... denn alles ist Vorherbestimmt. Elisabeth Schmitz

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Название ... denn alles ist Vorherbestimmt
Автор произведения Elisabeth Schmitz
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783967526776



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Nils redete sich natürlich raus.

      »Ich bin doch im Rolli«, sagte er, »da kannst du mich ja gar nicht sehen. Und so ist das besser. Nun siehst du mich.«

      Die junge Frau lächelte und nahm ihm das Geld ab und gab ihm einen Cent zurück. Er wollte ihn Tina geben, aber sie meinte, er solle ihn behalten. Es sei ab heute sein Glücks-Cent. Ganz behutsam steckte er ihn in seine Hosentasche.

      Im Fahrstuhl fragte sie Nils, ob er das Auto denn gar nicht auspacken wollte. Sie hatte fest damit gerechnet, dass er die Verpackung sofort aufreißen würde.

      »Nein«, sagte er stattdessen. »Das mache ich erst später.«

      »Ach so«. meinte Tina, als ob sie es verstehen würde. Sie gingen zur Kinderstation, und Tina wechselte ein paar Worte mit der Krankenschwester. Nils sauste unterdessen schon zu seinem Zimmer. Ein lustiger Bär hing vor der Tür, die er einfach offen ließ.

      Tina betrat den Raum und sah, wie Nils sich an seinen Nachtschrank lehnte und etwas flüsterte. Tina kam näher und sah, wie er das Auto in den Händen hielt und damit leise sprach. Dabei hielt er es immer in die Richtung der geöffneten Lade und bemerkte Tina gar nicht. Sie sah, wie er den Glücks-Cent aus seiner Tasche holte und den ebenfalls zum Nachtschrank hielt und wieder flüsterte.

      »Nils, was tust du da?« fragte Tina ratlos. Er sah sich um und meinte, dass er ja seine Sachen in das Schränkchen legen müsse.

      Wenn ein neues Kind in sein Zimmer käme, könnte er ihm ja das Auto wegnehmen. Heute Morgen wäre Mina entlassen worden. Sie hätte dort an der Wand geschlafen. Sie war zu Hause aus dem Fenster gefallen und ginge schon zur Schule.

      Schwester Anna hätte gesagt, dass bald ein neues Kind käme, und dann hätte er wieder einen Freund. Aber das Auto bekäme der nicht. Er legte es in die Lade, schloss diese und wirkte sehr verlegen.

      Tina meinte, dass sie gerne mit ihm das Auto auspacken wollte, weil man es dann doch besser sehen könne.

      Nils stierte sie an und meinte leise: »Ich wollte das eigentlich mit Mama auspacken.« Tina schluckte.

      »Das wusste ich nicht. Natürlich, ich verstehe das«, sagte sie und fragte ihn: »Glaubst du, dass Mama etwas dagegen hätte, wenn ich auch dabei bin, wenn du das Auto auspackst?«

      Er meinte: »Soll ich sie mal fragen?«

      »Ja«, meinte Tina, »das mach mal.« Er öffnete die Lade, während Tina die Tür des Krankenzimmers schloss.

      Er flüsterte wieder etwas in die Lade und wollte das Auto herausholen, aber es blieb mit einer Ecke unter der Schiene stecken. Nils zog tüchtig daran, aber da er im Rollstuhl saß, bekam er es nicht heraus. Tina ging zu ihm und half.

      »Mama ist einverstanden«, sagte er. »Du darfst mitmachen.«

      Da sah sie unter dem Karton des Autos ein abgegriffenes Foto mit einer lächelnden, jungen Frau liegen. Tina zeigte darauf.

      »Darf ich es mal sehen,« fragte sie vorsichtig.

      »Meinetwegen,« meinte Nils. »Aber mach Mama nicht kaputt.« Tina nahm das Foto in die Hand und spürte, wie Tränen in ihre Augen stiegen.

      Wie gemein doch das Schicksal ist, dachte sie und sagte schnell, dass sie das Bild besser auf das Bett legen könnten, damit Mama auch alles sieht.

      Bloß nicht losheulen, dachte sie. Sie setzte sich neben das Foto aufs Bett, und Nils saß im Rollstuhl vor ihnen und hielt das Auto auf seinen Knien. Er öffnete eine Seite der durchsichtigen Folie und hielt das Ganze dem Foto hin.

      Er flüsterte: »Du bist zuerst dran, Mama« und gab dann Tina das Auto.

      »Und jetzt du.« Das Auto war schon fast ausgepackt. Das Foto bekam es noch einmal, und den Rest erledigte dann Nils.

      Tina entsorgte den Müll und bestaunte dann das schwarze Auto.

      Sie meinte zu dem Foto: »Danke, dass ich mitmachen durfte. Es ist wirklich ein sehr schönes Auto, das Nils sich da ausgesucht hat.«

      »Ja, das ist wirklich schön. Und schau mal Mama, ich habe von Tina noch einen Glücks-Cent bekommen. Der beschützt mich nun immer.«

      Er zeigte auf das Foto und sagte: »Guck mal, Mama freut sich auch. Sie lacht.«

      Es war fast zu viel für Tina. Sie hatte sehr viel Mitleid mit dem kleinen Knirps, der bei jedem »s« so niedlich lispelte, der das ganze Gesicht voller Sommersprossen hatte und ein Rotstich schimmerte in seinen blonden Locken. Was mochte das Leben so einem Kind wohl geben, das schon so jung seine Mutter verloren hatte?

      Nils schaute Tina an und fragte sie: »Wohin geht man, wenn man tot ist? Oma sagt, dass man dann ein Stern wird. Ein ganz neuer Stern am Himmel. Stimmt das? Ist Mama nun ein Stern? Und ist mein kleiner Bruder nun auch ein kleiner Stern?«

      Tina war entsetzt. »Dein Bruder? Ist dein Bruder auch gestorben, Nils?«

      Er nickte und sagte: »Ja, wir saßen alle drei im Auto. Da war so ein Geisterfahrer und hat Mama und Jannes totgefahren. Ich lebe aber noch.« Tina hatte schon Tränen in den Augen.

      »Oh Nils, ich glaube auch, dass sie nun neue Sterne sind. Sie schauen auf dich herunter.«

      Tina nahm den kleinen Mann in ihre Arme und fing nun bitterlich zu weinen an.

      »Weißt du, ich hatte eine ganz, ganz liebe Freundin. Sie hieß Marie. Sie ist bei demselben Unfall gestorben wie deine Mama. Ich bin so fürchterlich traurig, dass sie nicht mehr bei mir ist. Ich brauche sie so sehr. Wenn sie nicht gestorben wäre, dann könnte sie mir nun helfen. Ich weiß ganz genau, wie sehr du deine Mama und deinen Bruder vermisst. Es tut richtig weh in dir drin.«

      Nun fing auch Nils zu weinen an. Er klammerte sich an Tina und sagte, dass seine Mama ihm immer Geschichten vorgelesen hätte.

      »Sie hat gesagt, dass sie immer für mich da wäre, aber sie hat mich angelogen. Ich vermisse Mama ganz schlimm, Tina.«

      »Doch«, sagte Tina. »Sie ist auch nun immer noch bei dir. Du kannst sie nur nicht sehen, aber sie ist immer noch da für dich. Das spüre ich ganz genau.«

      Sie hielten sich fest und weinten. Sie hatten dasselbe Leid zu tragen, und sie merkten, dass es verbindet. Wie lange sie so umklammert dagesessen hatten, wusste Tina nicht. Aber als das Schluchzen von Nils weniger wurde, holte sie einen Waschlappen und wischte ihm übers Gesicht und sich selber auch. »Heute Abend komme ich noch mal zu dir und singe dir ein Lied vor und dann öffnen wir das Fenster und winken in den Himmel. Ich hoffe, dass wir dort heute die Sterne sehen können. Wollen wir das tun?« Nils nickte und lächelte schon wieder.

      Ein Pfleger kam und wollte Nils auf das Bett heben, aber er protestierte.

      »Ich muss gleich noch in das Spielzimmer und den anderen unbedingt mein neues Auto zeigen. Schau mal, cool, oder?«

      Er fuhr mit dem Spielzeug auf seiner Jogginghose herum.

      »Das ist echt cool. Wenn was ist, dann sagst du Bescheid, ja? Und du verlässt heute nicht mehr die Station. Auch klar? Und mach mal ein anderes Gesicht. Lachen ist das Zauberwort. Bei so einem Auto! Komm, gib mir fünf.«

      Er hielt Nils seine Hand hin und dieser schlug ein. Als der Pfleger gegangen war, nahm Nils das Foto seiner Mutter und legte es vorsichtig wieder in die Lade.

      »Tschüss Mama«, sagte er.

      »Ich komme gleich wieder und dann schauen wir zusammen unsere Serie, und heute Abend winken wir dir zu.«

      Er schob die Lade zu und meinte zu Tina: »Willst du mit ins Spielzimmer? Da ist es ganz toll.«

      »Nee, da geh mal alleine hin, und lass dir nicht das Auto wegnehmen. Um sechs Uhr komme ich wieder. Wenn der große Zeiger oben ist und der kleine unten. Schau da hin.«

      Tina zeigte auf die Elefanten-Uhr. Als Nils den Kopf wandte, um zur Uhr zu sehen, gab Tina ihm einen Schmatz auf die Wange, den er aber sofort wieder abwischte.

      »Küssen ist voll doof«, meinte er.