ulrich das Sagen hätten, würde ihn das Gesinde ausnutzen und tun, was es wollte. Also erinnerte er den Verwalter: „Weglaufen wird streng bestraft. Wenn wir die Halseisen abnehmen lassen, dann ist das doch eine Aufforderung an alle, wegzulaufen, weil sie genau wissen, dass ihnen nichts passiert. Es ist doch ganz gut, wenn das Eisen scheuert und wehtut, dann denken die Leute immer dran, dass Weglaufen nicht ratsam ist.“

      Ulrich seufzte. „Er hat Euch das Leben gerettet und Euer Bein wieder eingerenkt. Er hat Euch mehr gegeben, als Ihr ihm je geben könnt. Warum könnt Ihr ihm nicht einfach auch was Gutes tun?“

      Heinrich wurde wütend. Warum eigentlich bat sein Verwalter für einen Verbrecher? Sah denn niemand, was Martins Familie getan hatte? Er giftete: „Ich habe ihm das Hungern und das Arbeiten am Sonntag erlassen. Das reicht doch wohl, wenn man bedenkt, was seine Familie getan hat, was seine Sippschaft angerichtet hat! Ich will das Andenken meiner Mutter ehren und ihren bitteren Tod nicht vergessen lassen.“

      Er sah, dass Ulrich versuchte, ruhig zu atmen. Anscheinend ärgerte er sich. Sollte er doch! Sie würden hier wohl nie einer Meinung sein. Ulrich hatte aber noch etwas dazu zu sagen: „Wenn Ihr wirklich das Andenken Eurer Mutter ehren wollt, dann macht ihm das Leben leichter, sie hätte das so gewollt!“

      Heinrich wurde noch wütender. „Lasst meine Mutter aus dem Spiel. Was hat sie damit zu tun? Wegen seiner Familie ist sie gestorben. Ich darf mich doch wohl rächen? Oder soll ich ihn beglückwünschen für das, was seine Sippschaft getan hat?“ „Aber Heinrich, Eure Mutter hätte es bestimmt nicht gutgeheißen, dass Ihr einen Menschen quält, für dessen Schutz sie gestorben ist.“

      Heinrich starrte ihn nur an. Was wollte der Verwalter von ihm? Wieso sollte seine Mutter für dieses Mann gestorben sein?

      „Ich verstehe nicht. Von was sprecht Ihr? Meine Mutter hat sich das Leben genommen, weil ein aufständischer Bauer sie geschändet hat. Martins Vater.“

      Ulrich hatte die Unterlippe in den Mund gesogen und biss drauf herum. Unbehaglich sag er Heinrich dabei an. Dann, irgendwann, atmete er tief ein und fragte. „Ihr wisst es also nicht?“

      Heinrich war angespannt. Was sollte er nicht wissen? Worum ging es überhaupt? Also meinte er: „Nein, ich weiß nicht, was Ihr mir sagen wollt. Aber Ihr wollt mich sicher aufklären.“

      Ulrich sah nicht so aus, als würde er Heinrich unbedingt aufklären wollen. Aber es half nichts.

      Langsam fragte er: „Ihr wisst nicht, wer Martin ist?“

      Heinrich verlor langsam die Geduld: „Doch, ich weiß, wer er ist. Der Sohn von rebellischen Bauern. Die Leute, die uns damals verschleppt und gefangen gehalten haben. Die Leute, die Unglück über uns gebracht haben und wegen derer meine Mutter, hochschwanger mit dem Kind ihres Vergewaltigers, sich das Leben genommen hat. Reicht das?“

      Ulrich setzte sich. Er war blass. Er vergrub sein Gesicht in seine Hände und saß einfach nur stumm da. Heinrich stutzte. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht, also fragte er. „Was ist? Täusche ich mich? Wer soll Martin sonst sein?“

      Ulrich hob das Gesicht aus seinen Händen und sah Heinrich ziemlich beunruhigt an. Dann meinte er:

      „Martin ist Euer Halbbruder.“

      Heinrich braucht ein paar Sekunden, um zu verstehen, was der Verwalter ihm da gesagt hatte. Er verstand, aber glauben konnte er es nicht. „Was? Was redet Ihr da? Mein Vater hätte doch niemals einen seiner Bastarde so übel misshandelt. Wozu auch?“ Ulrich wurde noch blasser. Dann stand er auf und ging zum Tisch, um sich ein Glas Wein einzuschenken. Unschlüssig drehte er das Glas in seiner Hand und meinte versonnen:

      „Er ist auch nicht der Bastard Eures Vaters.“

      Stumm starrte Heinrich ihn an. Seine Gedanken rasten und überschlugen sich. Das konnte einfach nicht sein.

      Ulrich war froh, dass der Herr nichts nach ihm warf und auch nicht herumbrüllte. Er blieb am Tisch stehen, in sicherem Abstand. Heinrich musste es erfahren, besser gleich. „Eure Mutter war tatsächlich schwanger von der Vergewaltigung. Aber sie hat sich nicht das Leben genommen, sondern hat das Kind geboren und es zu Pflegeeltern gegeben. Gestorben ist sie erst später, als…“

      Er brach ab, als er Heinrichs Gesicht sah. Da kam auch schon sein Trinkbecher angeflogen, er verfehlte Ulrich nur knapp und krachte hinter ihm gegen die Wand. Rot vor Wut schrie Heinrich: „Raus! Ich dulde keine Lügen über meine Mutter! Schert Euch zum Teufel!“

      Ulrich stellte wortlos das Glas ab und ging. Heinrich blieb schwer atmend in seinem Bett liegen und schrie dem Verwalter noch eine Zeitlang üble Beleidigungen hinterher. Irgendwann konnte er nicht mehr schreien und lag vor Empörung zitternd in seinem Bett. Sein Vater hatte ihm erzählt, die Mutter hätte sich wegen der Schande das Leben genommen. Sein Vater hatte ganz sicher nicht gelogen, sein Vater war ein Ehrenmann gewesen.

      Heinrich versuchte, sich zu beruhigen, aber es ging nicht. Warum erzählte sein Verwalter diese Geschichten? Wollte er Mitleid für Martin schinden? Das war gründlich danebengegangen. Er würde nicht zulassen, dass irgendwer seine Mutter verleumdete und ihr ein uneheliches Kind nachsagte. Er konnte sich nicht mehr gut an seine Mutter erinnern, alles war verblasst und so furchtbar weit weg.

      Fluchend schon Heinrich sich aus dem Bett, griff nach seinem Stock und humpelte mühsam zur Truhe an der anderen Wand. Er öffnete sie und kramte darin herum, bis er das Portrait seiner Mutter in Händen hielt. Sein Vater hatte es vor langer Zeit von einem guten Maler anfertigen lassen. Mit dem Bild in der Hand humpelte er zurück ins Bett. Er legte sich einigermaßen bequem hin und studierte das Portrait liebevoll, wie schon so oft. Er sog alle Einzelheiten auf und genoss jede kleine Erinnerung, die er spürte. Schon oft hatte er das getan, aber immer nur heimlich. Weibische Gefühle und Trauer standen einem edlen Ritter nicht gut zu Gesicht.

      Wie so oft schon schaute er das Bild an und blieb dann an den wunderschönen blauen Augen seiner Mutter hängen. Heinrich erstarrte. Es waren Martins Augen.

      Erschrocken ließ er das Bild aufs Bett fallen. Sein Herz klopfte so schnell, dass er dachte, es würde zerspringen. Er hatte Martins Augen vor einigen Wochen in der kleinen Höhle am Bach gesehen und sich gewundert, warum sie ihm so bekannt vorgekommen waren. Damals hatte er gedacht, es wären die Augen des Vergewaltigers gewesen. Doch, so erkannte Heinrich jetzt, er hatte sich geirrt. Es waren die Augen seiner Mutter. Ulrich hatte also rechtgehabt.

      Schwer atmend kämpfte Heinrich um seine Fassung. Seine Mutter hatte also das Kind der Schande geboren. War sie daran gestorben? Warum hatte sein Vater ihm das nicht gesagt? Er grübelte pausenlos und fand doch keine Antwort.