Der Seele tiefer Grund. Beate Berghoff

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Название Der Seele tiefer Grund
Автор произведения Beate Berghoff
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347094444



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Martin den Becher und stellte ihn ab. Er war verwirrt. Der Herr hatte ihn gerade bedient, diese Möglichkeit kam in seinem Weltbild gar nicht vor. Hoffentlich musste er das nicht teuer bezahlen, irgendwann, wenn es Heinrich besser ging.

      Heinrich staunte über sich selbst. Ohne nachzudenken, hatte er seinen Knecht bedient. Nein, seinen Halbbruder. Es war zu verwirrend. Unschlüssig stand er da. Martin sah ihn an, sein Gesicht war nicht so verschlossen wie sonst immer, der Gesichtsausdruck war eher… neugierig.

      Stumm sah er zu, wie Heinrich sich wieder auf sein Bett setzte und ratlos dreinschaute. Die Situation war für den Herrn also auch nicht so leicht zu verstehen. Martin wusste, dass er eigentlich wieder aufstehen musste, aber er konnte nicht. Er war zu kaputt. Er beschloss, einfach sitzen zu bleiben und Heinrich anzuschauen, und staunte über seinen eigenen Mut.

       Kapitel 5: Lebensträume

      Heinrich musterte den jungen Mann im Lehnstuhl gegenüber. Zum ersten Mal überhaupt schien er keine Maske aufzuhaben. Normalerweise sah Martin Heinrich selten ins Gesicht und wenn, dann verschloss er sein Gesicht mit einer Maske aus Stein, und keinerlei Gefühlsregung durfte hindurchdringen. Normalerweise sah Martin immer gleich aus, egal ob er beim Schach gewann oder Heinrich den Hintern ausputzte. Anscheinend war Martin nach der Anstrengung vorhin zu erschöpft, um auch noch an seine Maske oder an das richtige Benehmen zu denken. Er sah Heinrich freiheraus an, neugierig, offen, einigermaßen entspannt. In Heinrichs Seele zog es. Er hatte nicht viele Erinnerungen an seine Mutter, doch zwei oder drei Bilder von ihr waren in seinen Gedanken eingebrannt. Eine davon war, dass er freudig zur Tür hereingerannt kam mit einem Holzpferd, das der alte Stallmeister ihm geschnitzt hatte. Seine Mutter, die am Spinnrad saß, hatte ihn offen, freundlich und neugierig angesehen und sein Herz war übergequollen vor Glück. Diesen Moment würde er nie vergessen. Martin war das Abbild seiner Mutter mit diesem offenen Blick und den freundlichen hellblauen Augen.

      Dass er das nie gesehen hatte?

      Er starrte Martin an und sog dessen Gesichtsausdruck auf, die Augen, die Form der Lippen, all das war seine Mutter. Er hatte sich selbst noch nicht oft gesehen, manchmal in der Reflektion vom Waschwasser oder in der polierten Kupferplatte in seiner Kammer. Richtig gut hatte er sich noch nicht gesehen, aber vermutlich sah er Martin ähnlich. Er konzentrierte sich wieder auf die Mutter. Sie hatte viel gesungen, beim Spinnen, beim Weben, oder einfach, wenn sie ihn ins Bett gebracht hatte. Ohne viel nachzudenken frage er Martin: „Kannst Du singen?“ „Was?“ Martins offener Gesichtsausdruck verschwand.

      „Kennst Du Lieder? Kannst Du singen?“

      Martin war verwirrt. Er pflegte Heinrich, übte mit ihm das Laufen, spielte Brettspiele mit ihm. Und jetzt sollte er auch noch singen? Wollte der Herr sich über ihn lustig machen? Martins Blick glitt suchend über Heinrichs Gesicht, aber da war keine Belustigung, kein Spott. Und auch wenn Spott dagewesen wäre, hätte Martin es einfach hinnehmen müssen.

      Er zögerte kurz und meinte dann: „Ich kann nur ein paar einfach Lieder. Erntelieder, oder Lieder die die Frauen beim Spinnen und Kochen gesungen haben. Und ein Arbeitslied vom Müller. Ach ja, ein Lied über Schafe und…“ Er brach ab. Interessierte das Heinrich überhaupt? Der war ein adeliger Herr, vermutlich sangen die irgendwelche hochkomplizierten Lieder über wichtige Sachen wie Jagd oder Liebe oder Kirche. Vielleicht sogar auf Latein oder Französisch, beides konnte Martin nicht.

      Heinrich sah ihn nur freundlich an und meinte dann: „Sing mir das Lied, dass Du am liebsten magst.“

      Martin schluckte schwer. Er hatte seit vielen Jahren nicht mehr gesungen, und dass teilte er dem Herrn auch mit. Aber Heinrich bestand darauf, und so räusperte sich Martin und begann, ein Erntelied zu singen. Es war ein Lied, in dem es um das Ende des Sommers und den nahenden Winter ging. Es war Martins Lieblingslied, weil die Melodie ihn sehr berührte, er konnte auch nicht sagen, warum. Die ersten Takte des Liedes waren unsicher und wackelig, doch dann schloss Martin einfach die Augen, überließ sich der Erinnerung und sang.

      Heinrich lauschte hingerissen. Es war ein einfaches Lied, aber etwas in der Melodie berührte ihn. Martin hatte eine schöne Singstimme. So wie er selbst auch.

      Heinrich hatte immer gerne gesungen, aber sein Vater war der Meinung gewesen, dass Singen nichts für einen echten Kerl sei. Außer natürlich Sauflieder, die durfte Heinrich Zuhause singen. Er hätte gerne musiziert, gesungen, Streichpsalter gespielt. Oh, und Laute, so gerne hätte Heinrich das Lautenspiel erlernt, aber sein Vater hatte ihn nur ausgelacht. Ein echter Kerl spielt keine Laute, das war was für Pfaffen und Weiber, so hatte er immer gesagt. Und Heinrich hatte sich gefügt, weil der Vater sicher am besten beurteilen konnte, was einem Mann ziemte und was nicht. Nun aber wusste Heinrich, dass sein Vater ein Lügner gewesen war, und ein übler Schuft. Sein Vater hatte so unglaublich viel falsch gemacht, vielleicht war seine Meinung über Singen und Musizieren ja auch Unfug gewesen? Heinrichs Herz begann zu klopfen. Was, wenn er einfach Singen und Muszieren würde? Was, wenn er einfach das tat, was seine Seele begehrte? Ein dunkler Schatten legte sich auf seine Brust.

      Nein, er konnte nicht einfach Singen und Musizieren. Er wäre dann kein echter Kerl mehr, sondern ein Weichei. Die Leute würden ihn verspotten und auf ihn herabschauen. Seine Freunde hätten sicher kein Verständnis für einen Laute spielenden Heinrich. Er wand sich. Sie würden in grölendes Gelächter ausbrechen, und es würde ihm das Herz brechen.

      Martin endete sein Lied, und auf Heinrichs Kopfnicken hin begann er mit dem nächsten, einem Lied über die Müllerei. Wieder schloss Martin die Augen und Heinrich meinte, dass er ein Tränchen in Martins Augenwinkel gesehen hätte. Das Lied war sehr rhythmisch, es beschrieb im Kehrreim das sich drehende Wasserrad.

      Heinrich hörte zu und bemerkte plötzlich, dass er mitsummte. Martin öffnete die Augen und sah ihn beim Singen an, anscheinend gefiel ihm das begleitende Summen. Immer, wenn der Kehrreim wiederkam, summte Heinrich mit und variierte Tonhöhe und Stimme. Es klang gut, auf Martins Gesicht erschien ein feines Lächeln. Heinrich hatte ihn noch nie lächeln sehen, und er war hingerissen: Es war das Lächeln seiner Mutter.

      Ohne Aufforderung sang Martin noch ein Lied, und Heinrich sang mit. Er improvisierte einfach und summte und sang, wie er wollte. Es war so schön. Als Martin alle seine Lieder durchhatte, verstummte er wieder und das Lächeln verschwand. Heinrich wollte nicht, dass das Lächeln verschwand, und so setzte er an und sang eines der Lieder, das er kannte. Martin sah ihn aufmerksam an und versuchte dann, auch mitzusingen. Er konnte sogar noch besser improvisieren als Heinrich.

      Martin fühlte sich wohl. Anscheinend wollte der Herr, dass sie zusammen sangen, und so gab er sich Mühe. Sie woben wundervolle Klangteppiche, und durch irgendeine unsichtbare Kraft schienen sie gleichzeitig kraftvoll oder leise zu singen und betonten die richtigen Stellen. Er hatte gar nicht gewusst, dass Heinrich so schön singen konnte, oder dass ein selbstsüchtiger, grausamer und gemeiner Mensch wie Heinrich überhaupt singen wollte. Sie harmonierten wunderbar zusammen. Als Heinrich französische Lieder sang, summte Martin einfach die Melodie mit, er verstand ohnehin nichts. Sie sprachen nicht, sie sangen zusammen, und jeder hing den eigenen Erinnerungen und Gedanken nach. Martin konnte sich nicht erinnern, hier je so einen schönen Nachmittag gehabt zu haben.

      Das Abendessen wurde gebracht, und sie hörten auf. Heinrich ging ohne Hilfe zum Tisch und sie aßen zusammen, so wie immer die letzten Wochen. Nach einer Weile meinte Heinrich: „Du kannst schön singen, Martin. Wo hast du das gelernt?“

      Gelernt? Martin wusste gar nicht, dass man singen lernen konnte, und so meinte er: „Nirgends. Meine Mutter hat viel gesungen und ich habe mitgesungen.“

      Heinrich senkte den Kopf und starrte sein Abendessen an. Dann sagte er leise: „Meine Mutter hat auch viel mit mir gesungen. Sie war ein wundervoller Mensch. Und sie hatte eine wunderbare Stimme, vermutlich habe ich das von ihr geerbt.“ Er zögerte kurz und fügte dann hinzu: „Und Du auch.“

      Heinrich schluckte hart. Er hatte das gefährliche Thema angesprochen. Wie Martin wohl reagieren würde? Er blickte auf und sah, dass Martin auch angestrengt sein Abendessen anstarrte, so wie er gerade noch. Vielleicht konnte die Suppe ja gute Ratschläge geben, wie man über schwierige Themen sprach?

      Heinrich